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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 516 Bewertungen
Bewertung vom 30.05.2025
Sputnik
Berkel, Christian

Sputnik


sehr gut

Im Oktober 1957 brachte die Sowjetunion den ersten künstlichen Satelliten in die Erdumlaufbahn. Und in Berlin wird, ebenfalls im Oktober, ein Kind geboren, das fortan denselben Namen wie der Satellit trägt: Sputnik. So heißt auch Christian Berkels neuer autofiktionaler Roman. Leider kann das Buch für mich mit „Der Apfelbaum“ und „Ada“ nicht mithalten.
Aber von vorn.
„Die ersten Worte meiner Mutter hörte ich lange vor meiner Geburt. Ihre Hoffnungen, Ängste, Erwartungen, ihre Enttäuschungen, ihre Sorgen waren der Raum, in dem ich begann, mich schwerelos zu orientieren.“ Die fiktiven Gedankengänge des ungeborenen Kindes beschreibt Christian Berkel sehr anschaulich. Nach der Geburt wurde er beinahe vertauscht, nur seinem Vater ist es zu verdanken, dass das nicht passiert ist. Vielleicht führte das dazu, dass er so intensiv nach seiner Identität suchte. Als Halbjude fühlte er sich lange als nichts Ganzes und nichts Halbes, vor allem nicht als Deutscher. Die Erziehung, die ihm seine Eltern angedeihen lassen, ist liebevoll und künstlerisch geprägt. Deren Traumata sind allerdings deutlich spürbar, Mutter Sala, die während des 2. Weltkriegs unter anderem im Lager Gurs eingesperrt war, wirkt oft abweisend. Vater Otto, der viele Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft war, neigt zum Jähzorn. Da seine Mutter ihm schon früh die französische Sprache nähergebracht hat, geht er nach der fünften Klasse auf ein französisches Gymnasium, mit 14 erst als Gastschüler für ein Trimester und dann für längere Zeit nach Paris. Da war ihm schon klar, dass er Schauspieler werden möchte. In Frankreich hat er trotz hervorragender Sprachkenntnisse keine Chance und kehrt nach Deutschland zurück. Auf eine Sturm-und-Drang-Zeit mit Selbstfindung folgt eine Zeit der Selbstwerdung, über Drogen und Frauen führt ihn der Lebensweg zum Ziel und er wird ein erfolgreicher Schauspieler.
Wie viel von Christian Berkel in Sputnik steckt, kann ich nicht beurteilen. Klar ist, dass es zwischen den beiden viele Parallelen gibt. Der Charakter des Sputnik ist zwar interessant, sein Werdegang und seine Suche nach der Identität spannend, aber ich kann ihm persönlich nichts abgewinnen. Sowohl die ausschweifenden Beschreibungen seiner immer feuchter werdenden Träume bis hin zur obsessiven M***urba**on als auch seine Erfahrungen mit unterschiedlichen Drogen haben mich wenig begeistert. Ehrlich und schonungslos offen mögen die Berichte wohl sein, aber wer will denn wirklich wissen, wer wann wo „Hand angelegt hat“?
Sprachlich fand ich das Buch so gut wie die Vorgänger, die Sprache ist klar, bildhaft und zum Teil fast poetisch. Die konzeptionelle Idee und die Ansätze finde ich gut, die Einteilung in drei Kapitel ist gelungen, der Autor schreibt menschlich, nahbar und bodenständig. Der Schluss wirkt auf mich aber verkrampft, nach einer Aneinanderreihung seiner beruflichen Stationen scheint Christian Berkel unbedingt etwas zu suchen, was zum Anfang passt und alles abrundet. Leider bleibt für mich das Buch in Umsetzung und Ausarbeitung weit hinter „Der Apfelbaum“ und „Ada“ zurück.
Berkel schlägt Brücken zu den beiden anderen Teilen der Trilogie, neben seiner Schwester Ada (sie ist meist abwesend, erst im Internat, dann verlässt sie die Familie) treten weitere „alte Bekannte“ aus den anderen Büchern auf. So trifft sich „der Kreis“ aus Bekannten, Freunden und Kollegen (darunter auch der jüdische Bekannte Walter, der in „Der Apfelbaum“ eine wichtige Rolle spielte) zum Ansehen der Fernsehserie „Holocaust“. Der Umgang der Zeitzeugen mit dem Thema und der Fernsehserie ist interessant. Berkel beschreibt die intensive, fast hitzige Diskussion wie ein Theaterstück, wobei sehr kontroverse Ansichten ans Tageslicht kommen. Dennoch konnte mich von dem Buch nur das erste Drittel begeistern. Ich empfehle es allen Fans von Christian Berkel und allen, die die anderen Teile der Trilogie auch gelesen haben und gern Serien zu Ende bringen. Von mir gibt es dreieinhalb Sterne, aufgerundet auf vier.

Bewertung vom 13.05.2025
Das dunkle Versteck / Kommissar Konrad Bd.5 (eBook, ePUB)
Indriðason, Arnaldur

Das dunkle Versteck / Kommissar Konrad Bd.5 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Das dunkle Versteck“ ist der Titel von Arnaldur Indriðasons aktuellem Buch und dunkel ist dabei ganz sicher nicht nur das Versteck. Das ganze Buch ist düster und hat eine äußerst bedrückende und depressive Grundstimmung. Dennoch war es für mich ein atmosphärisch dichter und packender Krimi. Es ist der fünfte Teil der Serie um den ehemaligen Kommissar Konráð, man kann das Buch aber auch einzeln lesen, wirklich wichtige Vorkenntnisse werden im Lauf der Geschichte erklärt, sodass es trotz der Komplexität wenig Verständnisprobleme geben dürfte.
Aber von vorn.
Der ehemalige Kommissar Konráð versucht nach wie vor, den einige Jahrzehnte zurückliegenden Mord an seinem Vater aufzuklären. Als bei der Polizei eine Pistole abgegeben wird, die eine Witwe im Nachlass ihres verstorbenen Mannes gefunden hat, wird er hellhörig. Diese oder eine ähnliche Waffe der Marke Luger hat er schon einmal gesehen. Die Kriminaltechnik kann die aufgefundene Waffe schnell einem Mordfall aus den 1950er Jahren zuordnen, damals war Garðar, ein Arbeiter aus Reykjavík in einer Barackensiedlung aus heiterem Himmel erschossen worden. Konráð nimmt private Ermittlungen auf. Er befürchtet, sein Vater hätte etwas mit dem Mord zu tun gehabt. Seppi war ein Kleinkrimineller und hatte Kontakte in die Unterwelt. Plötzlich findet Konráð sich in einen Fall wieder, in dem „der Schneider“, „der Arzt“ und „der Polizist“ s**ualisierte Gewalt an Kindern im großen Stil betrieben, unterstützt vom Leiter des örtlichen Kinderheims. Sind sie auch vor Mord nicht zurückgeschreckt? Was hatte Konráðs Vater damit zu tun? Und wer sind die beiden Frauen, die das Medium Eygló immer wieder sieht?
„Das dunkle Versteck“ ist mein zweiter Krimi von Arnaldur Indriðason und ich muss sagen, ich lerne den Autor und seinen Protagonisten Konráð immer mehr zu schätzen. Die Melancholie und Düsternis, die er und damit das ganze Buch ausstrahlen, treffen bei mir genau einen Nerv. Auch die Tatsache, dass Konráð ein Ermittler mit Ecken, Kanten, Fehlern und einer halbseidenen Vergangenheit ist, mag ich sehr. Konráð kämpft an mehreren Fronten: er ermittelt gegen den Willen seiner ehemaligen Kollegin Marta im Fall der gefundenen Pistole, hat mit einem alten Korruptionsfall unter Kollegen zu tun, sucht den Mörder seines Vaters, ermittelt wegen eines Überfalls auf seine Schwester Beta und zu allem Überfluss hat er auch noch Ärger mit seiner Lebensgefährtin Svanhildur). An die isländischen Namen habe ich mich inzwischen gewöhnt, ebenso an die Tatsache, dass alle immer geduzt werden und nur einen Vornamen haben. In diesem Buch greift er Themen wie Homophobie, Korruption und s**ualisierte Gewalt gegen Kinder auf – Themen, die leider nach wie vor aktuell sind.
Der Spannungsbogen in der Geschichte ist eher flach, die wahre Spannung findet unterschwellig statt. Dazu gibt es enorm viele Charaktere, fast alle tragen irgendwie zur Geschichte bei und alle fordern von der Leserschaft höchste Konzentration, sonst verliert man schnell den Überblick. Alles und jeder hängt irgendwie mit allem und jedem zusammen, auch wenn es auf den ersten Blick nicht ersichtlich ist. Das Buch ist ganz sicher keines, um es nebenher zu lesen. Sprachlich finde ich es sehr angenehm, allerdings auch in der Hinsicht eher anspruchsvoll. Die Geschichte verläuft auch zeitlich nicht linear, der Autor springt von der Gegenwart in die Vergangenheit und wieder zurück und schafft dadurch mehrere Erzählstränge. Auch da ist Mitdenken gefordert, denn die unterschiedlichen Zeitebenen erkennt man nur durch den Inhalt, optisch sind sie nicht voneinander zu unterscheiden.
Arnaldur Indriðasons Stil und drin Gespür für Zwischentöne haben mich beeindruckt, seine Fähigkeit, eine enorm düstere und bedrückende Atmosphäre zu schaffen finde ich bemerkenswert. Es fiel mir zuerst schwer, in die Geschichte einzutauchen, aber nach ein paar Dutzend Seiten hatte sie mich gepackt. Dranbleiben hat sich für mich auf jeden Fall gelohnt! Von mir gibt es für dieses Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 10.05.2025
Was du nicht erwartest
Cole, Jan

Was du nicht erwartest


ausgezeichnet

Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Jugendbuch überraschen könnte, zumal ich nicht mehr wirklich zur Zielgruppe gehöre. „Was du nicht erwartest“ von Jan Cole hat es aber dennoch geschafft. Die Geschichte ist rasant erzählt und punktet durch Tiefgang, Sachkenntnis und sensiblen Umgang mit Themen wie Autismus, Anorexie/Bulimie und Liebe. Ein leicht zu lesendes Buch, das nie seicht oder oberflächlich, plakativ oder stereotyp ist.
Aber von vorn.
Nik und Maike lernen sich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie kennen. Nik ist 16 und Autist. Er hat an einer Haltestelle jemanden gesehen und seither fühlt er sich komisch. Ist er tatsächlich verliebt? Er beginnt ein Experiment, um sich über seine Gefühle klarer zu werden. Bei der Durchführung wird er gestört und für seine Mutter bringt diese Aktion das Fass zum Überlaufen. Sie hat schon länger das Gefühl, ihn nicht mehr zu verstehen und nicht mehr mit ihm zurecht zu kommen. Daher befürwortet sie für ihn einen Aufenthalt in der Psychiatrie. Ähnlich geht es auch der Mutter von Mai, allerdings aus anderen Gründen. Die fast 18Jährige ist magersüchtig. In der Psychiatrie treffen sich die beiden, nach ein paar Tagen beschließen sie, Niks Experiment zu Ende zu führen. Das geht natürlich nur draußen. Daher planen sie ihren gemeinsamen Ausbruch. Dieser gelingt. Aber das ist nur der Anfang einer wilden Tour von Berlin nach Frankfurt, einer Tour auf den Spuren von Liebe, Freundschaft und Erwachsenwerden.
Erwartungen hatte ich an das Buch nur wenige, daher konnte Jan Cole sie nicht enttäuschen. Als ehemals magersüchtiger Autist kenne ich die Themen auf jeden Fall ziemlich gut. Würde der Autor es schaffen, die Schwierigkeiten der beiden Teenager angemessen darzustellen? Würde er in die Klischee-Falle tappen? Tatsächlich schafft er es, fast jedes Stereotyp aufzugreifen, diese aber in seiner ganz eigenen Art einzuordnen (okay, die Mitarbeitenden in der Psychiatrie sind möglicherweise zu klischeehaft beschrieben, aber das kann ich nicht abschließend beurteilen). Nik mag keine Berührungen, klopft sich mit beiden Händen an den Kopf, Zahlen scheinen ihn ebenfalls zu beruhigen, genauso wie seine Mütze, Regelmäßigkeiten und Ordnung. Diese Dinge gehören einfach zu ihm. Mai zählt auch, nämlich Kalorien. Sie braucht es, um sich zu beruhigen und sicher zu fühlen, es ist ein Teil ihrer Krankheit und ihres Selbst. („Vielleicht weil ich nicht weiß, wo die Magersucht aufhört und ich anfange. Vielleicht bleibt gar nichts mehr von mir übrig, wenn die Krankheit weg ist.“)
Erzählt wird die Geschichte aus den Perspektiven von Nik und Mai, die Kapitel sind mit dem Namen des Erzählenden und dem Ort des Geschehens überschrieben. Das Nachwort ist ein Interview, in dem der Autors seine (fiktiven) Protagonisten zu Wort kommen lässt. Damit bringt er seine Geschichte zu einem stimmigen Schluss. Ein wirklich cleverer Twist ist auch, dass Jan Cole selbst in seinem Buch mitspielt, sogar das Buch spielt eine Rolle. Zum „Warum“ möchte ich nicht spoilern.
Für Menschen, die mit den Themen Autismus und Magersucht noch nichts zu tun hatten, könnte das Buch augenöffnend sein. Der Autor greift beispielsweise die Behauptungen auf, Autismus sei „diese Behinderung, die durch Impfstoffe entstehen kann“ und dass es früher nicht so viele Autisten gegeben hätte. Nik stellt klar: „Autismus hat mit Impfstoffen nichts zu tun“ und „Natürlich gab es früher auch Autisten, man hat das nur nicht so genannt.“ Das zu lesen tut mir wirklich gut, denn das ist absolut korrekt. Auch Mais Anorexie beleuchtet der Autor sehr sensibel, inklusive ihrer Fähigkeit, ihren Zustand sehr lang zu verheimlichen, sodass Nik lange nicht erkennt, wie schlecht es ihr wirklich geht.
Jan Cole hat ein Buch geschrieben, das die Erwartungen, die ich gar nicht hatte, erfüllt, ja sogar übertroffen hat. Ein Buch, das ich jedem, der ein sensibles Werk zu den Themen Autismus, Magersucht, Liebe und Coming-of-Age, ans Herz lege (Triggerwarnung am Anfang beachten!). Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 02.05.2025
Verborgen / Mörderisches Island Bd.3 (eBook, ePUB)
Ægisdóttir, Eva Björg

Verborgen / Mörderisches Island Bd.3 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

„Verborgen“ ist der dritte Teil von Eva Björg Ægisdóttirs „mörderisches Island“-Serie. Die Autorin nimmt ihr Publikum wieder mit in die isländische Kleinstadt Akranes, in der auch die anderen beiden Teile der Reihe spielten. Wow, der Ort kommt wirklich nicht zur Ruhe, wieder gibt es Tote, komplexe Ermittlungen und natürlich ein bisschen Privatleben der Ermittler. Für mich war das Buch ein echter Page-Turner.
Aber von vorn.
Ein junger Mann wird nach einem Hausbrand tot in seinem Bett aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass Marinós Tod kein tragischer Unglücksfall war, denn der 20Jährige war beim Ausbruch des Brandes bereits tot, außerdem sind in seinem Zimmer deutliche Spuren eines Brandbeschleunigers. In seinem Kleiderschrank finden die Ermittler ein Handy, das vermutlich nicht seines ist, denn es ist auf der Rückseite mit lilafarbenen und silbernen Glitzersteinen verziert. Es gehörte Lise, einer jungen Niederländerin, die als Au-Pair gearbeitet hat. Sie betreute Klara und Anna, die Töchter einer Familie, die in der Nachbarschaft von Marinó lebt, Andri, der ältere Sohn der Familie war mit Marinó befreundet. Ab da gestalten sich die ohnehin nicht einfachen Ermittlungen für Elma und ihr Team als noch komplizierter. Lise ist verschwunden, allerdings scheint niemand sie wirklich vermisst zu haben, so wollte die Familie verlassen und in die Niederlande zurückkehren. Alle scheinen davon ausgegangen zu sein, dass sie abgereist ist, ohne sich verabschiedet zu haben. Aber dann wird ihre Leiche gefunden. Wurde die junge Frau ermordet? Wer könnte ein Motiv haben? Hängen die beiden Todesfälle zusammen?
„Verborgen“ ist der dritte Teil einer Serie, ich kenne die anderen Bücher auch, daher kann ich schwer beurteilen, ob man sie einzeln lesen kann. Der Spaß ist aber mit Sicherheit größer, wenn man „Verschwiegen“ und „Verlogen“ auch kennt. So kann man auch die Exkurse ins Privatleben der Ermittler besser verstehen, da diese Charaktere vom ersten Teil an ausgebaut werden. Gígja, die Frau von Elmas Chef Hörður, verliert ihren Kampf gegen den Krebs kurz vor der Geburt ihres ersten Enkelkindes. Elma kämpft mit ihren Eltern und ihrer Schwester, außerdem beginnt in ihrer Beziehung zu ihrem Kollegen Sævar eine neue Phase.
Was für mich die Serie um Ermittlerin Elma und ihr Team auszeichnet, ist die Beleuchtung menschlicher Abgründe und die emotionale Tiefe. Außerdem sind alle Fälle immer sehr komplex und vielschichtig, die Ermittlungsarbeit ist aber grundlegend solide, das Verhältnis im Team ist kollegial, fast freundschaftlich. Die Charaktere sind liebevoll und gründlich ausgearbeitet, die Landschaft kommt in diesem Band leider überhaupt nicht zum Tragen, die Geschichte spielt so gut wie ausschließlich in Akranes, einer eher gesichtslosen kleinen Stadt, die auch überall sonst auf der Welt sein könnte. Auch die Atmosphäre schafft die Autorin für mich nicht wirklich einzufangen. Dafür passt der Titel aber sehr gut zum Buch: „Verborgen“ ist nämlich sehr viel, vor allem die Wahrheit.
Sonst folgt die Autorin ihrem bewährten Muster: ein Fall – viele Verdächtige. So gut wie jeder könnte der Täter sein, denn gefühlt lügen alle aus irgendwelchen Gründen. Dazu kommen eine komplexe Motiv- und Tätersuche mit vielen falschen Fährten, viel unterschwellige Spannung durch die psychologische Komponente und einige Plot Twists. Auch in „Verborgen“ wird die Geschichte auf zwei Handlungsebenen erzählt, eine spielt in der Vergangenheit und wird in eher kurzen Abschnitten eingewoben, die Hauptgeschichte spielt aber im Jetzt und Hier. Der Autorin gelingt ein schwieriger Balanceakt: im Mittelpunkt der Geschichte stehen praktisch gleichberechtigt sowohl die Ermittler, die Ermittlungen und das Opfer. Ich habe auch den dritten Band um Elma und ihr Team sehr gern gelesen und empfehle das Buch jedem, der eher ruhige, gut konstruierte, psychologisch interessante Krimis mit einem sympathischen Ermitttlerteam, ohne viel Blutvergießen und Fäkalsprache mag. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 22.04.2025
Verlogen / Mörderisches Island Bd.2
Ægisdóttir, Eva Björg

Verlogen / Mörderisches Island Bd.2


ausgezeichnet

„Verlogen“ ist der zweite Teil von Eva Björg Ægisdóttirs Krimi-Reihe „Mörderisches Island“. Anfangs hatte ich meine Probleme, mich in die Geschichte einzufinden, aber als ich mich durch die ersten paar Dutzend Seiten gekämpft hatte, bin ich durch den Rest des Buchs praktisch durchgeflogen. Der Sog des Krimis hat mich gepackt und bis zum Schluss nicht mehr losgelassen.
Aber von vorn.
Sieben Monate lang war die 31jährige Maríanna Þórsdottir verschwunden. Zuerst ging die Polizei davon aus, die alleinerziehende Mutter einer 15jährigen Tochter hätte sich einfach nur abgesetzt, zumal sie schon zweimal für längere Zeit weg war. Seit der Zeit lebt ihre Tochter Hekla zeitweise bei Pflegeeltern, bei denen sie gern dauerhaft bleiben würde. Ihr hat Maríanna einen Zettel mit der Aufschrift „Es tut mir leid“ hinterlassen. Dadurch erhärtete sich schnell die Vermutung, sie habe Su**id begangen. Als aber dann im Lavafeld von Grabrók ihre Leiche gefunden wird und die Rechtsmedizin feststellt, dass die junge Frau ermordet wurde, muss die Polizei die Ermittlungen noch einmal aufnehmen. Die Ermittler verfolgen alte und neue Spuren, verhören Zeugen und Verdächtige, der Fall wird immer komplexer und komplizierter. Die Menschen, die sie befragen, können sich entweder nicht erinnern oder scheinen ganz offensichtlich zu lügen. Elma steht vor der Frage: haben sie damals etwas übersehen oder übersehen sie jetzt etwas ganz Entscheidendes?
Das Buch wird in zwei Handlungssträngen erzählt. Tagebuchartig begleitet die Leserschaft eine anonym bleibende junge Frau durch 13 Jahre ihres Lebens nach der Geburt ihrer Tochter. Man erlebt mit, wie sie das Baby erst ablehnt, sich nach und nach aber an ihr Leben als alleinerziehende Mutter gewöhnt und ihr Kind akzeptieren, sogar lieben lernt. Dieser Erzählstrang trifft kurz vor Schluss auf den Handlungsstrang im Hier und Jetzt, in dem die Ermittlungen (neben einigen privaten Erlebnissen der Protagonisten) im Mittelpunkt stehen. Das Buch ist unblutig, kommt ohne derbe Sprache aus und die Zusammenarbeit der Ermittler ist professionell und kollegial. Das ist bei Krimis eher selten, die bauen meist eher auf Rivalität und Konkurrenz unter Kollegen.
Sowohl die Charaktere als auch die Stimmung und das Setting fand ich sehr gut beschrieben und sorgfältig ausgearbeitet. Elma hat mit ihrer eigenen Familie zu kämpfen, dazu leidet sie immer noch unter dem Suizid ihres Lebensgefährten Davíð. Da sie aber mit ihrem Nachbarn Jakob eine Beziehung eingegangen ist, scheint diese Wunde langsam zu heilen. „Elma war nicht ganz sicher, wie sie und Jakob zueinander standen.“ – insgeheim würde sie nämlich viel lieber ihren Kollegen Svær näher kennenlernen. Gígja, die Frau ihres Vorgesetzte Hörður kämpft gegen Brustkrebs, was auch ihn schwer belastet. Die weiteren Charaktere finde ich ebenfalls sehr dreidimensional gestaltet, alle haben ihre Besonderheiten. Auch die Beschreibung der Landschaft fand ich sehr gelungen, die Sprache von Eva Björg Ægisdóttir finde ich überhaupt sehr angenehm, manchmal fast poetisch.
Spannend kann man das Buch nicht nennen, aber die Autorin hat die psychologische Aspekte hervorragend ausgearbeitet. Dadurch hat die Geschichte auf mich eine Sogwirkung ausgeübt, der ich mich nicht entziehen konnte. Die Dramatik, die hinter allem steckt, die Tragik, die auch zwischen den Zeilen steht, dazu die düstere Atmosphäre – die Kombination machte das Buch für mich zu etwas ganz Besonderem. Für mich kam die Hauptspannung dadurch auf, dass ich mitgerätselt und mich fortlaufend gefragt habe, wer lügt, wieso gelogen wird und was das Motiv hinter allem sein könntem und natürlich die Frage, wer die anonym bleibende Mutter im tagebuchartigen Erzählstrang ist. Wow, lag ich da falsch!
Insgesamt hat mir das Buch viel besser gefallen als der Vorgänger „Verschwiegen“. Natürlich ist noch etwas Luft nach oben, mal sehen, ob sich die Autorin mit dem dritten Teil der Serie („Verborgen“) erneut gesteigert hat. Von mir gibt es fünf Sterne.

Bewertung vom 10.04.2025
Die Jagd nach dem Wunderlicht / Greenwild Bd.1
Thomson, Pari

Die Jagd nach dem Wunderlicht / Greenwild Bd.1


ausgezeichnet

„Greenwild. Die Jagd nach dem Wunderlicht“ von Pari Thomson ist ein Buch, das mich voll und ganz begeistert hat. Es ist zwar für Kinder ab 10 Jahren, mit seiner Fülle an Fantasie kann es aber durchaus auch Erwachsene in seinen Bann ziehen. Im Mittelpunkt stehen Freundschaft, Zusammenhalt und Natur, dazu kommt ein waschechter Krimi. Was will man mehr?
Aber von vorn.
Das Leben der elfjährigen Daisy Disteldorn ist anders als das anderer Kinder. Zusammen mit ihrer verwitweten Mutter Laila ist sie schon viel in der Welt herumgekommen und hat eine ganze Menge erlebt. Ihre Mutter, die aus dem Iran stammt, arbeitet als politische Korrespondentin, zunehmend widmet sie sich aber Umweltthemen. Deshalb schickt ihr Chefredakteur sie an den Amazonas, um über das Verschwinden von Botanisten zu schreiben. Daisy soll für die zwei Wochen ihrer Abwesenheit in ein Mädcheninternat, in dem sie sehr unglücklich ist. Und dann kommt die niederschmetternde Nachricht: auch Daisys Mutter ist nach einem Flugzeugabsturz am Amazonas spurlos verschwunden. Verzweifelt macht Daisy sich auf die Suche. Mithilfe des Pusteblumenwunderlichts landet sie im Malvental in Greenwild, einer Art Parallelwelt mit wunderschöner Botanik. Dort findet sie Freunde und Unterstützung und lernt viel über die Natur. Aber auch diese Welt ist in großer Gefahr. Und Daisy braucht lange, um herauszufinden, dass einiges anders ist, als es scheint.
Ich habe mich direkt ins Malvental verliebt. Ich bin wirklich kein Botanik-Fan, bei mir gehen Pflanzen normalerweise auch umgehend ein, aber die Pflanzen und Gewächse in Greenwild fand ich großartig. Meine Favoriten sind der Speisekammerbaum (von ihm kann man alles bekommen, was auf Bäumen wächst, wenn man ihn höflich darum bittet) und der Milchschokoladenbaum (wenn man ihn mit Milch gießt, wächst auf ihm Schokolade). Auch die Freundschaft und Freundlichkeit, mit der die meisten Bewohner Daisy in ihrer Mitte aufnehmen ging mir ans Herz. Das Zusammenleben wird von Zusammenhalt und Zusammenarbeit bestimmt, ohne das „Wir“ funktioniert überhaupt nichts. Der Versuch, den Spion zu finden und das Tal zu retten, gleicht einem Krimi, die sonst sehr positive Stimmung wird mit dem ansteigenden Spannungsbogen auch zunehmend düster.
Der Schreibstil ist flüssig zu lesen, manches könnte für jüngere Kinder aber ein bisschen anspruchsvoll sein. Pari Thomson beschreibt alles sehr detailreich, fantasie- und liebevoll, die Plot-Twists haben mich meistens überrascht. Die Namen einiger Charaktere sind interessant: Daisy ist das englische Wort für Gänseblümchen, Holly heißt Stechpalme. Die Kommandantin im Malvental heißt Artemis White, Artemis ist die griechische Göttin der Jagd, des Waldes und des Mondes, zu ihr passt die giftige Pflanzen-Hydra, die Hydra stammt ebenfalls aus der griechischen Mythologie. Außerdem steckt möglicherweise einiges von der Autorin selbst in ihrer Protagonistin, auch sie hat iranisch-britische Wurzeln und hat schon in vielen Ländern gelebt.
Es gibt Parallelen zu anderen Geschichten über Nachwuchsmagier und magische Welten. Da gibt es Kämpfe zwischen Gut und Böse, gewitzte Kinder mit einer großen Portion Mut, Neugier und Abenteuerlust, die durch Dick und Dünn zusammenhalten, dabei ist eines von ihnen vorsichtiger als die anderen und die „Stimme der Vernunft“, Tiere spielen eine gewisse Rolle und Pflanzen haben alle besondere Eigenschaften. Alles in allem gefällt mir die Welt von Greenwild am besten. Interessant fand ich, wie die Autorin aktuelle, auch politisch-gesellschaftliche Themen im Buch aufarbeitet. Klima, Naturschutz, sorgsamer Umgang mit Ressourcen bringt sie ebenso unter wie Fremdenfeindlichkeit (Daisy wird von einigen als illegale Einwanderin und potenzielle Gefahr fürs Malvental bezeichnet), Hass und Rachegedanken.
Das Buch ist der erste Teil einer Trilogie, der zweite Teil ist ebenfalls schon erschienen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Daisy und ihren Freunden und vergebe für dieses Buch fünf Sterne.

Bewertung vom 07.04.2025
CHER. Die Autobiografie, Teil eins
Cher

CHER. Die Autobiografie, Teil eins


ausgezeichnet

„Ernsthaft, meine Familie … So was kann sich keiner ausdenken.“ – dieser Satz beschreibt das Buch „CHER. Die Autobiografie, Teil eins“ ganz hervorragend. Auf rund 500 Seiten beschreibt die Ausnahmekünstlerin das, was ich die „Cher-Werdung“ nenne (in Anlehnung an das englische: to become Cher). Alles an ihr und in ihrem Buch schreit „Superlativ“, in ihrem Leben gab es so viele Extreme, dass man sie kaum zählen kann. Das Buch umfasst die Zeit bis zum Anfang der 1980er und zeigt ein unbeschreibliches Auf und Ab. Die vielen Wegbegleiter und unzähligen Menschen, die sie in den ersten Jahrzehnten ihres Lebens traf, hat sie minutiös aufgelistet, dazu Begebenheiten des Zusammentreffens und Anekdoten – das mag manchmal ein bisschen „too much“ sein, aber ich habe das Buch und auch die Einblicke hinter die Kulissen des Show-Business sehr gern gelesen.
Aber von vorn.
Cheryl Sarkisian wurde am 20. Mai 1946 geboren. Zu sagen, dass sie in eine dysfunktionale Familie hineingeboren wurde, wäre untertrieben. „Die Frauen in meiner Familie sind nicht gut darin, sich ihre Männer auszusuchen“, schreibt Cher in ihrer Autobiografie. Ihre Großmutter Lynda wurde schon mit dreizehn Jahren Mutter, entsprechend überfordert war sie, dazu war ihr Mann Roy ein gewalttätiger Trinker. Chers Mutter Jackie Jean zeichnete sich früh durch eine kraftvolle Singstimme aus und sang schon als Fünfjährige in Kneipen und wurde mit knapp 19 Jahren schwanger von ihrem armenischen Ehemann Johnnie Sarkisian, mit dem sie eine on-off-Beziehung führte. Insgesamt war Jackie Jean, (die später als Georgia Holt bekannt wurde), sieben Mal verheiratet, einen ihrer Männer heiratete sie sogar zweimal. Ihre Männer waren so austauschbar, dass sich Cher selbst nicht ein „einen Mann im Haus erinnern konnte“. Cher war als Baby einige Zeit in einem von Nonnen geführten Kinderheim untergebracht, damit Jackie Jean ihren Lebensunterhalt verdienen konnte. „Die Angst vor dem Verlassenwerden hängt zweifelsohne damit zusammen, dass ich als Baby von meiner Mutter getrennt war, und meine innere Dramaqueen gehört heute fest zu meiner komplizierten Persönlichkeit.“ Aber Cher zeigte sowohl Resilienz als auch eine Menge Zielstrebigkeit in ihrem Leben. Nach Problemen in der Schule mit undiagnostizierter Legasthenie, lernte sie mit 16 Jahren Sonny Bono kennen und gemeinsam wurden sie Sonny & Cher. Der Grundstein für ihre „Cher-Werdung“ war gelegt. Von der Backgroundsängerin wurde sie zur Musik-(und Mode-)Ikone. Der Weg war steinig und kurvenreich, finanzielle Probleme, Steuerschulden, ihre Beziehung war mal mehr, mal weniger harmonisch, auch ihr gemeinsames Kind Chastity (heute Chaz), änderte daran wenig. Der Rest ist Geschichte. Scheidung, Sonny & Cher zerbrachen, jeder verklagte irgendwann jeden, Cher datete mal hier, mal da, heiratete Gregg Allman, bekam mit ihm Sohn Elijah, Scheidung, Beziehung mit Gene Simmons – Fortgesetzt wird die Geschichte dann im zweiten Teil der Autobiografie.
Inhaltlich hat das Buch mich überwältigt. Die an ein Buch von Dickens erinnernde Kindheit und die vielen Aufs und Abs waren schwer zu ertragen. Allerdings war die Naivität der jungen Cher manchmal genauso schwer zu ertragen. Beeindruckt hat mich das hohe Maß an Selbstkritik und Selbstreflektion, was die Ausnahmekünstlerin an den Tag legt, ich hatte nicht erwartet, dass Cher so hart mit sich selbst ins Gericht geht und so schonungslos ihre Naivität und ihre eigenen Fehler beschreibt, ohne irgendetwas zu beschönigen (zumindest, soweit ich das beurteilen kann). Vor ihrem Fleiß ziehe ich den Hut, ihr Talent ist unbestritten. Sprachlich fand ich das Buch nicht übermäßig gut, aber flüssig zu lesen. Es ist sehr umgangssprachlich gefärbt, manchmal wirkt es ein bisschen wie „ohne Punkt und Komma“ erzählt. Aber dennoch hat mir das Buch sehr gut gefallen und ich habe es mit großer Begeisterung gelesen. Auf jeden Fall freue ich mich jetzt schon auf den zweiten Teil.
Von mir gibt es für „CHER. Die Autobiografie, Teil eins“ fünf Sterne.

Bewertung vom 31.03.2025
Rilke
Koch, Manfred

Rilke


ausgezeichnet

Rainer Maria Rilkes Geburtstag jährt sich im Dezember 2025 zum 150. Mal. Der Germanist Manfred Koch hat mit „Rilke. Dichter der Angst“ eine neue Biografie des Künstlers veröffentlicht, der als einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts gilt. Meine eigenen Kontakte mit Rilkes Werken sind mehr oder weniger auf „Der Panther“ beschränkt, daher hat das Buch mich ihm nähergebracht. Manfred Koch ist in seiner Biografie ein Lebensporträt Rilkes gelungen, dessen literaturgeschichtlicher Gehalt überwältigend ist. Es ist keine schlichte Aneinanderreihung der Stationen in Rilkes Leben, sondern eine Einordnung der Werke des Dichters in dasselbe, durch akribische Auseinandersetzung und Interpretation. Er beleuchtet sowohl das „Werk im Leben“ als auch das „Leben im Werk““. Ich bin kein Fachmensch für Literatur, dennoch habe ich das Buch mit Begeisterung gelesen. Kochs zahlreiche Interpretationen sind meiner Meinung nach auch für Laien interessant, können einen beim Lesen aber auch ein bisschen „erschlagen“. Ich gestehe, mich hat der Mensch Rainer Maria Rilke auch ein bisschen mehr interessiert.
Aber von vorn.
Rilkes Leben war wohl von Anfang an nicht einfach. Als Zweitgeborener musste er der Mutter die Tochter ersetzen, die 1873 nach nur einer Woche verstorben war, was Rilke zur Aussage „Meine Seele trägt ein Mädchenkleid“ bewog und ihn zu einem geschlechtlich fluiden Menschen machte. Geboren am 4. Dezember 1825 in Prag, wurde er auf die Namen René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke getauft, René heißt „der Wiedergeborene“. Der Vater plante eine Karriere beim Militär, wurde aber Bahnbeamter. Die Mutter stammte aus einer Fabrikantenfamilie und war von der Ehe enttäuscht, sie hätte sich ein vornehmeres Leben erhofft. Und auch der Sohn fühlte sich zu Höherem auserkoren. So änderte er nicht nur seinen Namen zu Rainer Maria Cäsar Rilke, er änderte gleich seine ganze Herkunft von „Sohn eines Bahnbeamten“ zu „entstammt einem uralten Kärntner Adelsgeschlecht“. Da wurden seine schlechte Gesundheit, seine immer wieder unterbrochene Schullaufbahn zur Nebensache. Gedichtet hat er schon zu Schulzeiten, woraufhin sein Onkel Jaroslav, der ihn gern als Nachfolger in seiner Anwaltskanzlei gesehen hätte, ihn als „poetisches Muttersöhnchen“ sah.
Tatsächlich spielte die Mutter in seinem Leben wie in seinem Werk eine wichtige, wiederkehrende Rolle. Ebenso, wie die Angst. Auf 475 Seiten (plus fast 100 Seiten Anhang) beschäftigt sich der Literaturexperte Manfred Koch mit Rilke und seinem Werk. Fakt ist, dass der Dichter wohl ein in sich äußerst widersprüchlicher Mensch war. Er wollte, dass seine Werke bekannt werden – aber nicht er selbst. („Er wollte ein Namenloser, ein Niemand «hinter meinen Liedern» bleiben.“) Über weite Teile seines Lebens war er sich selbst genug, schätzte das Alleinsein sehr. Aber er schätzte auch die Gesellschaft von (meist jüngeren) Frauen, Künstlern und natürlich schätzte er die finanziellen Zuwendungen, die ihm Freunde und Verwandte zuteilwerden ließen, schlicht: er war immer wieder auf der Suche nach Musen und Mäzenen. Er wollte sich ganz auf seine Kunst konzentrieren können und Nebensächlichkeiten wie Broterwerb oder Familienleben sollten ihn dabei nicht stören. Der „geschlechtlich fluide“ Dichter hatte wohl auch einen Schlag beim weiblichen Geschlecht. Das Muster war oft dasselbe: er lernte eine Frau kennen, schrieb ihr. Sie schrieb zurück. Auf die zarte Annäherung folgten vorsichtige Liebesschwüre bis hin zu überbordender Leidenschaft mit zahllosen schwülstigen Liebesbriefen, bis die Damen sich gestresst abwandten („Nach beinahe einem Jahr engsten Zusammenseins musste Lou Salomé ihren ersten längeren Urlaub von Rainer nehmen.“)
Spricht man von Rilke, kommt man um „es ist kompliziert“ nicht herum. Die Lektüre von „Rilke. Dichter der Angst“ war für mich trotz der Komplexität eine Wonne, selbst seine umfangreiche Korrespondenz ist Literatur. Von mir volle Punktzahl.

Bewertung vom 18.03.2025
Kreidemord
Peters, Katharina

Kreidemord


ausgezeichnet

„Kreidemord“ ist der Titel des neuen Rügen-Krimis von Katharina Peters. Der 14. Fall verlangt von Kommissarin Romy Beccare, ihrem Team und ihrem Ehemann Jan Riechter einiges ab, denn er ist sehr persönlich. Die Leserschaft erwartet ein spannender Krimi mit vielen Verdächtigen und mindestens genauso vielen möglichen Motiven.
Aber von vorn.
Im Kreidemuseum in Gummanz auf Rügen wird eine Leiche gefunden. Die Frau kniete vor der Buddelkiste, an diese war sie so gefesselt worden, dass ihr Gesicht tief in der Kreide steckte und sie qualvoll erstickte. Nach dem DNA-Abgleich ist klar, dass es sich bei der Toten um eine ehemalige Polizistin handelt, die unter falschem Namen lebte. Karola Passau hieß eigentlich Julia Schorrer und vor 12 Jahren war gegen sie und drei Kollegen wegen des Korruptionsverdachts ermittelt worden. Das Quartett hat nach Auffassung der Ermittlungsbehörden Aufträge aus der Organisierten Kriminalität angenommen, unter anderem hatten sie Termine von Razzien verraten, dazu bei Identitätsdiebstählen und der Beschaffung von Waffen geholfen und auch Interna zu hochrangingen Beamten weitergegeben. Zwei der damals verdächtigen Beamten sind tot, sie wurden möglicherweise schon vor zwölf Jahren ermordet. Julia Schorrer war davongekommen, jetzt ist sie ebenfalls tot. Pikant an diesem Fall ist, dass sie eine Affäre mit Romy Beccares Mann, Hauptkommissar Jan Riechter hatte, der seinerzeit gegen sie ermittelte. Kurz nachdem Romy und ihr Team mit ihren Ermittlungen beginnen, tauchen Fotos und Videos von Jan und Julia auf. Und diese zeigen die beiden nicht nur in sehr vertrauten, sogar intimen Situationen, sie sind auch neueren Datums. Jan beteuert, dass er Julia seit über zehn Jahren nicht gesehen hat. Will ihm jemand mit Fälschungen schaden? Wenn ja, wer und warum? Und welche Bedeutung hat ihr Tod in der Kreidekiste?
Es ist wie das Treffen mit alten Bekannten, wenn man Katharina Peters‘ Romy Beccare-Krimis liest. Ihr Team ist aus den Vorgänger-Bänden bekannt: Maximilian Breder, Marco Buhl und Finn Maurer bilden zusammen mit der Kommissarin ein Team, auf das Romy sich verlassen kann. Neu ist hingegen Gregor Reymann. Der Hauptkommissar ist Anfang 50 und ihm eilt ein eher schlechter Ruf voraus, was dazu führt, dass Romy manches, was er sagt und vorschlägt, von vornherein ablehnt, obwohl es eigentlich Hand und Fuß hat. Jan Riechter bezeichnet Reymann als „richtigen K**zbrocken“, der „auf der Beliebtheitsskala immer ganz unten“ steht. Die Charaktere sind gründlich ausgearbeitet. Allerdings haderte ich ein wenig mit Romy und ihrem Verhältnis zu Reymann. Natürlich sind auch Polizeibeamt:innen Menschen, aber bei so viel Abneigung scheint die Professionalität zu leiden. Der neue Kollege wirkt zwar äußerst unsympathisch, aber durchaus kompetent. Nach und nach fügt er sich besser ins Team ein und ich vermute, nach einigen Dienststellenwechseln ist er gekommen, um zu bleiben.
Sprachlich ist das Buch wie ich es von der Autorin gewöhnt bin: ruhig, unblutig und flüssig zu lesen. Der Spannungsbogen wird nach ein paar Längen am Anfang gekonnt aufgebaut und die Lösung des Falls beinhaltet einige Überraschungen. Aktuelle Themen wie „Fake News“ und Manipulation von Video- und Bildmaterial werden in dem Fall aufgegriffen. Vertrauen spielt eine große Rolle, denn die Ehe von Romy und Jan wird auf eine harte Probe gestellt und Romy muss auch erst einmal ausloten, was sie von Reymann zu halten hat. Das Lokalkolorit kommt für mich ein bisschen kurz, das Kreidemuseum samt Buddelkiste gibt es jedoch wirklich, das Museum ist in Europa einzigartig. Abgesehen davon könnte die Handlung überall sonst spielen.
Ich habe das Buch gern gelesen und gern mitgerätselt. Man kann es ohne Vorkenntnisse aus den anderen Teilen lesen, ich empfehle aber, wie so oft, diese auch zu lesen, denn vor allem die zwischenmenschlichen Aspekte werden klarer, wenn man die Entwicklung der Charaktere mitverfolgt hat. Von mir eine klare Lese-Empfehlung und fünf Sterne.

Bewertung vom 11.03.2025
Bornholmer Geheimnis (eBook, ePUB)
Peters, Katharina

Bornholmer Geheimnis (eBook, ePUB)


gut

Nach „Bornholmer Finale“ dachte ich eigentlich, dass Katharina Peters die Geschichte ihrer Protagonistin Sarah Pirohl auserzählt hätte. Mit „Bornholmer Geheimnis“ geht die Serie jetzt doch in eine neue Runde. Im fünften Teil ermittelt die BKA-Verbindungsbeamtin allerdings kaum auf der dänischen Insel, vielmehr führt ihr Fall sie nach Norddeutschland. Nachdem ich alle Bücher dieser Serie kenne, hat mich der neueste Teil etwas enttäuscht. Er war zwar unterhaltsam, durch die Vielzahl an Charakteren, Verdächtigen und Motiven ging für mich die Spannung aber ein bisschen verloren.
Aber von vorn.
Sarah Pirohl hat mit beruflichen Problemen zu kämpfen, denn ihre Zukunft als Verbindungsbeamtin des BKA und der dänischen Polizei ist unsicher. Nachdem sie bei ihrem letzten Fall durch zahlreiche Alleingänge alle möglichen Leute verärgert hat, reißen sich die verschiedenen Stellen nicht wirklich um eine Zusammenarbeit mit ihr. Unter anderem wäre der Bornholmer Kommissariatsleiter Mikkel Bentsen froh, sie los zu sein. Als dann aber an einem Strand auf Bornholm die Leiche einer Frau gefunden wird, holt er Sarah aus ihrer Auszeit, denn die tote Monica Seffgen stammt aus Flensburg. Sie hat bei einem Senioren Pflege- und Betreuungsservice gearbeitet, der sich überwiegend an Menschen „die sich das auch leisten können“ richtet. Er bietet also gutbetuchten Kunden bundesweit „Begleitung, Service und Support in allen Lebenslagen – ob gesund, krank oder schlicht einsam“. Dennoch sind die Ermittler überrascht, dass die Tote über ein ansehnliches Vermögen verfügte und einen luxuriösen Lebensstil pflegte. Schnell macht sich ein Verdacht breit: hat sie ihre überwiegend männlichen Kunden ausgenommen wie die buchstäblichen Weihnachtsgänse? Ist der Täter in der Familie eines ihrer Opfer zu finden? Oder im Kollegenkreis? Was wirklich hinter ihrem Wohlstand steckt, übersteigt allerdings dann selbst Sarahs Vorstellungskraft.
Ein Sarah Pirohl-Krimi wäre kein Sarah Pirohl-Krimi, würde hinter einem simpel scheinenden Mord (wenn Morde denn simpel sein können) nicht eine Spionage-Geschichte stecken. Dieses Mal fand ich den Fall allerdings enorm konstruiert und manchmal verschwommen die Grenzen zwischen Gut und Böse für mich ein bisschen zu sehr. Einer der Gründe dafür ist ein alter Bekannten, denn auch in diesem Buch spielt „Krølle“ eine wichtige Rolle. Der undurchsichtige „Spezialermittler“ ist aus den anderen Teilen bekannt und hat eine sehr spezielle Auslegung von Recht. Trotzdem ist er in diesem Buch mein erklärter Lieblings-Charakter. Sarah Pirohl steckt in einer vertrackten Liebesgeschichte, die im Buch einigen Raum einnimmt, zudem fand ich ihre Art zunehmend selbstherrlich und nervig.
Die anderen Charaktere sind zwar gut ausgearbeitet, es sind aber für mich eindeutig zu viele (sowohl auf der Ermittler- als auch auf der Verdächtigen-Seite) und sie sind für mich zu ähnlich und insgesamt finde ich vieles zu stereotyp beschrieben. Alle haben dunkle Geheimnisse, hinter allem uns jedem steckt ein finsterer Plan und plötzlich mischen auch noch Geheimdienste verschiedener Couleur mit. Mit Bornholm hat der Thriller leider auch sehr wenig zu tun, außer dem Mord passiert auf der Insel nichts, aber der Name muss in den Titel, so will es das Gesetz der Serie.
Das Buch ist flüssig zu lesen, unterhaltsam und durch die vielen Charaktere und die zahlreichen verschiedenen Motive ist man als Leser:in zum Mitraten angehalten und man muss sich gut konzentrieren, um die Personen auseinanderhalten zu können und den Faden nicht zu verlieren. Es ist zwar der fünfte Teil der Reihe, man kann ihn aber auch ohne Vorkenntnisse lesen. Das Ermittlerteam um Sarah Pirohl, Staatsanwältin Kathleen Bischoph und Krølle wird zwar seit dem ersten Teil ausgebaut, eventuelle Wissenslücken werden von der Autorin aber ausgefüllt. So weit so gut, trotzdem vergebe ich wegen der konstruierten Geschichte und der fehlenden Spannung für dieses Buch drei Sterne.