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Benutzername: 
Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

Bewertungen

Insgesamt 195 Bewertungen
Bewertung vom 19.02.2025
Bis die Sonne scheint
Schünemann, Christian

Bis die Sonne scheint


sehr gut

Den 14-jährigen Daniel Hormann plagen 1983 in der niedersächsischen Provinz die zu dieser Zeit normalen Probleme eines Jugendlichen: Hoffentlich wird die Konfirmation ein voller Erfolg und hoffentlich ist das blaue Samtsakko nicht zu teuer für diesen besonderen Anlass. Wie viele Tage sind es eigentlich noch bis zur Schüleraustausch-Reise nach Frankreich, zu Jean-Philippe, dem innigst bewunderten Austauschpartner? Und wann kann seine beste Freundin Zoe endlich wieder mit der Rückkehr ihrer depressiven Mutter rechnen? Doch als er eines Nachts die Eltern dabei belauscht, als diese offen über ihre bevorstehende Pleite reden, ändert sich schlagartig alles. Denn auf dem Spiel steht nicht weniger als die Existenz der Familie...

"Bis die Sonne scheint" ist der neue Roman von Christian Schünemann, der bei Diogenes erschienen ist. Schünemann, der bisher vor allem als Autor diverser Krimireihen in Erscheinung getreten ist, wechselt also ins Literatur-Genre, was ihm gut zu Gesicht steht. Die Ausgangssituation der von der Insolvenz bedrohten Provinzfamilie in den 80er-Jahren erinnert zunächst einmal natürlich frappierend an Arno Franks Debüt "So, und jetzt kommst du" von 2017. Auch Frankreich und Ausreisepläne generell finden sich in "Bis die Sonne scheint" wieder. Doch Schünemann macht aus dieser ebenfalls autofiktionalen Geschichte trotzdem etwas ganz Eigenes, was vor allem an der Erzählstruktur, aber auch an den Figuren liegt.

Anders als bei Arno Frank werden Daniels Eltern Siegfried und Marlene nämlich niemals kriminell, sie drohen nicht einmal annähernd in diesen Bereich abzudriften oder gar die Kinder zu instrumentalisieren. Letztlich sind sie Überlebenskünstlerinnen, Unangepasste, die sich den Konventionen der normalen Berufswelt aus unterschiedlichen Gründen nie hingeben wollten oder konnten. Ob Strickwarengeschäft oder Massivhausbau - was anfangs zu florieren schien, passte irgendwann einfach nicht mehr. Oder auch: An den wichtigen Kreuzungen des Lebens sind sie einfach zu oft falsch abgebogen.

Überraschend an "Bis die Sonne scheint" ist, dass es sich dabei nicht um den von mir erwarteten typischen Coming-of-Age-Roman handelt. Zwar ist Ich-Erzähler Daniel, dessen Name erstmals übrigens nach mehr als 100 Seiten erwähnt wird, der Protagonist des Buches, doch dreht sich etwa ein Drittel des Romans gar nicht um die Handlungszeit der 80er-Jahre und damit auch nicht um ihn. Denn Schünemann greift zu einem ganz besonderen erzählerischen Kniff, den er zudem auch sprachlich hervorragend einleitet: Die Rückreise der Oma in die nahe gelegene Stadt Bremen lässt er gedanklich nämlich einfach weiterfließen - und prompt befindet sich die Leserschaft in Oberschlesien irgendwann zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In der Folge wechseln sich die erzählerische Gegenwart um Daniel und die Familiengeschichte der Vergangenheit mit großer Regelmäßigkeit ab. Das Besondere daran ist, dass sich einige Geschehnisse der Gegenwart erst viel später durch die Vergangenheitsepisoden erklären lassen. Dies hat zwar ein paar Nachteile, in der Gesamtheit tut es dem Buch schlussendlich aber richtig gut.

Der Nachteil ist, dass der Erzählfluss durch den ständigen Wechsel der Zeiten und die durchaus langen Episoden aus der Vergangenheit hin und wieder merklich gestört wird. So wirken die Kapitel bisweilen wie Anekdoten und zu Daniel, diesem Jungen, der Rondo Veneziano und Johannes Mario Simmel liebt, findet man gar keinen rechten Zugang. Außerdem wundert man sich zunächst über bestimmte Ereignisse und fragt sich, ob man etwas verpasst hat. Figuren der Gegenwart, wie die Geschwister Daniels, bleiben merkwürdig blass. Doch wie diese beiden großen Erzählstränge im Finale aufeinandertreffen, ist wahrlich große Kunst. Denn je stärker man sich dem Ende des Romans nähert, desto größer wird die Empathie für die Figuren. Man liest beispielsweise über neue glückliche Pläne und weiß schon, dass auch diese scheitern werden. Das fand ich herzzerreißend traurig. Nehme ich wie jetzt das Buch wieder zur Hand, überfällt mich eine große Sympathie für die Figuren - und damit auch letztlich für den Autoren Christian Schünemann, der in einem berührenden Nachwort seine Beweggründe für das Schreiben des Romans noch einmal näher erläutert.

Insgesamt ist "Bis die Sonne scheint" ein warmherziger Familienroman, der trotz oder vielleicht gerade wegen seiner gewissen erzählerischen Sperrigkeit vieles richtig macht und gerade im Finale wohl niemanden unberührt lassen wird. Da Schünemann auch Drehbuchautor ist, könnte ich mir auch eine filmische Umsetzung wunderbar vorstellen.

Bewertung vom 18.02.2025
In ihrem Haus
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


gut

Zwolle in den Niederlanden, 1961: Die knapp 30-jährige Isabel lebt vollkommen allein und zurückgezogen in dem riesigen Haus, in dem gegen Ende des Zweiten Weltkriegs die gesamte Familie wohnte. Doch die Mutter ist tot, die Brüder Louis und Hendrik sind schon lange ausgezogen. Lediglich ein junges Mädchen aus der Nachbarschaft schaut immer wieder vorbei, um sich um den Haushalt zu kümmern. Da wirkt es für Isabel wie ein Kulturschock, als Louis beschließt, seine neue laute Freundin Eva in dem Haus einzuquartieren. Schließlich gehört es laut Erbe eigentlich ihm, dem Erstgeborenen. Als nach und nach Gegenstände aus dem Haushalt verschwinden, gerät Eva unter Isabels Verdacht. Doch kann Isabel ihrem Verstand eigentlich trauen?

"In ihrem Haus" ist der Debütroman der niederländischen Autorin Yael van der Wouden, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Stefanie Ochel bei Gutkind erschienen ist. Mit "The Safekeep", so der Originaltitel, stand van der Wouden auf der Shortlist des Booker Prize 2024. Durchaus überraschend, weist er doch ähnlich viele Stärken wie Schwächen auf.

Dabei ist der Beginn verheißungsvoll. Schon das etwas unheimliche und sehr gelungene Cover zieht die Leserinnen tief hinein in dieses Haus, das letztlich der eigentliche Protagonist dieses Romans ist. Irgendwo ganz weit hinten hockt eine junge Frau auf dem Boden, aber was macht sie dort eigentlich? Diese Frage lässt sich direkt auf die Charaktere übertragen, denn die Motive der Figuren sollen lange nicht enthüllt werden. Was jedoch, so viel sei vorweggenommen, nicht wirklich gelingt, denn vor allem die Figur Eva und die Geschichte des Hauses lassen sich bereits auf den ersten 100 Seiten durchaus entschlüsseln. Dies ist allerdings nicht weiter schlimm, denn seine Spannung zieht "In ihrem Haus" ohnehin aus der Psychologie der Figuren, aus den Interaktionen insbesondere zwischen Isabel und Eva. Auch die zunächst überwiegend unsympathischen Charaktere sind dabei durchaus von Vorteil, klammheimlich freut man sich auf die vorprogrammierten Konflikte zwischen den ungleichen Frauen, gerade als die ersten Gegenstände verschwinden. Bisweilen glaubt man, den Hass in Isabel zu spüren.

Doch dann gelingt van der Wouden die erste Überraschung, denn die zunächst so spröde und feindselig wirkende Isabel entwickelt fast schon pubertär sexuelle Gefühle für Eva - und stößt damit sogar auf Erwiderung. Ein erzählerischer Coup der Autorin, der sich nahtlos in die gelungene Konstruktion des ersten Drittels einfügt. Jedoch bleibt er auch nicht ohne negative Folgen. Denn was sich anschließend entfaltet, ist schlichtweg langweilig. Es wird gestöhnt, geseufzt, geschrien, berührt, eingedrungen. Hätte Rainer Moritz nicht schon sein Buch über die schlechtesten Sexszenen der Literatur verfasst, hier wäre er zweifelsohne fündig geworden.

Da ist man als Leser sogar regelrecht froh, dass der Roman irgendwann mit einer traditionell recht unoriginellen literarischen Form fortgesetzt wird - dem Fund eines Tagebuches, das nun auch die letzten Zweifel über die Geschichte des Hauses beseitigt. Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass ausgerechnet dieses Tagebuch die vielleicht berührendste Stelle überhaupt in diesem Roman beinhaltet.

Sprachlich deutet Yael van der Wouden immer dann ihr Können an, wenn es um Beschreibungen der Natur, um Atmosphäre geht. Leider kommt dies viel zu selten vor. Nervig hingegen das überstrapazierte Stilmittel der Auslassungen am Ende von Dialogen. Gerade im Finale kommt den Figuren kaum noch ein vollständiger Satz über die Lippen. Hervorragend gelingt ihr in der Figurenkonzeption vor allem Isabel, die über die 320 Seiten eine gewaltige Entwicklung durchmacht. Die anderen Charaktere wirken dagegen weniger facettenreich.

Insgesamt ist "In ihrem Haus" ein im ersten Drittel überzeugender psychologisch-spannender Roman, der die Leserschaft zudem über vermutlich weniger bekannte Details der niederländischen Nachkriegsgeschichte informiert. Auch die gesellschaftliche Stellung homosexueller Liebe wird durchaus augenöffnend thematisiert. Mit Isabel verfügt er über eine wendungsreiche Protagonistin, die einem sowohl positiv als auch negativ im Gedächtnis bleiben wird. Durch die exzessiv-expliziten Sexszenen und die vorhersehbare Geschichte verspielt er jedoch sein großes Potenzial in Teilen.

Bewertung vom 17.02.2025
Die Kolonie
Magee, Audrey

Die Kolonie


ausgezeichnet

Als mit dem französischen Linguisten JP Masson und dem englischen Künstler Lloyd zwei Fremde im Sommer 1979 die abgelegene irische Insel im Atlantik betreten, wissen die Bewohnerinnen noch nicht, was sie davon halten sollen. Einerseits machen die beiden den Insulanern Versprechungen, andererseits bringen sie doch Unruhe auf die unberührte Insel. Gerade, weil sie sich so spinnefeind sind. Lloyd geht es vornehmlich darum, die Klippen der Insel auf die Leinwand zu bringen, Masson setzt sich für den Erhalt der irischen Sprache ein. Insbesondere der 15-jährige James findet Zugang zum Maler, der ihn schon bald unter seine Fittiche nimmt und ihn von einer Künstlerkarriere in England träumen lässt. Doch im Hintergrund brodelt der Nordirland-Konflikt so heiß wie selten zuvor...

"Die Kolonie" ist der zweite Roman von Audrey Magee, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Nicole Seifert bei Nagel und Kimche erschienen ist. Mit ihm stand sie auf der Longlist für den Booker Prize 2022. Es ist ein hinreißender Roman geworden, der sowohl sprachlich überzeugt, aber auch in der Figurenzeichnung und inhaltlich keine Abstriche macht. In seiner Gesamtheit ist "Die Kolonie" wohl eines der stärksten Bücher der letzten Jahre.

Ungemein originell ist beispielsweise die auch graphisch unterschiedliche Darstellung der beiden Perspektiven Massons und Lloyds. Während beim Linguisten JP die Sprache fließt und sich einzelne Sätze schon einmal über ganze Seiten hinziehen, denkt Lloyd stets in Bildern und seine Kapitel sehen selbst wie kleine Kunstwerke aus. Da hängen Satzfragmente in der Luft oder die Zeile bricht einfach mal weg. Auch die Landschaftsbeschreibungen sind fantastisch. Magee und Übersetzerin Seifert erwecken die Insel zum Leben, ganz plastisch schildern sie Flora und Fauna dieser karg-schönen Insel. Und obwohl ich normalerweise kein Freund von zahlreichen Dialogen bin, sind diese in "Die Kolonie" bemerkenswert pointiert, immer wieder auch mal komisch und oft berührend.

Thematisch gelingt es der irischen Autorin sehr gut, das vermeintlich beschauliche Inselleben mit den immer zahlreicher werdenden Toten und Verletzten der nordirischen Troubles zu verbinden. Zunächst durch erschaudernd sachliche, historische Schilderungen von IRA-Attentaten und Gegenschlägen der Loyalisten. Später rücken diese fast unmerklich an die Insel heran, weil die Insulaner ständig Radio hören und sich mehr und mehr darüber unterhalten. Hauptgrund dafür ist, dass der Künstler Lloyd seinem begabten Schüler James den Floh ins Ohr gesetzt hat, ihn doch zu einer gemeinsamen Ausstellung nach London zu begleiten, wo Iren im Jahre 1979 verständlicherweise nicht gerade gern gesehen waren.

Dieser James ist übrigens ein Musterbeispiel für die exzellente Figurenzeichnung Magees. Klug und empathisch nähert sich die Autorin den nie schwarz-weiß dargestellten Charakteren, verzeiht ihnen auch ihre Fehler. Und vor allem verurteilt sie niemanden. James ist ein Junge von anrührender Ehrlichkeit, dessen Träume eines anderen, moderneren Lebens man nahezu durchgehend spüren kann. Und auch die beiden Fremden, bei denen man relativ schnell eine Egozentrik erkennt, haben im Grunde durchaus hehre Ansinnen. Während Lloyd die Ursprünglichkeit der Insel und ihrer Bewohnerinnen malerisch festhalten will, geht es Masson um den Erhalt der irischen Sprache.

Der Umgang mit dieser Minderheitensprache ist neben den Troubles ein zentrales Thema des Romans. Dramaturgisch setzt Magee sie bemerkenswert in Szene, lässt das Irische immer dann ohne Übersetzung für sich stehen, wenn Lloyd im Raum ist. Dadurch bekommt man als Leser nicht nur ein Gefühl für diese wundervolle Sprache, sondern auch die Gelegenheit sich mit ihr auseinanderzusetzen, indem man sich die Abschnitte selbst übersetzt. Und auch der Kolonialismus findet natürlich seinen Einzug in "Die Kolonie" - vor allem, aber nicht nur in den Auseinandersetzungen zwischen dem Franzosen JP und dem Engländer Lloyd.

Möchte man überhaupt etwas an diesem Gesamtkunstwerk kritisieren, dann ist es die Tatsache, dass bei der Schilderung der Troubles vornehmlich Taten der IRA und viel seltener die Kriminalität der Loyalisten dargestellt wird. Vielleicht ist dies aber auch der damaligen Nachrichtenlage geschuldet.

Insgesamt ist "Die Kolonie" ein herausragender Roman, dem es mit wunderbarer Sprache gelingt, komplexe Themen berührend und emotional darzustellen und dabei die Leserinnen zum Mitdenken auffordert. Reif für die Insel ist man nach der Lektüre ohnehin.

Bewertung vom 16.01.2025
Ginsterburg
Frank, Arno

Ginsterburg


ausgezeichnet

Ginsterburg, 1935: Der 13-jährige Lothar findet einfach keine Verbindung zu den anderen Jungen seines Alters. Zu den gutbürgerlichen Chorknaben passt er wegen seiner Herkunft nicht so recht, und die Nachbarjungen der Hitler-Jugend sind ihm viel zu grob. Immerhin erfährt er zuhause eine liebevolle Erziehung durch seine Mutter Merle. Währenddessen träumt Redakteur Eugen davon, endlich einmal wieder einen Artikel im "Ginsterburger Anzeiger" zu veröffentlichen, der über die ständigen Vorgaben der Partei hinausgeht. Ganz anders Blumenhändler Otto. Der hat sich nämlich dank der Partei regelrecht hochgearbeitet. Bürgermeister und Kreisleiter ist er mittlerweile. Sie alle sind eigentlich ganz durchschnittliche Bewohner von Ginsterburg. Einige profitieren, andere verlieren. So ist das halt in Ginsterburg. Dann beginnt der Krieg. Einige zieht es an die Front, anderen geht die Frau verloren. Einige sterben für den Führer. So ist das halt in Ginsterburg. Nur gut, dass die Stadt so langweilig ist, so einschläfernd und zermürbend, dass der Feind sie ohnehin nicht auf dem Zettel hat. Was soll den Ginsterburgern schon passieren? Also geht das Leben weiter. So ist das halt in Ginsterburg.

"Ginsterburg" ist der neue Roman von Arno Frank, der bei Klett-Cotta erscheint. Nach den beiden bitter-melancholischen und dennoch komischen Vorgängern "So, und jetzt kommst du" und "Seemann vom Siebener" wagt der Autor damit etwas ganz Neues. Denn "Ginsterburg" ist eine im Grundton sehr ernste Mischung aus Gesellschaftsporträt und Historischem Roman. Auf 430 großformatigen Seiten entfaltet der Roman eine immense Wucht, eine von Beginn an spürbare leichte Bedrohung, die die Leserinnen im Hintergrund stets anzufunkeln scheint.

Aufgebaut ist der Roman in die drei großen Abschnitte 1935, 1940 und 1945, wobei das Ensemble größtenteils identisch ist. Eine klassische Hauptfigur gibt es nicht, das Zentrum allen Handelns ist Ginsterburg, diese fiktive Kleinstadt, die man am ehesten vielleicht irgendwo Richtung Ostwestfalen oder Sauerland verorten würde. Die Anzahl der Charaktere ist immens groß, den Rahmen geben die drei Familien um Lothar, Eugen und Otto vor. Arno Frank erzählt von ihnen so filmisch, dass es eigentlich nur eine Frage der Zeit sein kann, bis es eine dazugehörige Serie gibt. Natürlich mit Peter Kurth als Otto, Trystan Pütter als Eugen und Louis Hofmann als erwachsenem Lothar. Man darf ja träumen.

Auch formal überzeugt "Ginsterburg" in allen Belangen. Arno Frank mischt Briefe zwischen die Handlungsstränge, Verordnungen der Nationalsozialisten, einen Prolog mit einem abgeschossenen britischen Piloten, der ein wenig an Florian Knöpplers "Südfall" erinnern mag und den man auf keinen Fall aus den Augen verlieren sollte. Frank wechselt die Erzählzeiten, die Perspektiven und entwirft damit eine höchst lebendige Kleinstadt und ein vielfältiges Personal. Plötzlich gibt es sogar eine kindliche Ich-Erzählerin.

Auch sprachlich und von der Konstruktion her unterscheiden sich die drei Teile stark. Im ersten Teil von 1935 führt Frank sein Personal ein und treibt die Handlung voran. Im zweiten Teil nimmt er sich mehr Zeit, das Innenleben der Charaktere spielt nun eine größere Rolle, die Schönheit der Sprache kommt immer mehr zur Geltung. Beispielsweise wenn sich Eugen an der Front den Betrachtungen der Landschaft und eines Kranichschwarms hingibt, die eindrucksvoll abrupt unterbrochen werden und in veiner der vielleicht denkwürdigsten Szenen des gesamten Romans enden.

Die Kraniche spielen ohnehin eine nicht ganz unwesentliche Rolle im Buch. Dieser "Vogel des Glücks", der beispielsweise in Japan ein Symbol des Friedens und der Hoffnung ist, eröffnet nicht zufällig die Haupthandlung mit seinem zu späten Auftauchen in Ginsterburg. Spätestens seit der unvergessenen Kranich-Szene in Stefanie vor Schultes "Junge mit schwarzem Hahn" sollte man als Leser die literarische Kraft dieses Tieres nicht unterschätzen.

Eine entscheidende Verfehlung der Veröffentlichung ist das Fehlen eines Nachworts. Denn tatsächlich vermischt Arno Frank historische und fiktive Figuren, ohne dass es einen Hinweis darauf gibt. Sollte man die historischen Figuren Lothar Sieber und Erich Bachem nicht kennen, empfehle ich dringend, es dabei bis zum Ende des Romans auch zu belassen. Kritisieren kann man auch, dass nicht jede Figur gleich gut gelungen ist. Insbesondere Eugens Frau Ursel wirkt doch recht stereotyp. Ein wenig schade ist zudem, dass ein so durch und durch lebendiger Roman wie "Ginsterburg" ein KI-generiertes Buchcover erhalten hat. Wobei ich zugeben muss, dass es ein recht gelungenes ist.

Aus gutem Grund ausgelassen wurde bisher das Finale des Buches. Denn tatsächlich muss man es erleben, es ist kaum zu beschreiben. Wuchtig könnte man es nennen, bewegend, klug auch, weil es auf die mitdenkende Leserin setzt. Klar ist nur eines: Es wird Gewinner geben und Verliererinnen. Hoffnung und Angst, Leben und Tod. So ist das halt in Ginsterburg.

Bewertung vom 09.01.2025
Umlaufbahnen
Harvey, Samantha

Umlaufbahnen


ausgezeichnet

Ganze 16 Male umkreisen sie an einem Tag die Erde. Was sie sehen, ist ein wunderschöner, aber auch verletzbarer Planet, ein winziger blauer Punkt im riesigen Sonnensystem. Zwei Kosmonauten und vier Astronauten befinden sich auf der Raumstation. Ihre Erfahrungen sind unterschiedlich, ihre Gedanken und Gefühle auch. Was sie eint, ist die Schwerelosigkeit - und dieses nie enden wollende Staunen.

Samantha Harvey wagt in ihrem neuen Roman "Umlaufbahnen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Julia Wolf bei dtv erschienen ist, einen ganz eigenen Ausflug in das Weltall und nimmt die Leserinnen mit auf eine unvergessliche Reise. Das mit dem Booker Prize ausgezeichnete Werk ist höchst originell, philosophisch, beglückend poetisch, aktuell und aufrüttelnd. Denn neben der manchmal fast meditativen Lektüre ist "Umlaufbahnen" nicht nur eine Liebeserklärung an die Erde, sondern zugleich ein Weckruf, auf den blauen Planeten doch bitte ein bisschen besser Acht zu geben.

Schon mit ihrem brillanten mittelalterlichen Genresprenger "Westwind", 2020 erschienen bei Atrium, machte Harvey deutlich, dass es für sie keine literarischen Grenzen gibt. Und auch die "Umlaufbahnen" wirken in mehrfacher Hinsicht grenzenlos. Obwohl sich die Handlung des Romans ähnlich wie bei Virginia Woolfs "Mrs. Dalloway" auf einen einzigen Tag beschränkt, schweben die Leser mit den zwei Frauen und vier Männern der namentlich nie erwähnten ISS in einem endlos wirkenden Raum dahin. Wobei man vorher wissen muss, dass es so etwas wie eine klassische Handlung eigentlich gar nicht gibt. Vielmehr lässt Harvey einen teilhaben an den Betrachtungen der Astronautinnen, an diesem unglaublichen Staunen, das die Sechs mit Blick auf die Erde immer wieder ergreift. Ergriffen ist man dadurch auch selbst, denn mit ihrem feinen Gespür für die richtigen Worte trifft die Autorin nahezu durchgehend ins Herz der Leser. Und es ist mehr als der Blick auf die Erde, der nicht nur die Figuren melancholisch werden lässt. Es sind auch die zwischenmenschlichen Töne, die Erinnerungen der Crew an ihr Zuhause, die bemerkenswert emotional nachwirken.

Allerdings macht Harvey von Beginn an deutlich, dass nicht der Mensch im Zentrum des Buches und auch nicht im Zentrum ihrer Sorgen und Emotionen steht. Die Erde ist der eindeutige Star der "Umlaufbahnen", mal als Ur-Mutter, mal als vom Klimawandel und einem schrecklichen Taifun bedrohtes und schützenswertes Kind, mal aber auch als Randaspekt, als Brotkrümel in der Unendlichkeit des Weltalls. Dabei scheut sie auch die ganz großen Fragen nicht - nach der Bedeutung des Lebens, nach Liebe, nach irdischen Feindschaften, nach der Moral, natürlich auch nach Gott. Seit Jostein Gaarders "Sofies Welt" war wohl kein belletristisches Werk so philosophisch wie "Umlaufbahnen", ohne dabei verkopft zu wirken.

Ein weiterer Vorteil des Romans ist, dass er auch das musikalische Ohr der Leserinnen anspricht. Ganz wie von selbst scheint dort nämlich ein ganzer Soundtrack zu entstehen. Denkt man kurz an den fliegenden Knochen in Stanley Kubricks "2001" und hört dabei Richard Strauss' "Zarathustra", fühlt man sich im nächsten Moment vielleicht "völlig losgelöst", um sich in den düsteren Augenblicken an die Einsamkeit des Astronauten im Dark Metal-Meisterwerk "Ominous" von Lake of Tears zu erinnern.

Während uns Samantha Harvey in "Westwind" noch in Gottes Nähe führte, wird es also auf ganz andere Art auch in "Umlaufbahnen" wieder überirdisch. Was bleibt, ist dieses Staunen - über die schier unendlich wirkenden Fähigkeiten der Autorin.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.12.2024
Vor der Nacht
Jamal, Salih

Vor der Nacht


gut

Als sein Vater wegen eines lange zurückliegenden Bankraubs ins Gefängniss muss, kommt der 14-jährige Halbwaise Jonas in ein Kinderheim, das von der unnahbaren Vora geleitet wird. "Die Wölfin" wird sie von den Kindern und Jugendlichen genannt. Wie gut, dass Jonas auf verwandte Seelen wie Pappel, Lilly, Frei und die Geschwister Sinan und Beria trifft. Denn nur gemeinsam lässt es sich an diesem Ort aushalten, der irgendwo in einem Autobahnwald versteckt liegt. Umso härter trifft Jonas, der mittlerweile Jimmy genannt wird, der Verlust zweier Freunde, die von einem Tag auf den anderen verschwinden. Von Freundschaft und Liebe, Sehnsucht und Sucht, aber auch von Mord und Hass erzählt Salih Jamal in seinem neuen Roman "Vor der Nacht", der bei Leykam erschienen ist.

Nach dem wunderbaren "Das perfekte Grau" und dem Nachfolger "Blinder Spiegel" ist es der dritte Verlagstitel Jamals, in dem es diesem überraschend leicht gelingt, die Warmherzigkeit des Debüts mit der Härte des zweiten Romans zu einer teilweise jedoch etwas unausgegorenen Mischung aus Jugendroman, Coming-of-Age, Liebesdrama und Krimi zu verknüpfen. Auffallend sind dabei erneut die Sprache und das Spiel mit den Namen der Figuren.

"Viele Geschichten beginnen am Meer oder sie enden dort", lautet der tolle erste Satz, der die Leser:innen sofort in das Geschehen hineinzieht. Ebenso schnell kann Salih Jamal die Leserschaft von Beginn an für den Protagonisten und Ich-Erzähler Jonas alias Jimmy einnehmen. Auch wenn die Geschichte seiner Eltern romantisierend und ein wenig kitschig wirken mag, ist Jimmy ein vom Schicksal gezeichneter Junge, dem nicht nur die Empathie des Autors über die kommenden 350 Seiten gewiss sein wird. Gerade im ersten Drittel des Romans gibt es zudem zahlreiche dieser bemerkenswerten Sätze, für die Jamal schon seit "Das perfekte Grau" bekannt ist. "Man war nie allein und doch immer einsam", heißt es an einer Stelle über das Leben im Waisenhaus, "Erinnerungen sind wie Parfüm" an einer anderen.

Und auch Salih Jamals Faible für Spitznamen und seltsame Namen aller Art kommt in "Vor der Nacht" wieder voll zum Tragen. Da gibt es neben der etwas unverständlichen Umtaufe von Jonas zu Jimmy die recht plakativ benannte Heimleitung "Vora", bei deren klischeehafter Figurenzeichnung als "böse Wölfin" man sie sich förmlich als Kinder-verschlingendes Monstrum vorstellen kann. Besser gelingt dem Autoren das Spiel mit dem Namen der gelungensten Figur des gesamten Buchs: Jimmys Zimmergenossen "Frei Niemants". Dieser Frei steht in seiner Ambivalenz symbolisch für die Ängste und Nöte der Kinder, aber auch für deren dunklen Seiten, das "Wölfische", das gerade bei der Hauptfigur gegen Ende des Romans eine ganz besondere Rolle spielen wird. "Niemand ist frei", so mag das Gefühl dieser geplagten Charaktere sein.

Während das erste Drittel des Buches trotz oder gerade wegen seines Jugendbuchcharakters zu gefallen weiß, nimmt die Episode im Heim ein viel zu abruptes Ende und leitet die erzählerisch deutlich schwächere Erwachsenenphase der Figuren ein. Prostitution, Drogenmissbrauch, Mord, eine SM-Beziehung, Raub - hier wird nichts ausgelassen. Und so überrascht es nicht, dass "Vor der Nacht" am Ende mit vielen Toten daherkommt. Natürlich will Salih Jamal auf die Versehrtheit der damaligen Heimkinder hinweisen, doch leider geschieht dies so plakativ und klischeehaft, dass man es nach einer Weile kaum noch ernst nehmen oder aushalten kann. Zudem verfängt sich der Autor sprachlich in Kalendersprüchen und verpasst es, einen neuen Handlungsspielort wie die Malediven auch nur ansatzweise interessant zu gestalten. Am schlimmsten ist aber der verharmlosende Umgang mit Drogen. Während Sinan auf den Malediven eine Art kalten Entzug von seiner Crack-Abhängigkeit machen soll, wird bereits in den Morgenstunden fröhlich gebechert und abends liegt man sich in den Armen, obwohl eine der Figuren gerade einen Mord gestanden hat.

Da tut es gut, dass das große Finale - wir wissen aus dem ersten Satz, dass es am Meer spielt - versöhnlich und konsequent ist. Der Epilog ist gar so anrührend, dass er mir eine Gänsehaut bescherte.

Insgesamt ist "Vor der Nacht" ein nur halbwegs überzeugender Roman, der sich trotz der Anspielungen und versteckten kleinen Zitate aus den beiden Vorgängern eher die schwächeren Elemente der bisherigen Werke herausgepickt hat. Dennoch hat er mit Jimmy und Frei zwei Figuren, die einen auch im Nachgang nicht loslassen und zahlreiche unvergessliche Sätze, die die Lektüre durchaus lohnen. Für das nächste Werk Salih Jamals würde ich mir vielleicht kein "perfektes Grau", aber Charaktere wünschen, die mehr Grautöne aufweisen als Vora oder die anderen Kinderfiguren.

Bewertung vom 21.12.2024
Unter Wölfen
Wray, John

Unter Wölfen


sehr gut

Kip Norvald kann es sich nicht erklären. Immer wieder überkommen den Teenager diese Gewaltausbrüche, dieses rauschhafte Weiß, das ihn völlig außer Kontrolle geraten lässt. Im Florida der späten 1980er-Jahre ist er genau so ein Außenseiter wie der schwarze bisexuelle Leslie Z und das Trailer-Girl Kira Carson. Was die drei so unterschiedlichen Charaktere verbindet, ist eine gemeinsame Liebe: die zum Heavy Metal. Über das Erwachsenwerden dreier Außenseiter:innen in den 80er- und 90er-Jahren und vor allem über die Kraft der Musik schreibt John Wray in seinem neuen Roman "Unter Wölfen", der in der deutschen Übersetzung aus dem Amerikanischen von Bernhard Robben bei Rowohlt erschienen ist. Rock'n'Roll pur!

Hat es jemals zuvor einen literarischen Roman über Heavy Metal gegeben? Ich wage dies zu bezweifeln, auch wenn aktuell beispielsweise Karl Ove Knausgård kongenial und philosophisch den norwegischen Black Metal in seine "Morgenstern"-Reihe integriert. In diesem Umfang und mit dieser Hingabe ist John Wrays "Unter Wölfen" allerdings ein Novum. Dabei stammt der Autor selbst eher aus der Rockszene und musste sich für das Buch erst in die Metalszene einlesen, wie er im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur verriet. Nun ist ihm dies überwiegend hervorragend gelungen.

Der Roman teilt sich in drei große Abschnitte, die sich sowohl in den Handlungsorten als auch den jeweiligen Musikrichtungen stark unterscheiden. Teil eins spielt in Venice, Florida, wo die drei Hauptfiguren ihre Liebe zum Death Metal und aufkommenden Bands wie Death, Deicide oder Cannibal Corpse frönen. Im Mittelteil reisen die Drei nach L.A. und lernen dort den Glamrock in all seinen Facetten kennen und - so geben sie es zumindest vor - hassen. Der Schlusspart führt die Leserschaft gar nach Bergen in Norwegen - und damit tief in das düstere Herz des norwegischen Black Metal zu Beginn der 90er-Jahre mit Bands wie Mayhem, Emperor und Burzum.

Zu loben ist auf jeden Fall, wie abwechslungsreich sich nicht nur musikalisch "Unter Wölfen" präsentiert. Von einem Coming-of-Age-Roman mit auch sprachlichem Rock'n'Roll entwickelt sich das Buch nämlich zu einem Liebesroman und am Ende gar zu einer Art literarischem Thriller, der zwar nicht das Unheimliche von Bret Easton Ellis' "The Shards" erreicht, aber durchaus gekonnt mit Ellis-haften Motiven spielt.

Hervorragend eingebunden sind auch die nerdigen Metal-Insiderfakten, die John Wray immer wieder ins Spiel bringt. Dies führt sogar dazu, dass Metal-Legenden selbst diverse Auftritte haben. Ob Vince Neil von Mötley Crüe oder im Schlussteil Euronymous von Mayhem, Samoth von Emperor oder der unsägliche Count Grishnackh: Sie alle geben sich in "Unter Wölfen" ihr Stelldichein. Für Metalheads definitiv ein großer Spaß! In einer besonders genialen Szene entdeckt Kip beispielsweise die legendären Polaroid-Fotos, die Euronymous nach dem Tod des Mayhem-Sängers Dead von dessen Leiche geschossen hat. Wray bindet dies als Randnotiz ein, ohne Pelle Ohlin alias Dead überhaupt namentlich zu erwähnen. Ein Gimmick für Metalfreund:innen, von denen es in dem Roman zahlreiche zu entdecken gibt.

Wenn man etwas kritisieren möchte, dann sind das einerseits die Figuren, die sich gerade in den manchmal etwas nervigen Dialogen zu wenig entwickeln. Zudem wirkt der Roman durch ein paar belanglose Szenen doch etwas zu lang. Aus Metalsicht ist jedoch das größte Ärgernis, dass im letzten Abschnitt zwischen Black Metal-Figuren wie Euronymous und dessen späteren Mörder Varg Vikernes alias Count Grishnackh zu wenig differenziert wird. Beide wirken auf die Leserschaft wie satanistische, ideologisch rechts stehende Musiker, die irgendwo zwischen Bedrohung und Knallchargentum agieren. Dabei kommen Euronymous' kommunistische Ansichten ebenso zu kurz wie das spätere Täter-Opfer-Verhältnis der beiden.

Kleinere Wermutstropfen eines insgesamt aber spannenden und unterhaltsamen Romans, der insbesondere Metal-Fans aller Genres und Musikliebhaber:innen ohne Scheuklappen ansprechen sollte. Keep on rockin', John!

Bewertung vom 19.12.2024
Über dem Tal
Preston, Scott

Über dem Tal


sehr gut

Als im Norden Englands 2001 die Maul- und Klauenseuche ausbricht, steht für die Schafzüchter Steve Elliman und William Herne mehr als die Existenz auf dem Spiel. Die Fells, so der Name der Region, sind ihr Leben, doch ohne Tiere scheint dieses dort nicht mehr möglich zu sein. Immerhin überlebt mit dem von Steve versteckten Lamm Rusty ein Hoffnungsträger. Wie kann man existieren, wenn einem die Lebensgrundlage wegbricht? Und was macht diese karg-schöne Gegend mit ihren Bewohner:innen? Davon erzählt Scott Preston in seinem Debütroman „Über dem Tal“, der in der deutschen Übersetzung aus dem Englischen von Bernhard Robben bei S. Fischer erschienen ist.


Zunächst einmal sollte man sich von dem romantisierenden Cover der deutschen Ausgabe nicht täuschen lassen, denn „The Borrowed Hills“, wie der Roman im Original heißt, ist keineswegs süßlich leichte Kost, die man als ZDF-Verfilmung am Sonntagabend genießen könnte. Vielmehr verbindet Preston in seinem Erstling poetisch-raue Landschaftsbeschreibungen mit einem brutalen Crimeplot zu einer unheilvollen und abwechslungsreichen Melange.

Dabei ist es vor allem die Sprache, die heraussticht. Sie bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu den oftmals explizit grausamen Szenen, in denen sehr viel Schafs- und Menschenblut fließt. Auch Ich-Erzähler Steve merkt dies und entschuldigt sich beinahe zu Beginn eines Kapitels, als er auf der Metaebene bemerkt: „Es floss Blut genug, um ein Kanonenboot drin schwimmen zu lassen.“ Sehr gelungen auch, wie Preston mit der Verknappung der Sprache spielt. So spiegeln fehlende Subjekte die Rauheit und Kargheit der Fells wider.

Erstaunlich souverän für ein Debüt agiert „Über dem Tal“ zudem in berauschenden Tempowechseln zwischen ausufernder Trägheit und schnellen Schnitten, wie man sie in einem Actionfilm erwarten würde. In dieser Hinsicht bleibt vor allem die Schlüsselszene des Romans in Erinnerung. In einer tollkühnen Aktion rauben William und Steve zusammen mit dem Schwerkriminellen Colin und dessen Kumpanen einige Hundert Schafe von einem Biohof. Gebannt folgt man als Leser:in nicht nur dem Diebstahl, sondern im Anschluss an einen Unfall auch einem 15-stündigen Fußmarsch mit den unzähligen Tieren.

Positiv sind zudem die vielen Überraschungen in der Handlung und die Vielfalt, mit der der Roman zwischen Landwirtschaftsdrama und einer Art Hard Boiled-Krimi ohne Ermittler:in oder Neo-Noir-Western chargiert.

Weniger überzeugend ist die Figurenzeichnung. Teilweise handeln Steve, William und die Nebenfiguren nicht nur unüberlegt, sondern für die Leserschaft unverständlich. So wird eigentlich von Beginn an nicht klar, warum Steve von William so fasziniert ist, dass er ihn in der Folge auf Schritt und Tritt begleitet. In ihrer Gesamtheit entpuppt sich die Figur William nämlich eher als literarisch laues Lüftchen wie einst der vermeintliche Charismatiker Kurtz in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“. Und die Gangsterepisode um den bemerkenswert böse geratenen Colin nimmt doch etwas zu viel Raum ein.

Doch im wendungsreichen und dramatischen Finale des Romans spielt Scott Preston noch einmal seine ganze Stärke aus und lässt das Buch mit einer intensiven Szene ausklingen, über die sich trefflich diskutieren lässt.

Scott Prestons „Über dem Tal“ ist ein lesenswertes Debüt, für das man allerdings starke Nerven braucht und den Figuren ihre Nachlässigkeiten verzeihen muss. Belohnt wird man dafür mit einem Roman, der gleichermaßen weh tut wie berührt.

Bewertung vom 26.11.2024
Täuschend echt
Lewinsky, Charles

Täuschend echt


gut

Nachdem der namenlose Ich-Erzähler von seiner Freundin verlassen wurde, verliert er auch noch seinen Job als Werbetexter in einer Agentur. Da kommt ihm das Angebot eines Bekannten seiner Nachbarin gerade recht. Frank sucht nämlich jemanden, der die ihm vorliegenden Berichte von Einzelschicksalen verschiedener Menschen in eine angemessene literarische Form bringt. Kein Problem für den Protagonisten, der schon seit einiger Zeit mithilfe von Künstlicher Intelligenz an einem eigenen Roman arbeitet. Doch als das Schicksal der ausgedachten Schabnam unerwartet zu einem Bestseller wird, nehmen die Dinge ihren Lauf...

Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Ian McEwan. Die Liste der Autor:innen, die sich mit KI befassen, wird immer länger. Mit seinem neuen Roman "Täuschend echt", der bei Diogenes erschienen ist, reiht sich nun auch Charles Lewinsky in diese namhafte Aufzählung ein. Wobei er anders als McEwan und Edelbauer nicht auf künstliche Menschen setzt, sondern auf die Möglichkeiten eingeht, Literatur künstlich zu erzeugen. Ein kühner und mutiger Ansatz, der aber nur teilweise überzeugt.

Lewinsky, der wie seine Hauptfigur selbst einmal Werbetexte verfasst hat, sagte in einer Lesung einmal, er habe den Anspruch, mit jedem neuen Buch auch immer etwas ganz Neues zu erzählen. Und tatsächlich: Von seinem Goethe-Roman "Rauch und Schall" aus dem letzten Jahr zum aktuellen Spiel mit ChatGPT und der Künstlichen Intelligenz ist es wohl nicht weniger als ein thematischer Quantensprung, der ihm hier gelingt.

Übersteht man als Leser:in die ersten 50 Seiten, die sich vor allem in Rachefantasien gegenüber der Ex-Freundin und Albernheiten in Bezug auf Müsli-Werbetexte gerieren, nimmt "Täuschend echt" gewaltig Fahrt auf. Im Umgang mit der KI, die der Protagonist irgendwann fast liebevoll "Kirsten" tauft, funktioniert der Roman plötzlich auf verschiedenen Ebenen. Auch wenn der Autor die Hauptfigur zweimal zu oft die Meta-Ebene beschwören lässt, ist es gerade diese, die das Buch so interessant macht. Auf gewisse Weise verschwimmen die Handlungsebenen, Lewinsky spielt gekonnt mit den Parametern. Er zeigt einerseits, dass es durchaus möglich ist, künstlich literarische Texte zu erzeugen. Andererseits sind diese durch ihre zahlreichen Wortwiederholungen und Adjektive aber so uninteressant, dass es wiederum unmöglich scheint, einen wirklich literarischen Roman auf diese Weise zu kreieren. Oder die Prompts der Hauptfigur stimmten einfach nicht.

Bedauerlich ist, dass Lewinksy in der zweiten Hälfte des Buches dieses Spiel aber gar nicht auf die Spitze treibt und beispielsweise den wirklich komischen Einfall, die fiktive Buchautorin werde zu einem TV-Termin in die bekannte Literatursendung "Druckfrisch" mit Denis Scheck eingeladen, zu einem befriedigenden Ende bringt. Stattdessen wandelt sich "Täuschend echt" wieder zu einer mit Müsli-Gags durchsetzten Racheposse, der Kirsten mit ihren zahlreichen, irgendwann langweilig werdenden Listen nur noch als Stichwortgeberin dient. Schade, denn spätestens seit dem "Stotterer" wissen wir, wie gut und gleichzeitig böse Charles Lewinsky als Erzähler sein kann. "Täuschend echt" hinterlässt hingegen eher den Eindruck, der Autor habe auf den sehr luftig gedruckten 340 Seiten irgendwie die KI einbauen wollen, ohne das große Potenzial dieser Idee wirklich nutzen zu können.

So ist "Täuschend echt" ein über weite Strecken zwar recht unterhaltsamer, aber nicht besonders kluger Roman, der zudem mit klischeehaften und überzeichneten Figuren und - offenbar bewusst - unglaubwürdigen Wendungen zwar nicht "echt enttäuschend", aber auch nicht der ganz große Wurf geworden ist. Wer lesen möchte, wie genial die KI in literarische Texte eingebunden werden kann, der greife lieber zu Clemens J. Setz' "Bot", das übrigens schon 2018 erschienen ist. Was in Sachen Künstlicher Intelligenz ein zeitlich mindestens ebenso großer Quantensprung ist wie von Goethe zu ChatGPT.

Bewertung vom 30.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


ausgezeichnet

Pegau in Sachsen, 1681: Der renommierte Arzt Dr. Johannes Schreyer ist eigentlich auf dem Weg zur Leipziger Messe, als er vom Amtmann Abraham Walther beauftragt wird, den Leichnam eines neugeborenen Säuglings zu begutachten. Die 15-jährige Anna Voigt wird verdächtigt, ihre kleine Tochter gleich nach der Geburt getötet zu haben. Die Stichwunden am Körper des Babys sprechen Bände, doch um auf Nummer sicher zu gehen, legt Schreyer ein Teilchen der Lunge in einen Behälter mit Wasser. Als die Lunge sinkt und nicht oben schwimmt, ist für Schreyer klar: Das Kind hat nie geatmet und war bei der Geburt folglich schon tot. Vorhang auf für die Lungenschwimmprobe - und damit für den neuen Roman des Norwegers Tore Renberg, der in der deutschen Übersetzung von Karoline Hippe und Ina Kronenberger bei Luchterhand erschienen ist.

"Die Lungenschwimmprobe" ist der erste Historische Roman Renbergs, der sich bisher der zeitgenössischen Literatur verschrieben hatte. Auf gut 700 Seiten entfaltet er ein buntes und sprachgewaltiges Panorama des Hochbarock, das sich nicht nur mit der Geburt der modernen Gerichtsmedizin befasst, sondern auch einen detaillierten Blick auf Leipzig nach dem Dreißigjährigen Krieg und die Entwicklung des Rechtssystems wirft. Dass dies keine einzige Seite langweilig wird, liegt an der Erzählkunst des Autors und an der ungewöhnlichen Form des Romans.

Wer nämlich einen schlichten Historischen Schmöker erwartet, dürfte vielleicht enttäuscht sein, denn Renberg spielt mehr als einmal mit den erzählerischen Konventionen. Hier streut er den Text des damaligen Strafgesetzbuches ein, dort eine Ballade, dann ein Märchen, ein paar Tagebucheinträge und Briefe. Die wohl größte Überraschung ist aber, dass sich der Autor als Ich-Erzähler immer wieder selbst an die Leserschaft wendet. Das kommt am Ende des ersten Kapitels völlig unvermittelt und zieht sich später durch ganze eigenständige Abschnitte. Am brillantesten gelingt ihm die Verbindung zwischen Autor und Materie im bemerkenswerten Kapitel "Der Korridor", als sich bei einem Besuch im Nürnberg der Gegenwart eine Art Zeitfenster öffnet und Renberg plötzlich seinen Romanfiguren gegenüberzustehen glaubt.

Wobei die meisten Figuren des Buches auf historischen Personen beruhen. Allen voran die vermeintliche Kindsmörderin Anna und ihr Anwalt Christian Thomasius, einer der späteren Gründungsväter der Universität von Halle an der Saale. Wenn es so etwas wie eine Hauptfigur in diesem an Personal reichen Roman gibt, dann ist es der umtriebige Jurist, der als einer der ersten Vertreter:innen der Aufklärung eine gewaltige Unruhe in die damals vor sich hin dösende und vom Krieg noch immer traumatisierte Stadt Leipzig brachte. Nicht von ungefähr bezieht sich der Untertitel des Romans auf Thomasius' Wirken: "Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde".

Ein nicht minder bedeutender Verteidiger ist allerdings Tore Renberg selbst, der auf einer Lesung zugab, er fühle sich immer als Anwalt seiner Figuren. Mit großer Empathie nähert sich Renberg der jungen Beschuldigten, über deren Leben es gerade einmal zwei historische Quellen gab - von Thomasius und von Dr. Schreyer. Auch seine Bewunderung für Christian Thomasius ist stets spürbar, ohne dessen Eitelkeit und Narzissmus zu verschweigen.

Ohnehin ist es die Ambivalenz der Figuren, die ein weiteres Qualitätsmerkmal des Romans ausmacht. Anna Voigt ist genauso wenig nur Opfer, wie beispielsweise der Leipziger Scharfrichter Christoph Heintze nur grausam oder emotionslos ist. Da hätte es bei all dieser thematischen und formalen Vielfalt die blutige und explizit grausame Rachegeschichte von Annas Vater Hans Heinrich in meinen Augen gar nicht mehr gebraucht.

Zu erwähnen ist auch noch die umfangreiche Recherche, die Renberg für das Schreiben des Romans betreiben musste - nachzulesen in einem knapp 50-seitigen digitalen Anhang mit Quellenangaben und historischen Karten. Da ist es schon verwunderlich, dass der Autor "nur" etwa fünf Jahre daran schrieb.

Insgesamt ist "Die Lungenschwimmprobe" ein berührendes, kluges und auch in seiner Form hochspannendes Epos, das nicht nur die Bürger:innen Leipzigs ihre Stadt mit anderen Augen sehen lässt, sondern auch deutlich macht, dass nicht das Mittelalter die grausamste aller Zeiten war.