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CK
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Raum Stuttgart

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Insgesamt 221 Bewertungen
Bewertung vom 03.09.2025
Schmitt, Caroline

Monstergott


ausgezeichnet

Über Zugehörigkeit und Glauben, Schuld und Selbstbefreiung: 4,5⭐️

Nachdem mir Caroline Schmitts Debütroman „Liebewesen“ sehr gut gefallen hatte, war ich schon sehr gespannt auf ihren neuen Roman mit dem sicher polarisierenden Titel „Monstergott“. Auch der Roman selbst wird gewiss widersprüchliche Gefühle bei den Leser*innen hervorrufen.

Erzählt wird die Geschichte der Geschwister Esther und Ben. Sie wuchsen in einem sehr religiösen Umfeld auf, gehören auch als junge Erwachsene noch derselben konservativen Freikirche an. Der Glauben und die Gemeinde bestimmen seit jeher ihr gesamtes Leben, ihre Freizeitgestaltung, ihren Freundeskreis und ihr soziales Umfeld. In diesem „Safe Space“ ist äußerlich alles hip und modern, der charismatische Pastor trägt teure Sneakers, seine Frau teilt die Highlights der Predigten auf Instagram.
Doch Ben hat ein Problem, ein Geheimnis, von dem noch nicht einmal seine ihm ansonsten sehr nahestehende Schwester weiß. Mit allen Mitteln versucht er, sich aus den „Fängen der Sünde“ zu befreien, doch immer wieder scheitert er daran.
Esther dagegen hat von Klein auf gelernt, dass Frauen fürsorgliche Wesen sind und sich im Leben stets unterordnen muss, so steht es auch in der Bibel geschrieben. Doch sie möchte endlich als eigenständiger Mensch wahrgenommen werden, möchte als Musikerin nicht nur die Gottesdienste gestalten, sondern erfolgreich sein. Als sie ihren früheren Freund Paul wiedersieht, gerät ihre Glaubenswelt ins Wanken und ihr Lebenshunger erwacht.

Die starren Regeln der Glaubensgemeinschaft, der Alltag der Geschwister und ihre Überzeugungen – all das weckte sehr gemischte Gefühle in mir. Ich denke, viele werden solch ein Leben nicht nachvollziehen können. Doch das ist gar nicht nötig, um das Buch gut zu finden.

Caroline Schmitt hat für ihren Roman ein „unbequemes“ Thema gewählt, mit dem eventuell nicht jede*r etwas anfangen kann. Doch auch für nicht-religiöse Menschen ist die Geschichte gut nachfühlbar.

Die Autorin schreibt sehr klug und feinfühlig. Sie schafft es, dass man sich gut in die Gedanken und Gefühle der Protagonist*innen hineinversetzen kann, auch wenn man ihre Ansichten selbst nicht teilt.

Besonders gegen Ende hin überzeugt das Buch durch die gelungene Darstellung der Selbstbefreiung der Geschwister.

„Monstergott“ ist gewiss kein Feel-Good-Roman, keine einfache Lektüre. Es ist ein aufrüttelndes und kluges Buch, das uns einen Blick öffnet in die Strukturen strenger religiöser Gemeinschaften (und auch die Bigotterie, die oft dahinter steht!) - und den Mut bzw. schweren Weg, sich daraus zu lösen.

4,5⭐️

Bewertung vom 03.09.2025
Helfrich, Martina;Schlitt, Christine

Little Hearts - Big Feelings - Mein Gefühle-Journal


ausgezeichnet

Wenn die Gefühle Achterbahn fahren: Tolles Gefühle-Journal für Kinder

„Little Hearts - Big Feelings - Mein Gefühle-Journal“ ist nich einfach eingewöhnliches Tagebuch. Das Gefühle-Journal soll Kindern ab 8 Jahren helfen, ihre Gefühle besser zu verstehen. Meiner Meinung nach kann das auch für größere Kinder hilfreich sein, um zum Beispiel das Gefühlschaos und die Stimmungsschwankungen vor und während der Pubertät besser durchzustehen.

Das Buch ist sehr farbenfroh und liebevoll illustriert und gestaltet. Die Farbgestaltung ist für Mädchen und Jungen gleichermaßen geeignet, das finde ich lobenswert.
Da es ein gebundenes Buch ist (das liebe ich!), ist es hochwertig von der Qualität her & der fest am Buch angebrachte Stift (mit Gummiband) ist natürlich besonders praktisch!

Im ersten Teil des Buchs findet man erstmal Steckbriefe zu den Gefühlen: Freude, Liebe, Wut, Angst, Kummer und Überraschung. Das finde ich sehr gelungen, vor allem, weil die Kinder selbst reflektieren können, wie sie mit den jeweiligen Gefühlen im Allgemeinen umgehen und was ihnen dabei hilft/helfen kann.

Danach folgen Wochen-Seiten für ein halbes Jahr sowie jeweils einen Monats-Rückblick.
Diese Seiten sind sehr schön und abwechslungsreich gestaltet. Dadurch, dass es keine leeren Seiten sind, sondern man vorgefertigte Felder zum Ausfüllen, Schreiben oder Zeichnen nutzen kann, kann hier jeder selbst kreativ werden bzw. auch eher „schreibfaule“ Kinder können gut damit arbeiten.

Wir sind sehr begeistert von diesem tollen „Tagebuch plus“, mit dem Heranwachsende auf spielerische und kreative Art lernen können, ihre Gefühle besser zu verstehen und vielleicht auch anders/besser damit umzugehen und Erlebnisse zu reflektieren.

Das tolle Eintragbuch bekommt eine ganz klare Empfehlung von uns!

Bewertung vom 03.09.2025
Hüttner, Marie

Rocky Winterfeld


ausgezeichnet

Berührende und unterhaltsame Geschichte über Freundschaft und Mut


Der 11jährige Rocky lebt gemeinsam mit seiner alleinerziehenden Mutter zusammen. Er ist traurig, dass ein bester Freund Marek mit seiner Familie nach Polen gezogen ist. Als eines Tages ein rätselhafter Brief in seinem Briefkasten landet, wird sein Leben plötzlich auf den Kopf gestellt. Gemeinsam mit seiner Lehrerin Frau Popov sowie drei weiteren Mitschüler*innen ist er in einem klapprigen VW-Bus auf dem Weg nach Danzig zu einem Wissenschaftswettbewerb – gegen den Willen seiner Mutter. Auf engstem Raum mit den ziemlich schrägen Mitschüler*innen beginnt ein abenteuerlicher Roadtrip.

Die Geschichte wird aus Rockys Perspektive erzählt und ich konnte mich von Anfang an sehr gut in ihn hineinversetzen. Er war mir gleich sympathisch; ein sensibler und logisch denkender Junge, der oft überraschend kluge Worte findet:

"Vielleicht ist das ganze Leben wie eine Welle, denke ich, leicht-schwer-leicht-schwer-leicht-schwer, und wenn es gerade schwer ist, muss man nichts weiter machen als abzuwarten, bis das Leichte wiederkommt, weil es bestimmt kommt, statistisch gesehen."

"Der Fehler ist, dass sich um eine Freundschaftspflanze immer zwei kümmern müssen. Das haben Sie mir nicht gesagt. Denn sonst kann man sie noch so sehr hegen und pflegen. Wenn nur einer die Freundschaftspflanze gießt, wird es ihr nie gut gehen. Nie."

Das Buch ist eine gleichermaßen unterhaltsame wie berührende Geschichte über Freundschaft, das Überwinden von Vorurteilen und Mut.
Die Charaktere fand ich allesamt sehr authentisch und liebenswert dargestellt, jeder mit seinen Ecken und Kanten, was sie noch sympathischer und echter machte.

Meiner Meinung nach ein wirklich sehr empfehlenswertes Kinderbuch für Mädchen und Jungen ab ca. 10 Jahren!

Bewertung vom 31.08.2025
van den Kroonenberg, Mohana

Dodo


ausgezeichnet

Wertvoller, herzerwärmender Jugendroman

Als Dorian sich vor seiner neuen Schulklasse vorstellen soll, ist da wieder sein altes Problem: Weiter als „Do…do…“ kommt er nicht – und hat damit einen neuen Spitznamen, der ihn sehr verletzt.
Selbst sein bester Freund Ramses, der ihm bisher immer zur Seite stand, scheint nicht mehr zu ihm zu stehen. Während Ramses sich mühelos in die neue Klasse einfügt, beschließt Dorian, nie wieder zu sprechen. Selbst als seine Klassenkameraden ihm einen Streich spielen und ihm während eines Besuchs im Naturkundemuseum zu einem riesigen, ausgestopften Vogel führen: einem Dodo.
Dorian schweigt weiter, aber auf unerklärliche Art und Weise spürt er sofort eine tiefe Verbindung zu dem Vogel ...
Dorian schweigt weiter, selbst seine geduldige Mutter kann nichts dagegen tun, dass Dorian sich in die Welt der Fantasie flüchtet. Gemeinsam mit seinem imaginären Freund, dem Dodo, scheint alles viel leichter zu sein.

" Dodo ist noch klein und wiegt fast nichts. Träume wegen nichts."

Besonders das Ende des Buchs fand ich sehr bewegend. Gerade diese Stellen, die das Innenleben von Dorian offenbaren, gehen direkt ins Herz:

"Ich versuchte, mich selbst anzuschauen, als wäre ich jemand anders. Manchmal kann ich das. Dann schaue ich sehr lange in den Spiegel, gerade so lange, bis ich mir von selbst fremd werde. Dann frage ich mich, wie ein anderer mich sehen würde, und ich stelle mir vor, ich würde mir selbst im Zug gegenübersitzen. Wäre das nett?, denke ich dann. Würde ich mich selbst nett finden? Wäre ich gern mit mir befreundet? Ich lächelte mir ein paarmal selbst zu, aber das half nicht, über einem lachenden Mund waren zwei mürrische Augen. Es war nicht mitanzusehen "

"Dann sah ich wieder in den Spiegel. Dieses Kind dort, dachte ich, das seltsame Kind mit dem schlechten Haarschnitt, das spricht nicht mehr. Das sagt schon seit Wochen kein Wort mehr. Dieses Kind hat nur einen einzigen Freund und der ist ein Vogel. Hatte.“

„Dodo“ ist ein sehr wertvolles, tiefgründiges und herzergreifendes Buch über die Kraft der Fantasie, aber auch darüber, wie wichtig gute Freund*innen sind und wie schwer ist ist, zu seinen „Schwächen“ zu stehen.

Ganz klare Leseempfehlung von uns!

Bewertung vom 25.08.2025
Keßler, Verena

Gym


sehr gut

Der Körper als Projekt: Satirische Gesellschaftskritik


Verena Keßlers bisherigen Romane "Eva" und "Die Gespenster von Demmin" hatten mir beide sehr gut gefallen, weshalb ich mich riesig auf "Gym" gefreut hatte.
Schon der Klappentext versprach, dass dieses Buch ganz anders sein würde als die beiden Vorgänger:

Die Protagonistin, deren Körper nicht gerade in Top-Form ist, als sie sich im MEGA GYM bewirbt, bekommt den Job, als sie behauptet, sie habe gerade entbunden. Ihr neuer Chef ist selbsternannter Feminist, die Arbeit entspannt. Erst als alle unbedingt Babyfotos sehen wollen, zieht die unbedacht ausgesprochene Notlüge unangenehme Konsequenzen nach sich.
Während sie einerseits weiterhin ihr Leben als alleinerziehende Mutter glaubhaft vortäuschen muss, fängt die Protagonistin auch an, an ihrem Körper zu arbeiten. Erst auf Rat ihres Chefs hin, dann findet sie aus eigenem Antrieb Gefallen daran:

"Ich hatte alles unter Kontrolle. Mein Körper war zu meinem Projekt geworden, und das Projekt lief hervorragend. "

Als die Bodybuilderin Vick auftaucht, entwickelt sich der Selbstoptimierungszwang jedoch zu einem regelrechten Wahn.

"Auf einmal war es mir vollkommen klar. Was Vick da machte, war, sich selbst zu erschaffen. Ein Selbst, das sich so sehr abhob, so sehr für sich stand, so unumstößlich da war in der Welt, dass jede Meinung dazu, jede Wertung, jedes Begehren einfach daran abprallen musste."

Auch die Schatten ihrer Vergangenheit wirken noch in der Ich-Erzählerin nach. Häppchenweise erfährt man hier mehr davon.
Auf zwei Zeitebenen spitzt sich die Lage zu ....

Verena Keßler schreibt gewohnt gut, es entwickelt sich schnell eine Sogwirkung, der man sich kaum entziehen kann.
Ihr Blick hinter die Kulissen der schönen Oberflächen ist messerscharf und klug. Es bleibt einem das Lachen oft im Hals stecken.
Auf überzogene Art und Weise wird aufgezeigt, wohin übertriebene Selbstoptimierung, Leistungsdruck und Egoismus führen können.

Ein absurd grotesker, gesellschaftskritische Roman. Doch obwohl ich mich von dem Buch gut unterhalten fühlte, war es dennoch leider nicht ganz das erwartete Highlight.
Vor allem das offene Ende hat mich nicht recht begeistern können. Mir hat hier irgendwie noch etwas gefehlt.

Ich vergebe 4⭐️.

Bewertung vom 24.08.2025
June, Joana

Bestie


gut

Der schöne Schein: Über Selbstinszenierung und Anerkennung - 3⭐️

In Joana Junes Debutroman „Bestie“ sucht die Influencerin Anouk eine neue Mitbewohnerin. Hier sieht die eher unscheinbare Delia ihre Chance für einen Neubeginn. Sie erfindet sich neu als Lilly und wird mit dem neuen Namen tatsächlich die Mitbewonerin der Person, die sie schon länger auf Instagram bewundert. Kann auch Lilly damit selbstbewusster werden und ihren Traum erfüllen, Bühnenautorin zu werden?
Anouk wiederum glaubt, Lilly habe einen berühmten Vater (ein Missverständnis, welches Lilly nicht aufklärte) und sie könne ihr nützlich sein. Anouk lässt Lilly also immer mehr an ihrem Leben teilhaben, geht mit ihr Party machen, stellt ihr ihre Freundinnen vor - was in Lilly die Hoffnung auf eine enge Freundschaft mit Anouk verstärkt.

Ich muss sagen, dass ich an diesen Roman vielleicht die falschen Erwartunge hatte. Ich dachte, der Schwerpunkt läge mehr auf der Beziehung zwischen den beiden Frauen - dies hatte mir zumindest der Klappentext so suggeriert.

Ich kann jedoch keine wirklich enge Verbindung zwischen den beiden feststellen.
Lilly ist eine sehr unsichere Person, die verzweifelt nach Bestätigung und Liebe sucht. Anouk sucht nach Anerkennung und Erfolg - es scheint eine Zeitlang, als könnten sich die beiden etwas geben, aber eigentlich zeigt keine von ihnen, was sie wirklich denkt oder fühlt. So ist keine Verbindung möglich.

Das wiederum ist recht gut dargestellt von der Autorin: Die Oberflächlichkeit von Social Media, der „schöne Schein“, nichts ist echt, alles nur Fake - es ist eigentlich nur traurig und bedauernswert!

"Jetzt hängen alle an meinen Lippen, ausnahmslos, ganz unabhängig von Geschlecht, sozialer Stellung und Beziehungsstatus, wenn ich erwähne, mit wem ich meine Freizeit verbringe. Sobald der Name eines bekannten Musikers oder eine gehypten Influencerin fällt, ist das Interesse da. Und bleibt, bis abgetastet wurde, was ich meinem Gegenüber bieten kann. Es ist ein unausgesprochener Handel, bei dem es nie um meine Persönlichkeit geht. Nur um meine Funktion als Tür. Zu anderen Menschen, Reichweite, Sex und letzten Endes immer Geld. Ich hasse das, aber ich kann nichts daran ändern."

Auch dass sich alles nur ums Aussehen, den perfekten Look, den perfekten Körper dreht - ja, so mag es in gewissen (vielen?) Kreisen heutzutage sein, aber mir tun sie alle nur leid:

"Er sagt: 'Ich muss es dir einfach sage: Ich ich habe noch nie eine so natürlich schöne Frau wie dich gesehen.'
Ich muss mich anstrengen, weder zu lachen noch ihn von seiner bedauernswerten Illusion zu befreien: Wie kannst du das ernsthaft glauben? Mein Gesicht kostet mehrere tausend Euro, die ich mir über Jahre hinweg zusammengespart habe. Die Nase: 6500 Euro. Babybotox: 1350 Euro pro Jahr, Lipfiller: 1200 Euro pro Jahr. Meine Haare, meine Haut, meine Wimpern, meine Augenbrauen, meine Nägel: 550 Euro, jeden Monat. Und wenn ich an all die Schichten Make-up denke, die ihn von dem trennen, was von meiner natürlichen Schönheit übrig ist, muss ich die Rechnung aufgeben."

"Ich zahle den monatlichen Beitrag für die Dating-App für Kontakte [...]
Die App spiegelt nur die gesellschaftlichen Muster der realen Welt: Pretty Privilege und ein aufpolierter sozialer Lebenslauf sind entscheidend für meinen Erfolg, mein Aussehen und meine Kontakte wichtiger als alles, was ich geleistet habe."

Die Charaktere waren meiner Meinung nach recht authentisch dargestellt, aber es fehlte ihnen etwas an Tiefe. Lilly war für mich schwer zu fassen als Charakter, was vielleicht auch daran lag, dass sie ja eigentlich Delia ist; ihr wahres Wesen ist nicht richtig greifbar. Hier wäre es gut gewesen, etwas mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren.

"Ich weiß schon jetzt nicht mehr, was ich ohne Social Media wäre. Jedenfalls wäre ich niemand, dem ich ein Like geben würde. Ich wäre nicht Lilly."

Der Schreibstil von Joana June ist sehr flüssig und gut lesbar. Dem Buch an sich fehlte für mich aber etwas an Tiefe. Es werden viele Themen aufgegriffen, vieles blieb mir aber zu oberflächlich.

Mein Fazit: Ein Debütroman, dessen Schreibstil ich weitgehend sehr gut fand, der mich inhaltlich aber nicht ganz abholen konnte.

Bewertung vom 17.08.2025
Zhitia, Jonë

Nadryw Sprache fühlen


ausgezeichnet

Sprache spricht man nicht, Sprache fühlt man: Sehr eindrücklicher Essay


"Nadryw | Sprache fühlen" von Jonë Zhitia ist ein in der SUKULTUR "Schöner Lesen"-Reihe erschienener kurzer, aber sehr eindrücklicher Essay über Sprache/ Mehrsprachigkeit, Krieg und Flucht, Migration und Exil.

"Bilingual aufwachsen bedeutet nicht, zwei Sprachen zu können. Bilingual aufwachsen bedeutet stetiges übersetzen, ein Ballspiel zwischen Sprachen, als ob man einen Gegenstand zwischen den Händen hin und her wirft, um ein Gefühl für ihn zu bekommen."

Die Worte der Autorin treffen mich mitten ins Herz, berühren mich sehr:

"Ich weiß nicht, was es bedeutet, ins Exil zu gehen, ich bin nur in ihm aufgewachsen."

"Ich bin nie ins Exil gegangen, ich bin ins Exil hineingeboren. Mein einziges zu Hause ist die Autobahn zwischen Deutschland und Kosovo."

"Keines dieser Länder bedeutet für mich Heimat, Heimat stoppt mit den Autoreifen. Wenn sie sich nicht mehr drehen, ist Heimat nur noch eine Erinnerung."

Beim Lesen versteht man, dass der Krieg niemals endet, auch nicht für die Generation, die im Exil geboren wurden, den Krieg nicht mehr persönlich erlebt hat. Der Krieg ist allgegenwärtig:

"Der Krieg beginnt an der Türschwelle, er ist kein Ausnahmezustand, er ist das tägliche Brot, erinnert uns an unsere Schuld und daran, niemals denen zu vergeben, die uns unser Zuhause nahmen."

"Der Krieg beginnt an der Türschwelle, aber endet dort auch. Die erste Sprache, die Exilkinder lernen, ist das Schweigen. Sie hat ihre eigenen Vokabeln, die man nicht aufsagt, sondern zu verstummen übt. Eine Grammatik, die sich zäh über Worte legt und ihren Nutzen in der Täuschung findet. Ihre Zeitlichkeit ist eine andere. Sie streckt sich und lässt verschwinden statt Geschehenem seine Worte zuzuordnen. Es ist eine notwendige Sprache für das Überleben, weil niemand etwas von dem Krieg hinter der Türschwelle wissen darf, und im Krieg darf niemand etwas über den Frieden, den du auf der anderen Seite erlebst, erfahren. Schweigen ist das Erinnern an die Schuld zu leben. Das Schweigen ist essentiell, um die Norm nicht zu stören."

Ein Essay, der mich stark beeindruckt hat.

"Andersartigkeit schreibt man sich nicht selbst zu. Andersartigkeit wird zugeschrieben."

Es ist nicht mein erstes & ganz sicher auch nicht mein letztes Büchlein aus dieser tollen Reihe von SUKULTUR. Kurz und knapp, aber immer genau auf den Punkt gebracht. Bisher haben mich alle Veröffentlichungen stark beeindruckt.

Ganz klare Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 16.08.2025
Lühmann, Hannah

Heimat


sehr gut

Erschreckend aktuell: Zwischen Land-Idylle, Tradwifes und Rechtsruck


Jana, zum dritten Mal (nicht wirklich geplant) schwanger, hat gerade ihren Job gekündigt, obwohl sie mit ihrem Mann gerade ein Haus auf dem Land gekauft hat. Gemeinsam mit ihren beiden kleinen Kindern merken sie schnell, dass hier nicht alles so idyllisch ist, wie es scheint. Die AfD ist hier in der Vorstadt sehr beliebt; die Geschlechterrollen sind stereotyp, die Frauen meist Hausfrauen, die Werte eher konservativ.

Allein die charismatische Karolin scheint interessant zu sein. Jana ist sofort fasziniert von Karolin, die mit ihrem Mann und fünf Kindern ein sehr idyllisches, traditionelles Leben als Hausfrau und Mutter führt. Karolin ist sehr beliebt, im Ort genauso wie auf Instagram, wo sie Kochrezepte und Alltägliches aus ihrem perfekt wirkenden Leben postet. Als „Tradwife“ ist sie eigentlich das krasse Gegenteil all dessen, was der sehr modern eingestellten Jana bisher wichtig war - doch Jana kann sich nicht gegen ihre steigende Begeisterung für Karolins Leben wehren ...

Vom Schreibstil her las sich das Buch flüssig, ich war sofort mittendrin im Geschehen.
Janas Figur war sehr authentisch dargestellt. Als Leser*in ist man ihren Gedanken und Erlebnissen sehr nah; man sieht alles nur aus ihrer Sicht. - Was nicht heißt, dass man mit ihrem Verhalten d'accord ist.
Karolins Charakter dagegen konnte ich nicht wirklich nahekommen; sowohl ihre unklare Vergangenheit (vor der Ehe mit Clemens) als auch ihr aktuelles Eheleben (warum war sie manchmal so komisch, was passierte da im Hintergrund?) ließen zu viele Fragen offen.

Die Autorion hat sehr überzeugend ein Szenario geschaffen, anhand dessen man sich erschreckend gut vorstellen kann, wie unsere Gesellschaft aussehen könnte, wenn rechte Kräfte an die Macht kommen.

Gegen Ende hin fand ich den Plot hier nicht mehr ganz so überzeugend und der Schluss hat mir leider überhaupt nicht gefallen.
Grundsätzlich mag ich offene Enden, hier blieb mir aber vieles zu kryptisch und ich bin damit nicht richtig zufrieden.

Dennoch ist „Heimat“ von Hannah Lühmann ein durchaus beachtenswerter Roman mit einem gesellschaftlich sehr aktuellen Thema; intensiv, beklemmend und mit viel Stoff zum Nachdenken.

Trotz einiger Schwächen am Ende vergebe ich hier gerne 4⭐️

Bewertung vom 15.08.2025
Engelmann, Julia

Himmel ohne Ende (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Feinfühliger Coming-of-Age-Roman mit Tiefgang und Herz


Es ist nicht einfach, 15 Jahre alt zu sein, unglücklich verliebt, und mit der besten Freundin läuf es auch nicht gut. Charlie hadert mit ihrem Leben, mit ihren Gefühlen und Gedanken:

"Und als es klingelte, wünschte ich mir zum tausendsten Mal in diesem Schuljahr, ich wäre weg. Oder wenigstens woanders. Und ich dachte mit einem komischen Gefühl daran, dass es allen egal wäre. Das ist keine Rolle spielte, ob ich da war oder weg. Weil ich an niemandem hin. Und niemand an mir."

Und Charlie vermisst ihren Vater, über sein Weggehen ist sie nie ganz hinweggekommen:

"Er hatte ein Loch hinterlassen, ein Loch in der Form meines Vaters, und ich, ich hatte durch das Loch in den Abgrund geschaut, während in mir die Liebe überlief, die jetzt nirgends mehr hin konnte.
Ich war zu jung, um zu wissen, wie das beides ging: Am Abgrund stehen, ohne hineinzufallen. Die Liebe behalten, ohne darin zu ertrinken. Also tat ich, was Mama tat: Ich gab ihm die Schuld und nannte ihn einen Feigling. Aber im Inneren gab ich die Schuld meiner Stille. Denn natürlich war ich es, die ihm zu viel geworden war. Und dann, dann versuchte ich es mit dem Vergessen."

Ihre Mutter hat einen neuen Freund, und so sehr sie ihr eigentlich dieses Glück gönnt, fühlt sie sich noch trauriger und einsamer. Sie zieht sich von allem und allen zurück; lässt niemanden an sich heran, ist oft den Tränen nahe.

Als im neuen Schuljahr Kornelius, genannt Pommes, in ihre Klasse kommt, ist er ein Lichtstrahl am Himmel für sie. Die beiden werden beste Freunde. Kann Charlie doch noch zu der werden, die sie gerne wäre?

"Ich konnte das nie zusammen bringen - wie ich aussah und wie ich mich innen drin fühlte."

"Und da wusste ich es. Dass ich etwas Eigenes aus meinem Leben machen musste. Dass ich es wenigstens versuchen musste. Dass ich lange genug eine Charlie gewesen war, die wartete, bis sie abgeholt wurde, eine Charlie, die andere aus der Ferne beobachtete und die sich das Herz brechen ließ. Dass ich nicht erst irgendwann jemand für jemanden sein wollte, sondern jetzt. Dass ich nicht warten wollte, bis ich an mein Leben rankam, sondern jetzt drankommen wollte. Nicht dass ich glaubte, jeden Moment sterben zu müssen, das nicht. Aber man wusste ja auch nicht, wie lange das Leben noch ging, das ist schon alles."

Julia Engelmann hat mit " Himmel ohne Ende" einen wunderschönen und berührenden Roman geschrieben, der allein schon sprachlich ein Genuss ist.
Die Geschichte von Charlie hat mich von Anfang an in den Bann gezogen, ihre Gedanken und Gefühle konnte ich sehr gut nachempfinden.
Die Charaktere fand ich alle ganz wunderbar getroffen; teils ein wenig skurril und sehr liebenswert - I love it (besonders Charlie, Pommes, Karl, Charlies Oma, und auch Doug).

"'Du bist ja selber komisch, du kannst das also gar nicht beurteilen', sagte er, und mir wurde warm im Bauch, und ich musste daran denken, wie Kathi mich letztes Jahr komisch genannt hatte und dass es aus Karls Mund ganz anders klang - wie etwas, das man nie wieder nicht sein wollte."

Der Roman liest sich wie ein Jugendroman, habe aber so viel Tiefgang, dass ich ihn unbedingt Erwachsenen genaus ans Herz legen möchte.

"'Wir müssen uns was wünschen', sagte ich. 'auf drei!'
Dann schloss ich die Augen. Und wünschte mir alles."

Ganz klare Leseempfehlung von mir!

Bewertung vom 11.08.2025
van der Wouden, Yael

In ihrem Haus


ausgezeichnet

Vergangenheit und Versöhnung: Fesselnder, atmosphärischer Debüroman 4,5⭐️


„Das Haus hielt den Atem an.“

Die junge Isabel lebt 1961 alleine im Haus ihrer verstorbenen Mutter in der niederländischen Provinz. Ihr Leben verläuft in sehr ruhigen, geordneten Bahnen. Außer zu ihrem Dienstmädchen und ihren beiden Brüdern, die längst nicht mehr im Haus wohnen, hat sie kaum Kontakte. Als ihr Bruder Louis eines Tages seine Freundin Eva ungefragt bei ihr einquartiert, gerät Isabels monotone Routine gehörig durcheinander. Sie fühlt sich mit dem unerwünschten Gast nicht mehr wohl in ihrem Haus, es verschwinden Dinge und Isabel wird immer mißtrauischer Eva gegenüber, von der sie nicht so recht weiß, was sie von ihr halten soll. Zwischen den beiden ungleichen Frauen entwickelt sich unerwartet eine starke Anziehung, die Isabels festgefügtes Weltbild erschüttert. Und nicht nur das, auch die Ereignisse der Vergangenheit werden wieder aufgewühlt ...

"Was war schon Glück? Was war das Glück wert, wenn es einen Krater hinterließ, der dreimal so groß war? Was wussten die Menschen, die von Glück sprachen, schon davon, was es bedeutete, jede Nacht von zischenden Flugzeugen und vom verzweifelten Hämmern an Türen und Fenstern zu träumen und morgens mit einer Hand an der Kehle aufzuwachen - der eigenen, an der eigenen Kehle. Was wussten sie davon, tagelang kein Wort zu sprechen, nie berührt worden zu sein, was wussten sie von Verlangen, vom Nichtspüren, und Nichts-Spüren. Was wussten sie schon von einem Haus, dass immer nur leerer wurde. Von sterbenden Tieren und sterbenden Vätern und sterbenden Müttern und von Schusslöchern in Baumstämmen unter eingeritzten Herzen mit den Namen von Menschen, die fehlten, und der aufgeplatzten Lippe eines Bruders. Und was wussten ... was könnte sie schon wissen von ..."

„In ihre Haus“ ist ein Roman, der mich wirklich positiv überrascht hat!
Yael van der Wouden schreibt sehr fesselnd, atmosphärisch und auch sinnlich.

"Darauf lief es hinaus: Einen kurzen, gierigen Moment lang hatte sie gelernt, was Begehren bedeutet. In diesen wenigen Tagen hatte sie seine Gestalt und seinen Geschmack erfahren. Leichtfertig hatte sie sich geöffnet, doch ihr Begehren blieb unerwidert."

Die Atmosphäre der 60erJahre, die Stimmung der Nachkriegszeit, ist atmosphärisch sehr gut eingefangen, die Charaktere authentisch. Isabel wirkt sehr distanziert, vor allem zu Beginn, dennoch ist man von Anfang an aus ihrer Sicht in der Geschichte drin. Eva ist eine deutlich vielschichtigere Figur, erst mit der Zeit entpuppt sich ihr Geheimnis.

"Ist das nicht seltsam? Niemand in diesem Land scheint irgendetwas zu wissen: Niemand weiß, wo sie wohnen, wer was getan hat, wer wohin verschwunden ist. Alles ein großes Geheimnis. Wissen ist flüchtig. Menschen sind einfach in der Nacht verschwunden und ..."

Zum Inhalt möchte ich nicht mehr verraten, um nicht zu spoilern.
Ich kann nur meine ausdrückliche Leseempfehlung für diesen fesselnden, intensiven Debütroman geben! Hat mich sehr begeistert!