Benutzer
Benutzername: 
sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 521 Bewertungen
Bewertung vom 25.07.2025
Follett, Ken

Das zweite Gedächtnis (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Schon seit meiner Jugend bin ich ein Fan von Ken Follett. Auch „Das zweite Gedächtnis“ habe ich schon vor 25 Jahren kurz nach der Veröffentlichung gelesen. Obwohl ich kein übermäßig großer Freund von politischen Thrillern bin, hat das Buch mich begeistert. Es ist ein packender Thriller rund um den Start des ersten amerikanischen Satelliten am 1. Februar 1958.
Aber von vorn.
Ein Mann kommt frühmorgens auf einer Bahnhofstoilette zu sich und stellt entsetzt fest, dass er keinerlei Erinnerungen mehr hat. Von einem Obdachlosen erfährt er, dass er wohl Luke heißt, aber ansonsten weiß er weder wer er ist, wo er sich befindet oder welches Jahr man schreibt. Nach einiger Zeit merkt er, dass er über Wissen bezüglich Physik und Mathematik verfügt – aber er hat keine Ahnung, woher dieses Wissen kommt. Minutiös versucht er, das Rätsel seiner Identität zu lösen und taucht tief in einen Spionage-Sumpf rund um den Start der Explorer, die an diesem Tag den ersten Amerikanischen Satelliten ins Weltall bringen sollte. Er nicht weiß, wem er überhaupt vertrauen kann, hat keine Ahnung, wer Freund und wer Feind ist, merkt aber schnell, dass er verfolgt wird und ihm irgendjemand nach dem Leben trachtet. Aber warum? Als er für sich Licht ins Dunkel bringen kann, läuft der Countdown, sowohl für die Trägerrakete als auch für sein eigenes Leben. Die Uhr tickt und die Zeit läuft ab.
Ken Follett erzählt „Das zweite Gedächtnis“ in mehreren Zeitebenen und aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Leserschaft weiß dadurch sehr schnell sehr viel mehr als der Protagonist, da die unterschiedlichen Ebenen viel über ihn preisgeben, was er selbst sich noch zusammenreimen muss. So hat man aber auch sehr schnell eine Idee, wohin die ganze Geschichte führen wird, was meiner Spannung aber keinen Abbruch tat. Die Gegenwart erstreckt sich über einen überschaubaren Zeitraum von knapp drei Tagen. Dazu gibt es Rückblicke in die Vergangenheit, eingeschoben werden Passagen aus 1941, 1943, 1945, 1954 und den Schluss des Buchs bildet ein Epilog aus dem Jahr 1969. Die Kapitel in der Gegenwart sind mit den jeweiligen Uhrzeiten überschrieben, was der Geschichte zusätzliche Spannung verleiht, denn die Handlung ist zeitlich sehr eng getaktet. Informativ fand ich, dass am Anfang der einzelnen Kapitel kurze Hintergrundinformationen zur Raketentechnik stehen.
Das Buch hatte am Anfang ein paar kleine Längen, aber nach ein paar Dutzend Seiten hatte mich die Geschichte gepackt. Der kalte Krieg, der „Sputnik-Schock“, der Wettlauf um die Vorherrschaft im Weltall und die Rolle der Geheimdienste (auch beim Einsatz experimenteller medizinischer Verfahren und Drogen bezüglich des Gedächtnisses), das „über-Leichen-Gehen“, die Verwirrung darüber, wer Freund und wer Feind ist – das alles machte für mich das Buch dann zum Page-Turner, heute genauso wie vor 25 Jahren. Spannend war es für mich auch, das Buch vor dem Hintergrund der Fortschritte in der Raketentechnologie zu lesen, ein Buch über Zeiten, in denen bemannte Raumfahrt noch Zukunftsmusik war und von der ISS und „Vergnügungsflügen“ ins All allerhöchstens geträumt werden konnte. Für mich ein Anlass, darüber nachzudenken, was sich in der Zwischenzeit alles getan hat (positiv und negativ).
Die Charaktere sind überwiegend hervorragend ausgearbeitet, vor allem von den Protagonisten bekommt man ein sehr gutes Bild. Sprachlich ist es „ein echter Follett“, ein bisschen lang, ein bisschen ausschweifend, aber mit viel Sachkenntnis geschrieben, sehr spannend und sehr gut zu lesen. Da Liebesgeschichten bei ihm nicht fehlen dürfen, weist natürlich auch „Das zweite Gedächtnis“ eine solche auf (eigentlich sogar mehrere), aber der Autor schafft es, sie so einzubauen, dass sie nicht allzu klischeehaft ist und sich gut in die eigentliche Handlung einschmiegt. Leider habe ich ein paar Rechtschreib- und Grammatikfehler gefunden, was ich immer sehr ärgerlich finde.
Aber abgesehen davon war die Lektüre für mich eine Freude und eine willkommene Reise in die Vergangenheit – historisch und persönlich gesehen. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 23.07.2025
Bogdahn, Martina

Mühlensommer


sehr gut

Ich bin Landkind, komme allerdings nicht von einem Bauernhof. Trotzdem habe ich vieles in Martina Bogdahns Buch „Mühlensommer“ wiedererkannt. Ich musste bei der Lektüre oft nicken, denn so war das Aufwachsen auf dem Land, inklusive der dementen Oma. Ich konnte die Streusel von Omas Apfel- und Zwetschgenkuchen schmecken und ihre Stimme beim Nachtgebet „Ich bin klein, mein Herz ist rein“ sagen hören. Für mich ein Debut-Roman, der Lust auf mehr macht.
Aber von vorn.
Die alleinerziehende Maria wollte eigentlich mit ihren beiden Teenie-Töchtern und einer befreundeten Familie als Auszeit vom stressigen Alltag in der Stadt ein entspanntes verlängertes Wochenende auf einer Berghütte verbringen. Ein Anruf ihrer Mutter stellt alles auf den Kopf. Hatten ihre Hauptprobleme vorher darin bestanden, eine Werbekampagne zu beenden, für ihre Tochter ein Ladekabel zu finden und für ihre Freunde ein absolut angesagtes Brot zu ergattern, muss sie jetzt überstürzt auf den elterlichen Bauernhof fahren. Ihr Vater hatte einen Arbeitsunfall und liegt im Krankenhaus. Die Mutter sorgt sich gleichermaßen um den verletzten Mann wie um Hof und Tiere, außerdem braucht sie Hilfe bei der Versorgung der dementen Oma. Maria war schon lange nicht mehr auf dem „Mühlenhof“, zwischen ihr, den Eltern und ihrem Bruder Thomas stehen unausgesprochene Dinge. Während das Unausgesprochene darauf wartet, ausgesprochen zu werden, prasseln auf Maria Erinnerungen. Sie denkt an Dinge wie Schweine, Schlachtungen, Herbstkatzen, Krippenspiele, Kartoffelpuffer und die Scham in der Schule, weil sie nach Schweinestall roch und ihre Klamotten keine Markenlogos hatten. Und in der Zwischenzeit möchte ihre Schwägerin aus ihrem ehemaligen Kinderzimmer einen Hot-Stone-Massageraum machen, dabei sieht da alles noch so aus, wie sie es bei ihrem Auszug zurückgelassen hat.
Erzählt wird die Geschichte etwas wirr, da die Autorin zwischen Gegenwart und Vergangenheit wechselt. Oft wirkt das Buch auch wie eine Aneinanderreihung von mehr oder weniger interessanten Anekdoten, die nicht durch einen roten Faden, sondern durch eine eher magere Rahmenhandlung zusammengehalten werden. Manche werden nicht ganz auserzählt und es bleiben ein paar lose Enden übrig. Da Martina Bogdahn selbst auf einem abgelegenen Bauernhof aufgewachsen ist, ist das Buch vermutlich autofiktional oder sogar autobiografisch. Einiges am Inhalt ist diskussionswürdig, ein paar Dinge auch moralisch zweifelhaft. Musste sie das Schicksal der Herbstkätzchen so schildern und die Schlachtung der Sau so beschreiben, wie sie es getan hat? Vermutlich fühlte es sich für sie richtig an, sonst hätte sie es nicht so geschrieben. Ja, vielleicht hätte dem Buch da eine Warnung gutgetan. Ein paar Passagen haben mich aber trotz aller Tragik schmunzeln lassen, vor allem, als Oma Maria sie ausgerechnet mit ihrem Onkel Herbert verwechselt.
Bezüglich der Charaktere ist das Buch im Gegenwarts-Erzählstrang ein bisschen schwach bestückt. Außer Marias Familie spielen fast nur ihre Freunde mit, mit denen sie das Wocheneden auf der Berghütte verbringen wollte. Die landen im Endeffekt auch auf dem Hof, scheinen dort fehl am Platz, wirken insgesamt eher oberflächlich und gingen mir ziemlich schnell auf die Nerven. Die zahlreichen Personen, die in Marias Vergangenheit eine Rolle gespielt haben, sind zwar realistisch aber leider eher blass und stereotyp beschrieben. Hervorragend finde ich die Dynamiken in Dorf und Familie getroffen. Der Kontrast zwischen Stadt- und Landleben ist gut herausgearbeitet, eines ist aber auf beiden Seiten gleich: alle müssen in ihrem Alltag hart arbeiten. Maria hat, im Gegensatz zu ihrem Bruder Thomas den Absprung geschafft und das Landleben hinter sich gelassen, was er ihr zu neiden scheint. Allerdings sind ihre Wurzeln nach wie vor auf dem „Mühlenhof“ und sie scheint ihn als ihre Heimat anzusehen. „Man bekommt das Kind aus dem Dorf, aber nicht das Dorf aus dem Kind“ sagt ein Sprichwort. Und das stimmt bei Martina Bogdahn ebenso wie bei mir.
Nicht zuletzt wegen der Parallelen zwischen der Autorin und mir habe ich „Mühlensommer“ trotz seiner Schwächen sehr gern gelesen. Für mich war das Buch inhaltlich, stilistisch und auch sprachlich ein Treffer und bekommt vier Punkte.

Bewertung vom 23.07.2025
Mohlin, Peter;Nyström, Peter

Der stille Vogel / Karlstad-Krimi Bd.3


ausgezeichnet

„Der stille Vogel“ ist der dritte Teil um den ehemaligen FBI-Agenten John Adderly, geschrieben vom schwedischen Autorenduo Peter Mohlin und Peter Nyström. Da ich die anderen beiden Teile gelesen und für eher mittelmäßig befunden hatte, war ich auf dieses Buch sehr gespannt. Tatsächlich hat es mir wesentlich besser gefallen als die anderen, es war spannend und hatte nach ein paar leichten Anlaufschwierigkeiten eine Menge zu bieten.
Aber von vorn.
John Adderley aka Fredrik Adamsson arbeitet nach wie vor bei der Polizei in der schwedischen Provinz. Als ehemaliger FBI-Agent kommt ihm sein Leben im Zeugenschutz in Karlstad ein bisschen wie eine Verbannung vor. Momentan hat er allerdings einen guten Grund, seinen geplanten Umzug nach Berlin aufzuschieben: er hat Nicole, die achtjährige Tochter seines verstorbenen Bruders, bei sich aufgenommen. Als Mona, seine Kontaktperson im Zeugenschutzprogramm, plötzlich seine Chefin wird, gerät er in Zugzwang. Während eines Fußballspiels, bei dem Johns Nichte Nicole mitspielt und er zusieht, fällt ein Knochen aus einem Vogelnest. Die erste Untersuchung ergibt, dass es sich dabei um ein menschliches Schlüsselbein handelt. Im Herbst 1986 waren die Zwillinge Jens und Jonas Brodin spurlos verschwunden, Hauptverdächtiger war damals war der Vater Kenneth, da er „seltsam“ war. Er konnte aber ein wasserdichtes Alibi präsentieren und der Fall wanderte irgendwann als ungelöst zu den Akten. Jetzt holt John den Fall wieder aus der Versenkung und beginnt, in dem „Cold Case“ zu ermitteln, was eine willkommene Ablenkung zu seinem Privatleben ist. Er schafft es, Nicole bei neuen Pflegeeltern unterzubringen, dazu untersucht er das Verschwinden einer jungen Asylbewerberin, die abgeschoben werden soll. Dabei stößt er unter anderem auf Pål Kratz. Der ist nach 30 Jahren wieder in seine Heimatstadt zurückgekehrt und kennt alle und jeden. Kennt er auch die Lösung des Falls?
Da die Handlung in sich abgeschlossen ist und vieles aus den Vorgänger-Bänden eingeflochten ist, kann man das Buch sehr gut ohne Vorkenntnisse lesen. Nachdem mich die ersten beiden Teile zwar gut unterhalten, aber nicht wirklich begeistert haben, hat der dritte Teil der Serie mich wirklich angenehm überrascht. Sprachlich ist er so gut wie die anderen, auch die Übersetzung ist sehr gut gelungen. Die Charaktere sind gut und dreidimensional beschrieben, John als Protagonist kenne ich schon seit „Der andere Sohn“ und seine Entwicklung ist spannend mitzuverfolgen. Er hat sich vom knurrigen Einzelkämpfer, der auf der Flucht vor einem nigerianischen Drogenkartell ist, zum sympathischen Ersatzvater von Nicole entwickelt. Er agiert im Beruf professionell und zielstrebig und zeigt bei einigen Gelegenheiten seine menschliche Seite. Die Charaktere neben ihm sind ebenfalls gut ausgearbeitet, fallen an seiner Seite allerdings relativ stark ab.
Die Geschichte an sich besticht durch ihre Komplexität, die zahlreichen Wendungen und die vielen Charaktere, die alle irgendwie miteinander zusammenhängen. Anfangs wird sie aus mehreren Perspektiven erzählt, wodurch das Publikum einen tiefen Einblick in die Geschehnisse bekommt, aber im Unklaren bleibt, wohin die Geschichte führen wird. Zumindest hat man aber ein bisschen mehr Einblick als die Ermittler, was für mich die Spannung steigerte, zumal ich Täter-technisch mehrfach komplett auf den Holzweg geriet. Die Lösung des Falls blieb für mich dann hinter meiner eigenen Fantasie zurück und hat mich aber durchaus überrascht.
Im Kontrast zur eher lockeren Sprache bietet das Buch inhaltlich schwerere Kost. Unter anderem treffen Fremdenfeindlichkeit, schwierige Familienverhältnisse und eine Art „Querdenker“ mit Verschwörungsfantasien auf strafrechtlich relevante Delikte wie Diebstahl, Körperverletzung und Mord. Fast jeder der Charaktere hat in der Geschichte seine eigene „Leiche im Keller“ und es wird gelogen, was das Zeug hält. Für mich war „Der stille Vogel“ ein Volltreffer und ich empfehle das Buch gern jedem, der skandinavische Krimis mag. Ich freue mich auf den vierten Teil der Reihe, auf Schwedisch ist er bereits unter dem Titel „Den högra handen“ (die rechte Hand) erschienen. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 03.07.2025
Richford, Angela

Tod auf St Michael's Mount (eBook, ePUB)


weniger gut

Ich kenne sowohl Mont St. Michel als auch das englische Pendant St. Michael’s Mount, daher habe ich mich auf Angela Richfords Krimi „Tod auf St. Michael’s Mount“ sehr gefreut. Die Geschichte ist gut konstruiert, Mordermittlung trifft auf Lokalkolorit und eine Ermittlerin mit Ecken und Kanten. Was dem Buch für mich aber den Rest gegeben hat, war die Übersetzung. Da ich selbst vom Fach bin, frage ich mich, wie jemand mit einem Funken Übersetzerehre so etwas abliefern kann.
Aber von vorn.
DCI Fiona Sutherland zieht nach dem Scheitern ihrer Ehe mit ihrem Sohn Tim in den kornischen Küstenort Portreath. Kurz nachdem sie ihre Arbeit als Polizeichefin aufgenommen hat, wird in der Bucht eine Leiche angespült. Wie die Ermittlungen schnell ergeben, handelt es sich bei dem Toten um den seit rund drei Monaten vermissten Unternehmer Lionel Kellow. Der Diabetiker war zu einer Kajaktour aufgebrochen, dieses war nach einer Suchaktion herrenlos aufgefunden worden. Darin lag sein Blutzuckermessgerät, die letzte Messung zeigte einen lebensbedrohlich niedrigen Wert. Wenig überraschend ergibt die Obduktion, dass Kellow wegen Unterzuckerung ertrunken ist. In seinem Magen finden die Rechtsmediziner Reste eines Antidepressivums, das als Nebenwirkung blutzuckersenkend wirkt. Da der Mann nicht depressiv war, gab es für ihn keinen Grund, das Mittel zu nehmen und seine Witwe gerät in Verdacht, ihn ermordet zu haben. Die junge Deutsche war zweiundzwanzig Jahre jünger als der erfolgreiche Geschäftsmann und mit dem Erbe hat sie ein Motiv. Als aber die Reinigungskraft von Kellows Immobilienfirma ermordet aufgefunden wird, erweitert sich der Kreis der Verdächtigen.
Eigentlich hat das Debüt von Angela Richford alles, was ein gutes Buch braucht: Mord, Ermittlungen, Verdächtige und eine sympathische Ermittlerin. Ihre Probleme, sich in ihrem neuen Polizeirevier gegenüber den männlichen Kollegen behaupten zu können, sind sicher sehr realistisch. Auch ihr ex Mann macht ihr das Leben schwer, wobei sie ihm gegenüber bewundernswert konsequent auftritt. Ihre „innere Sekretärin“ Mrs. Jones mag als charmanter stilistischer Kniff gemeint sein – mir ging sie schnell auf die Nerven. Der Rest der Charaktere ist eher flach beschrieben, außer der Nachbarin, der Psychotherapeutin Tracey, bleiben alle ziemlich blass. Gelungen sind hingegen die Landschaftsbeschreibungen und auch die Idee hinter der Geschichte ist gut.
„Tod auf St Michael’s Mount“ ist nicht, wie auf dem Titelblatt angekündigt, ein Thriller. Das Buch ist allerhöchstens ein cosy Krimi, für mich zu cosy. Aber ich gebe zu, ich konnte mich wegen der indiskutablen Übersetzung ohnehin nur schwer auf die Geschichte konzentrieren. Ständig stolperte ich über englische Begriffe oder sogar ganze Sätze, die nicht übersetzt wurden. „A nice cup of tea“, „anyhow“ oder „pleased to meet you“ und noch eine Menge weiterer Beispiele fand ich weder charmant noch geeignet, um den englischen Lebensstil auszudrücken. Ich fand es störend und hätte mich als Übersetzer nicht getraut, einem Verlag so eine Übersetzung anzubieten. Auch umgangssprachlich-regionale Begriffe wie „perzen“ sollte man überdenken. Zwar lässt sich aus dem Zusammenhang erschließen, was gemeint ist, aber das Wort steht zum einen nicht im Duden und zum anderen hat es in unterschiedlichen Gegenden unterschiedliche Bedeutungen.
Ansonsten ist das Buch leicht zu lesen, am Schluss gibt es ein Stelldichein aller möglicher Verdächtiger, das in der Enttarnung des Täters gipfelt. Das erinnert an großartige Kriminalromane oder -filme – leider kann das vorliegende Buch da nicht mithalten. Alles in allem ist es ein guter Anfang, aber ausbaufähig. Ihren Brotjob als Ärztin sollte die Autorin besser noch nicht aufgeben. Fest steht aber, dass das Buch auf jeden Fall eine bessere Übersetzung und ein sorgfältigeres Lektorat verdient hätte, da bin ich vom Verlag „Aufbau digital“ Besseres gewohnt. Von mit zwei Sterne.

Bewertung vom 03.07.2025
Johannsen, Anna

Die Toten auf Föhr


ausgezeichnet

Mit „Die Toten auf Föhr“ wartet ein komplexer und komplizierter Fall auf Anna Johannsens „Inselkommissarin“. In ihrem zwölften Einsatz ermittelt Hauptkommissarin Lena Lorenzen zusammen mit ihrem Team nicht nur in einem Todesfall, sondern alle haben auch irgendwelche private Probleme zu lösen. Auf die Leserschaft wartet bei diesem Buch spannende Lektüre mit einer privaten Note – für mich ein Volltreffer.
Die 34jährige Carolin Schneider, ihr zweijähriger Sohn und ihre fünf Jahre alte Tochter werden tot in ihrem Haus auf Föhr aufgefunden. Schnell ist für die Polizei klar, dass es sich um einen erweiterten Suizid handelt. Carolin soll erst ihre Kinder erstickt haben und sich anschließend mit Schlaftabletten und Alkohol in die Badewanne gelegt haben, wo sie dann ertrunken ist. Nach drei Tagen wird der Fall als abgeschlossen zu den Akten gelegt. Vorschnell, wie sich herausstellt. Eine von Carolins Vater angestrengte Obduktion ergibt, dass alle drei Opfer eines Tötungsdeliktes wurden. Sehr zum Missfallen der Flensburger Ermittler schalten sich Lena Lorenzen und ihr Team vom LKA ein. Die Kollegen fühlen sich in ihrer Kompetenz beleidigt, aber Lena, Naya Olsen und Johann Grasmann lassen sich auch durch offene Drohungen wie „Ich kann Ihnen nur raten, sich warm anzuziehen, Frau Kollegin.“ nicht aufhalten. Anscheinend wollte Carolin Schneider ihren Mann mit den Kindern verlassen. Hat Andre Schneider etwas mit ihrem Tod zu tun? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?
Alle Protagonisten haben im seit Anfang der Serie eine enorme Entwicklung durchlebt und als Kenner der Reihe fühlt man sich bei Lena, Naya, Johann, Erck und Ole, als würde man gute alte Bekannte treffen. Lenas Kollegen Naya und Johann hatten sich eine Auszeit genommen – umso mehr habe ich mich über ein Wiedersehen mit dem kompletten Team gefreut, auch wenn in Nayas Fall der Grund für ihre vorzeitige Rückkehr eher ein trauriger ist. Neben den sympathischen und sehr gut ausgearbeiteten Protagonisten wartet der Krimi aber natürlich auch mit einem tiefgründigen und hervorragend konzipierten Plot auf. Erweiterter Suizid, Kindstötung, Femizid – das sind leider sehr aktuelle Themen, die die Autorin gekonnt, sensibel und ohne Sensationsgier in ihrem Buch verarbeitet. Der Fall selbst weist einige Verdächtige, falsche Fährten und Wendungen auf, die so überraschend sind, dass einem beim Lesen ganz schwindelig wird.
Das Kompetenzgerangel zwischen den verschiedenen Dienststellen ist sicher sehr realistisch dargestellt, die privaten Probleme vermutlich auch. Für die Ermittler ist es nicht einfach, ihre Arbeit nicht „mit nach Hause zu nehmen“, auch die Dienstpläne sind mit dem Familienleben oft nur schwer vereinbar. Bei Lena und ihrem Mann Erck mündet dies in einer Ehekrise, da sie es nur schwer schafft, Arbeit, Ehe und ihren dreieinhalbjährigen Sohn Bent unter einen Hut zu bekommen. Work-Life-Balance und Arbeitsüberlastung bei der Polizei sind neben dem eigentlichen Verbrechen wichtige Themen des Buchs. Dazu hat Anna Johannsen mit Naya Olsen eine Ermittlerin erdacht, die mehrere Kulturkreise vereint: sie selbst hat die deutsche und die dänische Staatsangehörigkeit, ihr Großvater war Anfang der 1950er Jahre als Angehöriger einer grönländischen Inuit-Familie nach Dänemark verschleppt worden. Damit greift die Autorin ein Thema auf, das in Deutschland weniger, in Dänemark aber nach wie vor zu Recht diskutiert wird.
Für mich war „Die Toten auf Föhr“ vielschichtig und unterhaltsam mit allem, was ein Krimi braucht: Spannung, Privatleben, emotionalen Tiefgang, falschen Fährten und einem stimmigen Schluss. Ich empfehle das Buch gern allen Fans der Serie und natürlich allen, die gerne Krimis mit sympathischen und kompetenten Ermittlerteams lesen. Für mich war es ein Volltreffer, ich vergebe fünf Sterne und freue mich schon auf den nächsten Teil der Reihe.

Bewertung vom 30.05.2025
Berkel, Christian

Sputnik


sehr gut

Im Oktober 1957 brachte die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn. Und in Berlin wird, ebenfalls im Oktober, ein Kind geboren, das fortan denselben Namen wie der Satellit trägt: Sputnik. So heißt auch Christian Berkels neuer autofiktionaler Roman. Leider kann das Buch für mich mit „Der Apfelbaum“ und „Ada“ nicht mithalten.
Aber von vorn.
„Die ersten Worte meiner Mutter hörte ich lange vor meiner Geburt. Ihre Hoffnungen, Ängste, Erwartungen, ihre Enttäuschungen, ihre Sorgen waren der Raum, in dem ich begann, mich schwerelos zu orientieren.“ Die fiktiven Gedankengänge des ungeborenen Kindes beschreibt Christian Berkel sehr anschaulich. Nach der Geburt wurde er beinahe vertauscht, nur seinem Vater ist es zu verdanken, dass das nicht passiert ist. Vielleicht führte das dazu, dass er so intensiv nach seiner Identität suchte. Als Halbjude fühlte er sich lange als nichts Ganzes und nichts Halbes, vor allem nicht als Deutscher. Die Erziehung, die ihm seine Eltern angedeihen lassen, ist liebevoll und künstlerisch geprägt. Deren Traumata sind allerdings deutlich spürbar, Mutter Sala, die während des 2. Weltkriegs unter anderem im Lager Gurs eingesperrt war, wirkt oft abweisend. Vater Otto, der viele Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war, neigt zum Jähzorn. Da seine Mutter ihm schon früh die französische Sprache nähergebracht hat, geht er nach der fünften Klasse auf ein französisches Gymnasium, mit 14 erst als Gastschüler für ein Trimester und dann für längere Zeit nach Paris. Da war ihm schon klar, dass er Schauspieler werden möchte. In Frankreich hat er trotz hervorragender Sprachkenntnisse keine Chance und kehrt nach Deutschland zurück. Auf eine Sturm-und-Drang-Zeit mit Selbstfindung folgt eine Zeit der Selbstwerdung, über Drogen und Frauen führt ihn der Lebensweg zum Ziel und er wird ein erfolgreicher Schauspieler.
Wie viel von Christian Berkel in Sputnik steckt, kann ich nicht beurteilen. Klar ist, dass es zwischen den beiden viele Parallelen gibt. Der Charakter des Sputnik ist zwar interessant, sein Werdegang und seine Suche nach der Identität spannend, aber ich kann ihm persönlich nichts abgewinnen. Sowohl die ausschweifenden Beschreibungen seiner immer feuchter werdenden Träume bis hin zur obsessiven M***urba**on als auch seine Erfahrungen mit unterschiedlichen Drogen haben mich wenig begeistert. Ehrlich und schonungslos offen mögen die Berichte wohl sein, aber wer will denn wirklich wissen, wer wann wo „Hand angelegt hat“?
Sprachlich fand ich das Buch so gut wie die Vorgänger, die Sprache ist klar, bildhaft und zum Teil fast poetisch. Die konzeptionelle Idee und die Ansätze finde ich gut, die Einteilung in drei Kapitel ist gelungen, der Autor schreibt menschlich, nahbar und bodenständig. Der Schluss wirkt auf mich aber verkrampft, nach einer Aneinanderreihung seiner beruflichen Stationen scheint Christian Berkel unbedingt etwas zu suchen, was zum Anfang passt und alles abrundet. Leider bleibt für mich das Buch in Umsetzung und Ausarbeitung weit hinter „Der Apfelbaum“ und „Ada“ zurück.
Berkel schlägt Brücken zu den beiden anderen Teilen der Trilogie, neben seiner Schwester Ada (sie ist meist abwesend, erst im Internat, dann verlässt sie die Familie) treten weitere „alte Bekannte“ aus den anderen Büchern auf. So trifft sich „der Kreis“ aus Bekannten, Freunden und Kollegen (darunter auch der jüdische Bekannte Walter, der in „Der Apfelbaum“ eine wichtige Rolle spielte) zum Ansehen der Fernsehserie „Holocaust“. Der Umgang der Zeitzeugen mit dem Thema und der Fernsehserie ist interessant. Berkel beschreibt die intensive, fast hitzige Diskussion wie ein Theaterstück, wobei sehr kontroverse Ansichten ans Tageslicht kommen. Dennoch konnte mich von dem Buch nur das erste Drittel begeistern. Ich empfehle es allen Fans von Christian Berkel und allen, die die anderen Teile der Trilogie auch gelesen haben und gern Serien zu Ende bringen. Von mir gibt es dreieinhalb Sterne, aufgerundet auf vier.

Bewertung vom 13.05.2025
Indriðason, Arnaldur

Das dunkle Versteck / Kommissar Konrad Bd.5 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Das dunkle Versteck“ ist der Titel von Arnaldur Indriðasons aktuellem Buch und dunkel ist dabei ganz sicher nicht nur das Versteck. Das ganze Buch ist düster und hat eine äußerst bedrückende und depressive Grundstimmung. Dennoch war es für mich ein atmosphärisch dichter und packender Krimi. Es ist der fünfte Teil der Serie um den ehemaligen Kommissar Konráð, man kann das Buch aber auch einzeln lesen, wirklich wichtige Vorkenntnisse werden im Lauf der Geschichte erklärt, sodass es trotz der Komplexität wenig Verständnisprobleme geben dürfte.
Aber von vorn.
Der ehemalige Kommissar Konráð versucht nach wie vor, den einige Jahrzehnte zurückliegenden Mord an seinem Vater aufzuklären. Als bei der Polizei eine Pistole abgegeben wird, die eine Witwe im Nachlass ihres verstorbenen Mannes gefunden hat, wird er hellhörig. Diese oder eine ähnliche Waffe der Marke Luger hat er schon einmal gesehen. Die Kriminaltechnik kann die aufgefundene Waffe schnell einem Mordfall aus den 1950er Jahren zuordnen, damals war Garðar, ein Arbeiter aus Reykjavík in einer Barackensiedlung aus heiterem Himmel erschossen worden. Konráð nimmt private Ermittlungen auf. Er befürchtet, sein Vater hätte etwas mit dem Mord zu tun gehabt. Seppi war ein Kleinkrimineller und hatte Kontakte in die Unterwelt. Plötzlich findet Konráð sich in einen Fall wieder, in dem „der Schneider“, „der Arzt“ und „der Polizist“ s**ualisierte Gewalt an Kindern im großen Stil betrieben, unterstützt vom Leiter des örtlichen Kinderheims. Sind sie auch vor Mord nicht zurückgeschreckt? Was hatte Konráðs Vater damit zu tun? Und wer sind die beiden Frauen, die das Medium Eygló immer wieder sieht?
„Das dunkle Versteck“ ist mein zweiter Krimi von Arnaldur Indriðason und ich muss sagen, ich lerne den Autor und seinen Protagonisten Konráð immer mehr zu schätzen. Die Melancholie und Düsternis, die er und damit das ganze Buch ausstrahlen, treffen bei mir genau einen Nerv. Auch die Tatsache, dass Konráð ein Ermittler mit Ecken, Kanten, Fehlern und einer halbseidenen Vergangenheit ist, mag ich sehr. Konráð kämpft an mehreren Fronten: er ermittelt gegen den Willen seiner ehemaligen Kollegin Marta im Fall der gefundenen Pistole, hat mit einem alten Korruptionsfall unter Kollegen zu tun, sucht den Mörder seines Vaters, ermittelt wegen eines Überfalls auf seine Schwester Beta und zu allem Überfluss hat er auch noch Ärger mit seiner Lebensgefährtin Svanhildur). An die isländischen Namen habe ich mich inzwischen gewöhnt, ebenso an die Tatsache, dass alle immer geduzt werden und nur einen Vornamen haben. In diesem Buch greift er Themen wie Homophobie, Korruption und s**ualisierte Gewalt gegen Kinder auf – Themen, die leider nach wie vor aktuell sind.
Der Spannungsbogen in der Geschichte ist eher flach, die wahre Spannung findet unterschwellig statt. Dazu gibt es enorm viele Charaktere, fast alle tragen irgendwie zur Geschichte bei und alle fordern von der Leserschaft höchste Konzentration, sonst verliert man schnell den Überblick. Alles und jeder hängt irgendwie mit allem und jedem zusammen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Das Buch ist ganz sicher keines, um es nebenher zu lesen. Sprachlich finde ich es sehr angenehm, allerdings auch in der Hinsicht eher anspruchsvoll. Die Geschichte verläuft auch zeitlich nicht linear, der Autor springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück und schafft dadurch mehrere Erzählstränge. Auch da ist Mitdenken gefordert, denn die unterschiedlichen Zeitebenen erkennt man nur durch den Inhalt, optisch sind sie nicht voneinander zu unterscheiden.
Arnaldur Indriðasons Stil und drin Gespür für Zwischentöne haben mich beeindruckt, seine Fähigkeit, eine enorm düstere und bedrückende Atmosphäre zu schaffen finde ich bemerkenswert. Es fiel mir zuerst schwer, in die Geschichte einzutauchen, aber nach ein paar Dutzend Seiten hatte sie mich gepackt. Dranbleiben hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt! Von mir gibt es für dieses Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 10.05.2025
Cole, Jan

Was du nicht erwartest


ausgezeichnet

Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Jugendbuch überraschen könnte, zumal ich nicht mehr wirklich zur Zielgruppe gehöre. „Was du nicht erwartest“ von Jan Cole hat es aber dennoch geschafft. Die Geschichte ist rasant erzählt und punktet durch Tiefgang, Sachkenntnis und sensiblen Umgang mit Themen wie Autismus, Anorexie/Bulimie und Liebe. Ein leicht zu lesendes Buch, das nie seicht oder oberflächlich, plakativ oder stereotyp ist.
Aber von vorn.
Nik und Maike lernen sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kennen. Nik ist 16 und Autist. Er hat an einer Haltestelle jemanden gesehen und seither fühlt er sich komisch. Ist er tatsächlich verliebt? Er beginnt ein Experiment, um sich über seine Gefühle klarer zu werden. Bei der Durchführung wird er gestört und für seine Mutter bringt diese Aktion das Fass zum Überlaufen. Sie hat schon länger das Gefühl, ihn nicht mehr zu verstehen und nicht mehr mit ihm zurecht zu kommen. Daher befürwortet sie für ihn einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Ähnlich geht es auch der Mutter von Mai, allerdings aus anderen Gründen. Die fast 18Jährige ist magersüchtig. In der Psychiatrie treffen sich die beiden, nach ein paar Tagen beschließen sie, Niks Experiment zu Ende zu führen. Das geht natürlich nur draußen. Daher planen sie ihren gemeinsamen Ausbruch. Dieser gelingt. Aber das ist nur der Anfang einer wilden Tour von Berlin nach Frankfurt, einer Tour auf den Spuren von Liebe, Freundschaft und Erwachsenwerden.
Erwartungen hatte ich an das Buch nur wenige, daher konnte Jan Cole sie nicht enttäuschen. Als ehemals magersüchtiger Autist kenne ich die Themen auf jeden Fall ziemlich gut. Würde der Autor es schaffen, die Schwierigkeiten der beiden Teenager angemessen darzustellen? Würde er in die Klischee-Falle tappen? Tatsächlich schafft er es, fast jedes Stereotyp aufzugreifen, diese aber in seiner ganz eigenen Art einzuordnen (okay, die Mitarbeitenden in der Psychiatrie sind möglicherweise zu klischeehaft beschrieben, aber das kann ich nicht abschließend beurteilen). Nik mag keine Berührungen, klopft sich mit beiden Händen an den Kopf, Zahlen scheinen ihn ebenfalls zu beruhigen, genauso wie seine Mütze, Regelmäßigkeiten und Ordnung. Diese Dinge gehören einfach zu ihm. Mai zählt auch, nämlich Kalorien. Sie braucht es, um sich zu beruhigen und sicher zu fühlen, es ist ein Teil ihrer Krankheit und ihres Selbst. („Vielleicht weil ich nicht weiß, wo die Magersucht aufhört und ich anfange. Vielleicht bleibt gar nichts mehr von mir übrig, wenn die Krankheit weg ist.“)
Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nik und Mai, die Kapitel sind mit dem Namen des Erzählenden und dem Ort des Geschehens überschrieben. Das Nachwort ist ein Interview, in dem der Autors seine (fiktiven) Protagonisten zu Wort kommen lässt. Damit bringt er seine Geschichte zu einem stimmigen Schluss. Ein wirklich cleverer Twist ist auch, dass Jan Cole selbst in seinem Buch mitspielt, sogar das Buch spielt eine Rolle. Zum „Warum“ möchte ich nicht spoilern.
Für Menschen, die mit den Themen Autismus und Magersucht noch nichts zu tun hatten, könnte das Buch augenöffnend sein. Der Autor greift beispielsweise die Behauptungen auf, Autismus sei „diese Behinderung, die durch Impfstoffe entstehen kann“ und dass es früher nicht so viele Autisten gegeben hätte. Nik stellt klar: „Autismus hat mit Impfstoffen nichts zu tun“ und „Natürlich gab es früher auch Autisten, man hat das nur nicht so genannt.“ Das zu lesen tut mir wirklich gut, denn das ist absolut korrekt. Auch Mais Anorexie beleuchtet der Autor sehr sensibel, inklusive ihrer Fähigkeit, ihren Zustand sehr lang zu verheimlichen, sodass Nik lange nicht erkennt, wie schlecht es ihr wirklich geht.
Jan Cole hat ein Buch geschrieben, das die Erwartungen, die ich gar nicht hatte, erfüllt, ja sogar übertroffen hat. Ein Buch, das ich jedem, der ein sensibles Werk zu den Themen Autismus, Magersucht, Liebe und Coming-of-Age, ans Herz lege (Triggerwarnung am Anfang beachten!). Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 02.05.2025
Ægisdóttir, Eva Björg

Verborgen / Mörderisches Island Bd.3 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Verborgen“ ist der dritte Teil von Eva Björg Ægisdóttirs „mörderisches Island“-Serie. Die Autorin nimmt ihr Publikum wieder mit in die isländische Kleinstadt Akranes, in der auch die anderen beiden Teile der Reihe spielten. Wow, der Ort kommt wirklich nicht zur Ruhe, wieder gibt es Tote, komplexe Ermittlungen und natürlich ein bisschen Privatleben der Ermittler. Für mich war das Buch ein echter Page-Turner.
Aber von vorn.
Ein junger Mann wird nach einem Hausbrand tot in seinem Bett aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass Marinós Tod kein tragischer Unglücksfall war, denn der 20Jährige war beim Ausbruch des Brandes bereits tot, außerdem sind in seinem Zimmer deutliche Spuren eines Brandbeschleunigers. In seinem Kleiderschrank finden die Ermittler ein Handy, das vermutlich nicht seines ist, denn es ist auf der Rückseite mit lilafarbenen und silbernen Glitzersteinen verziert. Es gehörte Lise, einer jungen Niederländerin, die als Au-Pair gearbeitet hat. Sie betreute Klara und Anna, die Töchter einer Familie, die in der Nachbarschaft von Marinó lebt, Andri, der ältere Sohn der Familie war mit Marinó befreundet. Ab da gestalten sich die ohnehin nicht einfachen Ermittlungen für Elma und ihr Team als noch komplizierter. Lise ist verschwunden, allerdings scheint niemand sie wirklich vermisst zu haben, so wollte die Familie verlassen und in die Niederlande zurückkehren. Alle scheinen davon ausgegangen zu sein, dass sie abgereist ist, ohne sich verabschiedet zu haben. Aber dann wird ihre Leiche gefunden. Wurde die junge Frau ermordet? Wer könnte ein Motiv haben? Hängen die beiden Todesfälle zusammen?
„Verborgen“ ist der dritte Teil einer Serie, ich kenne die anderen Bücher auch, daher kann ich schwer beurteilen, ob man sie einzeln lesen kann. Der Spaß ist aber mit Sicherheit größer, wenn man „Verschwiegen“ und „Verlogen“ auch kennt. So kann man auch die Exkurse ins Privatleben der Ermittler besser verstehen, da diese Charaktere vom ersten Teil an ausgebaut werden. Gígja, die Frau von Elmas Chef Hörður, verliert ihren Kampf gegen den Krebs kurz vor der Geburt ihres ersten Enkelkindes. Elma kämpft mit ihren Eltern und ihrer Schwester, außerdem beginnt in ihrer Beziehung zu ihrem Kollegen Sævar eine neue Phase.
Was für mich die Serie um Ermittlerin Elma und ihr Team auszeichnet, ist die Beleuchtung menschlicher Abgründe und die emotionale Tiefe. Außerdem sind alle Fälle immer sehr komplex und vielschichtig, die Ermittlungsarbeit ist aber grundlegend solide, das Verhältnis im Team ist kollegial, fast freundschaftlich. Die Charaktere sind liebevoll und gründlich ausgearbeitet, die Landschaft kommt in diesem Band leider überhaupt nicht zum Tragen, die Geschichte spielt so gut wie ausschließlich in Akranes, einer eher gesichtslosen kleinen Stadt, die auch überall sonst auf der Welt sein könnte. Auch die Atmosphäre schafft die Autorin für mich nicht wirklich einzufangen. Dafür passt der Titel aber sehr gut zum Buch: „Verborgen“ ist nämlich sehr viel, vor allem die Wahrheit.
Sonst folgt die Autorin ihrem bewährten Muster: ein Fall – viele Verdächtige. So gut wie jeder könnte der Täter sein, denn gefühlt lügen alle aus irgendwelchen Gründen. Dazu kommen eine komplexe Motiv- und Tätersuche mit vielen falschen Fährten, viel unterschwellige Spannung durch die psychologische Komponente und einige Plot Twists. Auch in „Verborgen“ wird die Geschichte auf zwei Handlungsebenen erzählt, eine spielt in der Vergangenheit und wird in eher kurzen Abschnitten eingewoben, die Hauptgeschichte spielt aber im Jetzt und Hier. Der Autorin gelingt ein schwieriger Balanceakt: im Mittelpunkt der Geschichte stehen praktisch gleichberechtigt sowohl die Ermittler, die Ermittlungen und das Opfer. Ich habe auch den dritten Band um Elma und ihr Team sehr gern gelesen und empfehle das Buch jedem, der eher ruhige, gut konstruierte, psychologisch interessante Krimis mit einem sympathischen Ermitttlerteam, ohne viel Blutvergießen und Fäkalsprache mag. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 22.04.2025
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


ausgezeichnet

„Verlogen“ ist der zweite Teil von Eva Björg Ægisdóttirs Krimi-Reihe „Mörderisches Island“. Anfangs hatte ich meine Probleme, mich in die Geschichte einzufinden, aber als ich mich durch die ersten paar Dutzend Seiten gekämpft hatte, bin ich durch den Rest des Buchs praktisch durchgeflogen. Der Sog des Krimis hat mich gepackt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.
Aber von vorn.
Sieben Monate lang war die 31jährige Maríanna Þórsdottir verschwunden. Zuerst ging die Polizei davon aus, die alleinerziehende Mutter einer 15jährigen Tochter hätte sich einfach nur abgesetzt, zumal sie schon zweimal für längere Zeit weg war. Seit der Zeit lebt ihre Tochter Hekla zeitweise bei Pflegeeltern, bei denen sie gern dauerhaft bleiben würde. Ihr hat Maríanna einen Zettel mit der Aufschrift „Es tut mir leid“ hinterlassen. Dadurch erhärtete sich schnell die Vermutung, sie habe Su**id begangen. Als aber dann im Lavafeld von Grabrók ihre Leiche gefunden wird und die Rechtsmedizin feststellt, dass die junge Frau ermordet wurde, muss die Polizei die Ermittlungen noch einmal aufnehmen. Die Ermittler verfolgen alte und neue Spuren, verhören Zeugen und Verdächtige, der Fall wird immer komplexer und komplizierter. Die Menschen, die sie befragen, können sich entweder nicht erinnern oder scheinen ganz offensichtlich zu lügen. Elma steht vor der Frage: haben sie damals etwas übersehen oder übersehen sie jetzt etwas ganz Entscheidendes?
Das Buch wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Tagebuchartig begleitet die Leserschaft eine anonym bleibende junge Frau durch 13 Jahre ihres Lebens nach der Geburt ihrer Tochter. Man erlebt mit, wie sie das Baby erst ablehnt, sich nach und nach aber an ihr Leben als alleinerziehende Mutter gewöhnt und ihr Kind akzeptieren, sogar lieben lernt. Dieser Erzählstrang trifft kurz vor Schluss auf den Handlungsstrang im Hier und Jetzt, in dem die Ermittlungen (neben einigen privaten Erlebnissen der Protagonisten) im Mittelpunkt stehen. Das Buch ist unblutig, kommt ohne derbe Sprache aus und die Zusammenarbeit der Ermittler ist professionell und kollegial. Das ist bei Krimis eher selten, die bauen meist eher auf Rivalität und Konkurrenz unter Kollegen.
Sowohl die Charaktere als auch die Stimmung und das Setting fand ich sehr gut beschrieben und sorgfältig ausgearbeitet. Elma hat mit ihrer eigenen Familie zu kämpfen, dazu leidet sie immer noch unter dem Suizid ihres Lebensgefährten Davíð. Da sie aber mit ihrem Nachbarn Jakob eine Beziehung eingegangen ist, scheint diese Wunde langsam zu heilen. „Elma war nicht ganz sicher, wie sie und Jakob zueinander standen.“ – insgeheim würde sie nämlich viel lieber ihren Kollegen Svær näher kennenlernen. Gígja, die Frau ihres Vorgesetzte Hörður kämpft gegen Brustkrebs, was auch ihn schwer belastet. Die weiteren Charaktere finde ich ebenfalls sehr dreidimensional gestaltet, alle haben ihre Besonderheiten. Auch die Beschreibung der Landschaft fand ich sehr gelungen, die Sprache von Eva Björg Ægisdóttir finde ich überhaupt sehr angenehm, manchmal fast poetisch.
Spannend kann man das Buch nicht nennen, aber die Autorin hat die psychologische Aspekte hervorragend ausgearbeitet. Dadurch hat die Geschichte auf mich eine Sogwirkung ausgeübt, der ich mich nicht entziehen konnte. Die Dramatik, die hinter allem steckt, die Tragik, die auch zwischen den Zeilen steht, dazu die düstere Atmosphäre – die Kombination machte das Buch für mich zu etwas ganz Besonderem. Für mich kam die Hauptspannung dadurch auf, dass ich mitgerätselt und mich fortlaufend gefragt habe, wer lügt, wieso gelogen wird und was das Motiv hinter allem sein könntem und natürlich die Frage, wer die anonym bleibende Mutter im tagebuchartigen Erzählstrang ist. Wow, lag ich da falsch!
Insgesamt hat mir das Buch viel besser gefallen als der Vorgänger „Verschwiegen“. Natürlich ist noch etwas Luft nach oben, mal sehen, ob sich die Autorin mit dem dritten Teil der Serie („Verborgen“) erneut gesteigert hat. Von mir gibt es fünf Sterne.