Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Literaturentochter

Bewertungen

Insgesamt 17 Bewertungen
12
Bewertung vom 09.04.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Athena und June sind Freundinnen. Moment nein, nein, nein. Die beiden sind Frenemies. Beide arbeiten unter Hochdruck und mit viel Ehrgeiz an ihren Karrieren. Während Athena einen Mehrbuchvertrag mit einem großen Verlag an Land gezogen hat, mit ihren zarten 27 Jahren bereits drei erfolgreiche Romane veröffentlichte und jüngst einen Deal mit Netflix abgeschlossen hat, läuft es bei June ziemlich mies. Ihr Debüt kommt über Umwege auf den Markt und floppt komplett.

»Alle Autor:innen hassen ihre Verlage. Es gibt keine Cinderella-Geschichten, nur harte Arbeit, Durchhaltevermögen und das ewige Streben nach dem goldenen Ticket« (S. 11).

Als Athena durch einen Unfall beim Feiern mit June ums Leben kommt, wittert June ihre Chance auf das goldene Ticket. Sie stiehlt Atehnas aktuelles Manuskript, überarbeitet es und veröffentlicht ›Die letzte Front‹ unter dem Künstlernamen Juniper Song.

Rebecca F. Kuang ermöglicht mit ihrem Buch einen Einblick in einen strengen Literaturbetrieb, der auf die Literaturschaffenden maximalen Druck ausübt. Zeitgleich rechnet die Autorin auch mit den Auswirkungen von Social Media ab! Getrieben von diesen starken Einflüssen handelt Protagonistin June instinktiv, um dem Druck von außen stand halten zu können. Während sie in ständiger Angst lebt, der Schwindel fliegt auf, verfolge ich die inneren Monologe von June gespannt.

»Yellowface« liest sich wie ein Thriller, da ich ständig gespannt bin, wann June die Aktion mit dem geklauten Manuskript um die Ohren fliegt. So fliege ich nur so durch die Seiten und die Scham und Moral, die June fehlt, die überkommt mich beim lesen.



Der Roman eröffnet insgesamt viele Themen wie beispielsweise Täterin-Opfer-Umkehr, kulturelle Aneignung, Cancel Culture, Social Media Shitstorms und Identitätskonflikte. Auch wenn auf 383 Seiten nicht alle Themen tiefgreifend behandelt werden können, liefert Rebecca F. Kuang mit »Yellowface« ein solides Buch.

Bewertung vom 09.04.2024
Alles gut
Rabess, Cecilia

Alles gut


ausgezeichnet

»»Diese Konzerne-sind-auch-nur-Menschen-Gewinnmotive-stehen-nie-im-Widerspruch-zum-öffentlichen-Wohl-zieh-dich-selbst-am-Schopf-aus-dem-Sumpf-Diskriminierung-ist-eine-liberale-Verschwörung-meine-Realität-ist-die-objektive-Realität-also-können-alle-endlich-das-Maul-halten-damit-wir-weiter-Golf-spielen-können-Leute.«« (S. 325)

Jess und Josh hegten bereits auf der Uni Antipathien füreinander. Später treffen die beiden bei Goldman Sachs erneut aufeinander, da Jess dort einen Job als Analystin ergattern kann. Ihre Begeisterung für den begehrten Job lässt allerdings schnell nach. In einer männerdominierten Welt hat Jess es schwer. Doch nach und nach wird Josh zu ihrem Verbündeten und die beiden kommen sich so nah, dass sie schließlich eine Liebesbeziehung miteinander eingehen.

Klingt alles erstmal ziemlich platt, doch Cecilia Rabess liefert mit »Alles gut« ein vielschichtiges Debüt. Jess und Josh könnten nämlich nicht unterschiedlicher sein. Jess ist Schwarz, Demokration und stammt aus einfachen Verhältnissen. Josh ist weiß, Republikaner und verhält sich an vielen Stellen wie ein Kotzbrocken und karrieregeiler Streber. Seine Ansichten sind oft problematisch und trotzdem wird Jess nicht müde sich mit ihm zu unterhalten. Die Dialoge der beiden sind nervenaufreibend und verleihen dem Buch durch die Bandbreite an Gesprächsthemen eine angenehme Tiefe.
Egal ob Rassismus, Feminismus oder Klassismus - die beiden Figuren werden nicht müde mit einander ins Gespräch zu kommen, sich zu fetzen, um dann wieder zueinander zu finden.
In den Diskussionen ist Jess witzig, reflektiert und greifbar. Josh hingegen rutscht der Stock immer noch weiter in den Allerwertesten.
Zeitlich spielt sich die Geschichte in den Obama-Jahren (2009 bis 2017) ab.


Die Autorin Cecilia Rabess hat als Data Scientist bei Google gearbeitet und war selbst auch bei Goldman Sachs als Associate tätig. Der Schreibstil der Autorin ist witzig und intelligent. Sie gewährt der Leser:innenschaft einen Einblick in die Unternehmen der Wall-Street und in die Köpfe zweier Menschen, die neben ihren täglichen Grabenkämpfen auch eine tiefe Verbundenheit für einander empfinden.


Ein facettenreicher Roman, der hochpolitische Themen unterhaltsam verpackt!

Übersetzt von Simone Jakob.

Bewertung vom 09.04.2024
Issa
Mahn, Mirrianne

Issa


ausgezeichnet

»Ist es die menschliche Sehnsucht nach etwas Größerem, einer höheren Macht, die uns in schwierigen Zeiten beisteht? Das ist vielleicht der Grund, warum es so viele Geschichten von Wundern und göttlichen Erscheinungen gibt« (S. 140)
🌊🧚🏾‍♀️

Durch einen bösen Traum steht für Issas Mutter Ayudele fest, ihre schwangere Tochter muss von Frankfurt nach Kamerun reisen, um Rituale durchführen zu lassen, da es die Tradition so fordert. Während Ayudele keine Kosten und Mühen scheut, fügt sich Issa nur widerwillig den Forderungen ihrer Mutter. Sie gibt schließlich klein bei, da das Verhältnis zu ihrer Mutter sowieso angespannt ist und macht bei dem, in ihren Augen, Hokuspokus mit.
Während ihres Aufenthalts in Kamerun verbringt Issa viel Zeit mit den dort lebenden Familienmitgliedern, wie etwa ihrer Ur-Oma Marijoh oder ihrem gleichaltrigen Onkel Georg.

»ISSA« porträtiert die Geschichte einer Familie, in der die weiblichen Figuren im Vordergrund stehen. Das Porträt reicht von der schwangeren Issa bis hin zu ihrer Ur-Ur-Oma Enanga, die wie Issa ebenfalls einen großen Erzählanteil im Buch erhält. Geschickt und mit eindringlichen Passagen verknüpft die Autorin Mirrianne Mahn die Schicksale der fünf Frauen miteinander und gibt ihnen eine starke Stimme, welche in die jeweilige Zeit passt. Beachtet wird hierbei auch die politische Dimension.

»Sie [Nando, Issas Oma] dachte darüber nach, wie Frauen von Kindesbein an darauf gedrillt wurden, Dinge zu tun, die sie nicht wollten, und wie ihnen oft nicht einmal erlaubt wurde, in Ruhe Fehler zu machen. Frauen wurden gelenkt, geformt und kontrolliert« (S. 256).

Kaum zu glauben, dass dieses Buch ein Debüt ist! Ich war von der ersten Seite an gefesselt. Das Buch greift sehr viele Themen auf – deutsche Kolonialgeschichte, Identitätssuche, Freund:innenschaft, Generationskonflikte, …


Dabei verliert sich Mirrianne Mahn nicht in einzelnen Themen, sondern lässt diese auf eine lockere Art und teilweise erfrischender Situationskomik durch Protagonistin Issa mit in die Geschichte einfließen. Durch diesen facettenreichen Mix gab es für mich viele Emotionen, ganz unterschiedlicher Natur, mit denen ich durch das Buch gegangen bin. Am Ende habe ich sogar ein bisschen geweint, weil ich so überwältigt war.

Issa stößt in ihrem Leben immer wieder an vermeintliche Grenzen ihrer eigenen Zugehörigkeit. Geboren in Kamerun, aber in der frühen Kindheit nach Frankfurt gezogen, fühlt sie sich in Deutschland durch den Alltagsrassismus unwohl. Gleichzeitig sind ihr viele Bräuche und Eigenheiten in Kamerun fremd. Die geografischen Stopps in Issas Leben ähneln die der Autorin Mirrianne Mahn.

Beeindruckt hat mich auch die Entwicklung, die Mirrianne Mahn ihrer Figur Issa ermöglicht. Während Issa sich zu Beginn des Romans als Tochter sieht und ihrer Mutter selbst die Rolle der Tochter nicht zuschreibt, ändert sich diesbezüglich sehr viel, doch ich möchte hier nicht zu viel vorwegnehmen.

Auch wenn ich das Buch bereits vor ein paar Tagen ausgelesen habe, so ist mir die Geschichte um Issa und ihre Vorfahrinnen sehr präsent in Erinnerung geblieben.
Dieses emotional eindringliche Buch sollte unbedingt gelesen werden.

Abgerundet wird der Roman durch das wunderschöne Cover, der geografischen Karte, einem Glossar mit Übersetzungen und einem Stammbaum!


CN: Kolonialismus, Vergewaltigung, Tod, Trauer, Sterben.

Bewertung vom 19.03.2024
Das andere Tal
Howard, Scott Alexander

Das andere Tal


weniger gut

Die sechzehnjährige Odile Ozanne lebt an einem magischen Ort. Würde sie ihr Tal nach Osten und Westen verlassen, so kommt sie jeweils in ein Tal, welches sich optisch nicht von ihrer Heimat unterscheidet. Der einzige Unterschied der Täler ist die Zeit – in den anderen Tälern geschieht alles 20 Jahre zeitversetzt. Eine Reise nach Osten oder Westen ist allerdings nur in Ausnahmefällen und mit vorheriger Genehmigung möglich. Die Grenzen werden gut bewacht und über das Passieren entscheidet das Conseil. In diesem Conseil beginnt Odile eine Ausbildung und entscheidet im Verlauf des Buches schließlich selbst über die Anträge, ob ein Mensch die Grenze passieren darf, um in ›das andere Tal‹ zu gelangen.

Durch die Zeitreisen wird es beispielsweise für Hinterbliebene möglich, einen Menschen der im eigenen Tal bereits verstorben ist nochmal zu treffen, da die Person im anderen Tal durch die Zeitverschiebung noch am Leben ist.

»Er [Der Hinterbliebene] trauerte schon länger, als ich am Leben war« (S. 67).

Scott Alexander Howard lädt die Leser:innenschaft in seinem Debütroman »Das andere Tal« zu einem spannenden Gedankenexperiment ein. Im Buch wird an vielen Stellen deutlich, dass der Autor in Philosophie promoviert hat. Beim Lesen steht nicht nur Odile immer wieder vor Entscheidungen, die ihren ethisch-moralischen Kompass ins wanken bringen, auch ich verharre in meinen eigenen Gedanken und überlege, wie ich an Odiles Stelle entscheiden würde.


Leider verliert sich der Autor stellenweise in Detailerzählungen über Randfiguren, die in der Geschichte erst wieder am Ende aufgegriffen werden und meiner Ansicht nach hätte hier eine Verknappung der Informationen nicht geschadet. Diese ausufernden Details sind für das Ende zwar wichtig, um die Geschichte abzurunden, bringen mich während des Lesens jedoch aus dem Fluss, da ich dadurch das Interesse an der Geschichte verliere. Auf der anderen Seite bleiben bestimmte Informationen im Verborgenen. Zu welcher Zeit der Roman spielt und an welchem Ort wird nicht genannt – die eigene Phantasie entscheidet!

Spannend ist für mich beim Lesen vor allem die Entwicklung von Odile. Während sie zu Beginn der Geschichte als schüchternes und unbeschwertes sechzehnjähriges Mädchen agiert, welches nicht so richtig in die Klassengemeinschaft passen mag, entwickelt sie sich im Verlauf zu einer erwachsenen Frau, die durch ihre Stellung innerhalb des Conseils erfährt, dass die Freiheit an der Spitze der Hierarchie sehr dünn wird.

Am Ende bleibe ich mit einem Debüt zurück, das mich nur so halb begeistern konnte. Die Idee gefällt mir nach wie vor sehr, aber die Umsetzung hätte in meinen Augen keine 464 Seiten gebraucht.

Bewertung vom 19.03.2024
Geordnete Verhältnisse
Lux, Lana

Geordnete Verhältnisse


ausgezeichnet

»Seit dem Sommer 97 waren Faina und ich [Philipp] ganz offiziell beste Freunde« (S. 37).

Philipp hat in seiner Kindheit nur einen Wunsch – einen besten Freund oder eine beste Freundin zu finden. Im Alter von zehn Jahren geht dieser Wunsch in Erfüllung. Faina, aus der Ukraine stammend, ist ›die Neue‹ in der Klasse. Die beiden freunden sich direkt an, trotz Faina’s vermeintlichen Eigenarten. Sie bringt ihr Essen im Tetra Pak zur Schule und wenn sie spricht, dann korrigiert Philipp sie häufig.

Bereits im Kindesalter verwechselt Philipp Nächstenliebe mit dem Wunsch, einen Menschen dominieren zu wollen. Dabei sehnt sich dieser extrem nach Liebe und Aufmerksamkeit. Seine Mutter ist alleinerziehend und mehr am Alkohol interessiert, als an ihrem Sohn.
Die Jahre ziehen ins Land, Faina und Philipp werden erwachsen. Sie verlieren sich aus den Augen.

»Von 1997 bis 2011 sind es vierzehn Jahre, und sollte ich [Philipp] recht behalten und sie, also Faina, kommt nochmal angekrochen, dann zählt es für mich ab 1997. Weil immer die ganze Freundschaft zähle, nicht nur die Sonnenscheinmomente« (S. 37).

Während Philipp im Erwachsenenalter in einer schicken Eigentumswohnung und in einer festen Beziehung lebt, ist Faina verlassen worden, verschuldet und befindend sich als obdachlose Schwangere in einer Notlage. Verzweifelt meldet sie sich bei Philipp und die beiden finden erneut zueinander…


In »Geordnete Verhältnisse« verfolgt die Leser:innenschaft zuerst die Sicht von Philipp, anschließend wird die Geschichte aus Faina’s Sicht erzählt und im letzten Teil kommen beide Figuren als Ich-Erzählende zu Wort. Bin kein Fan von Erzählungen durch Tätersicht, doch Lana Lux nutzt Philipps Erzählstimme, um dem Buch eine unverwechselbare Dynamik zu geben. An vielen Stellen ist das Buch schwer zu ertragen. Bereits zu Beginn des Buches sammelt Philipp bei mir keine Sympathiepunkte, während ich Faina am liebsten aus der Geschichte ziehen will, um sie zu schützen. Manchmal auch vor sich selbst!


(Achtung Spoiler!)

Das Ende, für mich vorhersehbar und trotzdem schockierend, es geht mir nah. Ich verdrücke ein paar Tränen und bin sehr traurig. Mit diesem Gefühl klappe ich das Buch zu, schaue mir das Cover nochmal an – ein Roman und doch eine Geschichte, die eine Realität für viele Frauen aufzeigt. Mit einem Ende, welches sich dieses Jahr (Stand 12.03.2024) bereits 21 Mal so ereignet hat #niunamenos

Bewertung vom 19.03.2024
Kosakenberg
Rennefanz, Sabine

Kosakenberg


gut

»Der russisch-französische Schriftsteller Vladimir Nabokov hat einmal gesagt, dass jeder, der seine Heimat verlassen hat, zwei Leben besitzt. Das eine, das man lebt, und das andere, das an dem Ort weitergeht, von dem man weggegangen ist« (S. 11).

Kathleen kehrt ihrem Geburtsort, dem Provinzdorf »Kosakenberg« in Brandenburg den Rücken und zieht nach London, dort lebt sie als erfolgreiche Grafikdesignerin.

Während Kathleen ihr Leben in London glorifiziert und durch das Glücksgefühl, endlich aus Kosakenberg weg zu sein, so einiges aushält, wie beispielsweise eine Liebesbeziehung, in der sie sich total verbiegen soll, ist doch was faul an der Geschichte. Physisch ist Kathleen zwar in London, doch ihre Gedanken driften immer wieder ab, nach Kosakenberg. Als ihre Mutter das Haus verkauft, rüttelt dies auch an Kathleens Emotionen und doch würde sich eine Rückkehr nach Brandenburg wie ein Scheitern anfühlen.

»Der Verkauf des Hauses brachte mich aus dem Gleichgewicht. Für mich war es immer nur in eine Richtung gegangen. Weg. […] Und ich hatte angenommen, dass es sich nicht verändert. Als stünde die Zeit in Kosakenberg still, […] [i]ch hatte das Gefühl, Kosakenberg löste sich auf. Nicht ich hätte die Verbindung gekappt, sondern das Dorf sich von mir losgesagt. Ich hatte mir nie die Frage gestellt, was es hieß, wegzugehen und nicht zurückkommen zu können (S. 84/85).

Geschickt fängt Sabine Rennefanz die Emotionen von Protagonistin Kathleen ein. Ihre Handlungen und ihre innere Gefühlswelt wirken authentisch. Am Ende will der Roman für meine Geschmack etwas zu viel und ich merke wie meine Begeisterung für das Buch nachlässt.

Die Grundstimmung ist melancholisch, das Buch regt zum nachdenken an. Ich-Erzählerin Kathleen wirkt nahbar, ich lese gerne die Stellen, in der ich einen Einblick in ihre Gedankenwelt erhalte.

Bewertung vom 02.03.2024
Trabant
Sommer, Stefan

Trabant


gut

»Die Mutter sieht glücklich aus, also, ehrlich glücklich. Aber der Vater? […] Er [Georg] fragt sich, ob er erste Risse zwischen ihnen übersehen hat« (S. 49).


Durch eine fehlgeleitete SMS mit pikantem Inhalt zählt Georg sofort eins und eins zusammen: sein Vater hat eine Affäre! Die Textnachricht beinhaltet einen Treffpunkt – Georg macht sich prompt auf den Weg. Er tauscht sein King-Size-Bett im Grandhotel gegen eine wilde Fahrt von Rijeka (Kroatien) nach München in einem klapprigen Opel Corsa ein. Was er dabei völlig vergisst, ist sein bester Freund Vedad. Dem hat er nämlich das luxuriöse Hotelbett zu verdanken. Vedad heiratet morgen und, so wie es aussieht, ohne seinen Trauzeugen Georg!


»Keine hundert Meter weiter zerdenkt er [Georg] schon wieder dieselbe Scheiße. Wie glücklich sind die Eltern? Hat er sie, um selbst glücklich sein zu können, als die glücklichen Menschen sehen wollen, die sie nie waren?« (S. 72).


Auf der Fahrt hat Georg viel Zeit, sich Gedanken über die Ehe seiner Eltern zu machen. Er will die Ehe der Eltern retten und gleichzeitig versaut er durch diese Hals-über-Kopf-Aktion womöglich die Hochzeit seines besten Freundes Vedad.


Erzählt wird die Geschichte anhand zwei sich abwechselnden Erzählsträngen. Während der gegenwärtige Strang auf der einen Seite nur ein paar Stunden abbildet, begleiten wir Georg auf der anderen Seite durch verschiedene Station in seiner Kindheit und Adoleszenz. Inhaltlich liegt der Fokus hierbei auf familiären Erinnerungen, die wie Tagträume auf einer langen Autofahrt wirken.
Der Schreibstil ist lyrisch, häufig umschreibend. Die Sprache ist klug und humorvoll. Manchmal wirkt Georg, der sich auch im Erwachsenenalter kindliche Glaubensansätze beibehalten hat, beinahe deplatziert durch die bildungsbürgerliche Wortwahl des Autors.


Durch die Rückblenden lernt die Leser:innenschaft Protagonist Georg und sein Verhältnis zu seinen Eltern zwar besser kennen, aber das Buch wird dadurch auch in die Länge gezogen. Der gegenwärtige Erzählstrang rückt mit jeder Anekdote leider noch mehr in den Hintergrund. Hier verschenkt Stefan Sommer potential, da das emotionale Erleben den Fokus eher auf die Erinnerung legt, anstatt sich auf das Hoffen, Zaudern, Wüten und Bangen in der Gegenwart zu konzentrieren.


Optisch gefällt mir das Buch sehr gut. Das Umschlagmotiv zeigt das Bild »Hey, that’s no way to say goodbye« von Nancy Friedland.
Spannend sind die Bezüge zur Astronomie im Text und in der Bezeichnung der drei Kapitel: »Partielle Phase«, »Totale Finsternis« und »Bailysche Perlen«.

Wie bei einer Sonnenfinsternis verdunkelt sich die Geschichte um Georg und seine Familie immer mehr, seine Gedanken werden zunehmend verworrener, erst ganz am Ende funkelt uns die Wahrheit in Papierform entgegen.

Bewertung vom 20.02.2024
Wir sitzen im Dickicht und weinen
Prokopetz, Felicitas

Wir sitzen im Dickicht und weinen


ausgezeichnet

Einer meiner Lieblingssätze ist »Wir sitzen alle im gleichen Kino und jeder sieht einen anderen Film«. Diese Aussage passt wohl perfekt zum unterschiedlichen Erleben von Valerie und ihrer Mutter Christina. Durch diese unterschiedliche Wahrnehmung, die bereits in der Kindheit für beide spürbar wird, entfernen sich Mutter und Tochter immer weiter voneinander. Im Erwachsenenalter haben sich die beiden nicht mehr viel zu sagen – bis zur Krebsdiagnose der Mutter. Tochter Valerie soll nun eine Stütze für ihre Mutter darstellen, dies fordert Christina immer wieder deutlich ein. Doch Valerie ist selbst Mutter und hat damit genug zu tun. Ihr Sohn Tobi ist 16 Jahre alt und möchte über die Schule ein Jahr im Ausland verbringen. Während Tobi eifrig plant, löst dieses Vorhaben bei Mutter Valerie Sorge aus. Diese emotionale Doppelbelastung bringt Valeries Welt ins wanken.

In knackig kurzen Kapiteln schreibt Felicitas Prokopetz über Mutterschaft und Tochtersein. Dabei sind ihre Figuren greifbar. So sehr ich mich mit Valerie solidarisieren möchte, so sehr verabscheue ich ihre Mutter und noch mehr die männlich gelesenen Charaktere in diesem Buch. Einzige Ausnahme bildet hier Sohn Tobias, dieser genießt Welpenschutz. Alle Frauen* unterliegen streng der stereotypen Rollenverteilung – das Patriachat läuft zur Höchstform auf. Beim Lesen ist ein unangenehmes piksen zu spüren, zum Beispiel wenn von Valeries Freundin Julijana die Rede ist, die erschöpft aus der Küche winkt, während ihr Mann Stefan am Tisch eine heitere Miene auflegt.

»Mit seinem [Stefans] guten Einkommen kauft er sich von allen häuslichen Pflichten frei; dass auch Kinderbetreuung und Haushaltshilfe koordiniert werden müssen dass jemand Lebensmittel einkaufen, Schulsachen kontrollieren und Geburtstagspartys organisieren muss, bereitet ihm kein Kopfzerbrechen« (S. 43).

Die Autorin hält uns einen Spiegel vor: Welche Anforderungen und gesellschaftlichen Erwartungen werden an Frauen* und Mütter gestellt und wie unterscheiden sich diese im Wandel der Zeit. So hat Valeries Oma, im Vergleich zu ihrer Enkelin mit anderen Hürden und Vorurteilen zu kämpfen, als sie sich entscheidet, ihre Kinder alleine großzuziehen. Auch wenn sich der äußere Rahmen verändert, werden dysfunktionale Erziehungsstrukturen und Muster an die nächste Generation weitergegeben. Valeries Mutter Christina ist in ihrer Art schwierig. Warum dies so ist, wird jedoch in den Kapiteln deutlich, in denen Christina noch ein Kind ist – unter der Erziehung ihrer Eltern leidet und es doch nicht schafft, es selbst besser zu machen, als sie Valerie großzieht.

Dieses Buch hat heftig an meinen Emotionen gerüttelt. Puh, was für ein starkes Debüt. Für mich ein absolutes Highlight, welches ich euch krass ans Herz legen möchte. Lest es!

CN: Gewalt, Abtreibung, patriarchale Strukturen.

Bewertung vom 22.12.2023
Das Ende der Unsichtbarkeit
Nguyen, Hami

Das Ende der Unsichtbarkeit


ausgezeichnet

»Anti-asiatischer Rassismus ist ein wichtiger Teil der Rassismusdebatte und darf kein Nischenthema mehr sein, wenn wir gemeinsam für eine gerechtere Welt kämpfen möchten« (S. 216).

Hami Nguyen schreibt in ihrem Buch »Das Ende der Unsichtbarkeit. Warum wir über anti-asiatischen Rassismus sprechen müssen« unter anderem über unfreiwilligen Aktivismus, der aus einer Alternativlosigkeit entstanden ist, räumt mit Mythen und Vorurteilen auf und spielt geschichtliches Hintergrundwissen ein.

Dabei rückt die Autorin ihre eigene Lebensgeschichte immer wieder in den Fokus – Hami Nguyens Mutter flieht mit ihr, als sie gerade mal zwei Jahre alt ist aus Vietnam nach Deutschland. Ihr Leben ist nicht nur durch unmenschliche Situationen bei Behördengängen geprägt, auch Zuhause erlebt die Autorin prekäre Zustände. Ihr Vater ist drogen- und spielsüchtig, da sein Alltag durch eine fehlende Arbeitsstelle perspektivlos wirkt. Die strukturell bedingte Abwärtsspirale nimmt dadurch für die ganze Familie ihren Lauf.

»In der Grundschule merkte ich schnell, das ich in zwei Welten lebte. Zu Hause wurde Vietnamesisch gesprochen, gegessen und gelebt. Zu Hause war ich ein Kind mit Erwachsenenproblemen auf meinen Schultern In der Schule war ich ein Kind, das irgendwie anders war, aber dort ging es einfach nur um mich und meine Bedürfnisse. […] Ich schämte mich für unser Leben zu Hause. […] Das änderte sich im Laufe meiner Kindheit nie« (S. 61).

In Hami Nguyens Buch wird an vielen Stellen deutlich, dass ihre Erlebnisse stellvertretend für viele vietdeutsche Familien stehen können. Nicht nur in ihrer Familie geht es um den Wunsch anzukommen, anstatt sich von Duldung zu Duldung hangeln zu müssen – also alle drei Monate bei der Ausländerbehörde einbestellt zu werden. Erlebtes wird an vielen Stellen des Buches mit Forschungsergebnissen unterfüttert.

Sprachlich ist dieses Buch vielfältig aufgebaut. Zu Beginn setzt sich die Autorin mit diversen Begrifflichkeiten auseinander und definiert diese. Durch die persönlichen Schilderungen erhält die Lektüre eine emotionale Komponente und die stichhaltigen Analysen verleihen dem Gelesenen einen Sachbuchcharakter.

Hami Nguyen liefert ein starkes Sachbuch, zu einer bisher vernachlässigten und verharmlosten Thematik. Ihr Werk ist ein erster Schritt, sich mit anti-asiatischem Rassismus auseinanderzusetzen und in eine Lebensrealität zu blicken, die in Debatten bisher oft ausgeklammert wird.

CN: Rassismus, Diskriminierung, rassistische Gewalt, Polizeigewalt, Mord, Suchterkrankungen, Drogenkonsum, sexualisierte Gewalt.

Bewertung vom 19.11.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Auf den ersten Seiten des Buches steigen wir in das gegenwärtige Leben von Agnete (48 y/o) ein. Sie lebt in Oslo, gemeinsam mit ihrer 17-Jährigen Tochter aus erster Ehe und ihrem neuen Ehemann, welcher für mehrere Wochen einen Auslandsaufenthalt antritt.

Die Geschichte verlässt nach dem Erhalt einiger weiterer Hintergrundinfos schnell die Gegenwart und taucht in die Agnetes Vergangenheit ab – die Leserschaft wird in das Leben der 20-Jährigen Hauptfigur katapultiert. Zu dieser Zeit lebt Agnete in London und studiert an der School of Economics. Während des Studiums beginnt Agnete eine folgenschwere Affäre mit dem Vater einer Kommilitonin.

»Jetzt bin ich bereit, jetzt ergreife ich die Gelegenheit, obwohl ich nach wie vor nicht weiß, was der Anfang dieser Erzählung ist, und auch das Ende nicht kenne« (S. 14).

Was nun folgt sind einzelne Sequenzen, geschrieben in kurzen Kapiteln. Inhaltlich reichen diese Sequenzen von belanglosen Erzählungen bis hin zu schockierenden Erlebnissen, die im Leben von Agnete stattgefunden haben.
Die Autorin Hilde Rød-Larsen spart nicht an Inhalten, mit denen die Protagonistin fertig werden muss – Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe.

Nicht nur geistig machen Agnete diese Themen zu schaffen, auch körperliche Probleme wie Haarausfall und Hauterkrankungen werden durch die seelische Belastung bemerkbar.

Der Schreibstil von Hilde Rød-Larsen ist klar und gleichzeitig wird deutlich, wie schwer es Agnete fällt über ihre Vergangenheit nachzudenken. Die einzelnen Kapitel wirken wie Tagebucheinträge. Agnetes Unsicherheit tritt mehrmals in den Vordergrund. Mir drängt sich beim Lesen sofort ein Gefühl von »nicht-wahr-haben-wollen« auf, welches Agnete rückblickend auf die Ereignisse verspürt – trotzdem stellt sich die Protagonistin ihren Wunden der Vergangenheit.

»Aber warum konnte ich das nicht einfach ohne Umschweife in mein Tagebuch schreiben, warum musste ich das, was ich erlebte und fühlte, mit diesem ziemlich halbherzigen Schleier der Fiktion verhüllen?« (S. 33/34).

Die Reflexion der eigenen Geschichte führt zu Selbstermächtigung, dies wird in den Erzählungen deutlich. Wunden können langsam heilen und Agnete beantwortet sich dadurch Stück für Stück die zentrale Frage, die dieses Buch aufwirft: »Wie geht es mir eigentlich?«

CN: Machtmissbrauch, selbstverletzendes Verhalten, Essstörung, Depressionen und sexuelle Übergriffe, #metoo.

12