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Moe

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 16.02.2024
Der Wortschatz
Gugger, Rebecca

Der Wortschatz


ausgezeichnet

Eine spritzige Hommage an die Kraft der Worte!

Oscar kann sich glücklich schätzen, er macht eine Entdeckung, die ihm zuerst unbedeutend und langweilt vorkommt, sich aber als eine der prächtigsten und mächtigsten überhaupt herausstellt: Ein riesengroßer Wortschatz.
Und was man damit alles machen kann: Er lässt Dinge ihre Form und Farbe verändern, man kann ihnen damit sehr viel oder ganz wenig Bedeutung zumessen. Worte vermögen die Welt zu verändern, weshalb man behutsam mit ihnen umgehen und sie weise wählen sollte, dieses kleine Plädoyer steckt zudem, richtigerweise, zwischen den Zeilen.
Im Vordergrund steht aber doch ihre positive Wirkung und es macht wahnsinnigen Spaß, den Wortideen zu folgen, die von fantasievollen, spritzigen Bildern begleitet werden. Hier steckt also nicht nur eine wichtige Botschaft, sondern ganz viel Liebe zwischen den Buchdeckeln und beides vermag mit Sicherheit anzustecken.
Ein humorvolles und spaßiges Bilderbuch über die Macht der die Fantasie beflügelnden Worte!

Bewertung vom 06.05.2023
Als wir Vögel waren
Banwo, Ayanna Lloyd

Als wir Vögel waren


ausgezeichnet

"Wenn die letzte Feder verschwunden und dein Frauenkörper ausgewachsen ist, denk dran, dass du im Innern ein Vogel bleibst. Du hast das Fliegen nicht vergessen. Denn was ist mehr Frau, als den Tod und das Leben, Himmel und Erde gleichzeitig in sich zu bergen, zu fliegen und zugleich an die Erde gebunden zu sein?" (S. 231)

"Als wir Vögel waren" ist im englischsprachigen Raum der Literaturbegeisterten schon jetzt ein Hit, insbesondere in den Kreisen, die ich verfolge.
Geschichten vor ungewöhnlicher Kulisse, zumindest ungewöhnlich gemessen an den Orten, die für gewöhnlich die euphorischen Leserherzen höher schlagen lassen, Elemente des magischen Realismus, fundamentale Fragen um Leben und Tod, Emanzipation von festgesetzten (Familien-) Systemen. Alle Elemente in einen Topf gegeben und es kommt ein mir wohlmundender Cocktail dabei heraus. So dachte ich.

Am Geschmack lässt sich hier auch nichts aussetzen. Doch ist es ein Geschmack, der mich wehmütig an das Erlebte zurückdenken lässt, mich wieder nach Trinidad versetzt, Szenen auf dem Friedhof hell erleuchten lässt? Vermutlich eher nicht. Es war solide, ich hatte ein angenehme Zeit, ein paar Szenen, die mich, zumindest während des Lesens begeisterten, allerdings schon jetzt, eine Woche danach, verblasst sind. Für mich hat weder sprachlich, dramaturgisch oder thematisch etwas herausgestochen. Kein besonderer Kniff, der mich über das Gelesene sinnieren ließ, keine Elemente, die mich innerlich jubeln ließen.
Was aber nicht heißt, dass Buch nicht lesenswert wäre. Gerade Lesende, die sich an den magischen Realismus wagen möchten, ohne sich gleich in völlig abstruse Szenarien zu begeben, sei dieses Buch empfohlen.
Denn emanzipatorische Geschichte der Figuren und die dysfunktionalen Familien stehen hier im eigentlich Fokus, das Matriarchat, zumindest auf der einen Seite, ist ein zentrales Thema.

Bewertung vom 02.04.2023
Die spürst du nicht
Glattauer, Daniel

Die spürst du nicht


sehr gut

Ein messerscharfes Portrait unserer aktuellen (Meinungs-) Kultur

Daniel Glattauer ist wieder da. War er je wirklich weg? Vermutlich nicht, aber die Zeiten zwischen seinen Büchern sind, egal wie lang sie ausfallen, zu lang. „Die spürst du nicht“ ist also definitiv nichts, was auf die Zeit zwischen den literarischen Erzeugnissen Glattauers zutrifft.

Worauf es zutrifft: Menschen, die inmitten einer Gesellschaft – unserer Gesellschaft leben und trotzdem unsichtbar sind. Weil sie es sein wollen, weil unsere Gesellschaft es so will, weil sie es sein müssen.

„Die spürst du nicht“ erzählt eine dieser Geschichten. Die Geschichte eines jungen Mädchens, das seiner Heimat entrissen wurde, um sich in einer völlig fremden österreichischen Welt zu arrangieren. Und durch einen Unfall in der Obhut einer angesehenen österreichischen Familie ums Leben kommt.

Das Buch ist ein Kommentar auf Internet-Kommentare (und, typisch Glattauer, wahnsinnig dialog-authentisch), ein Spiegel unserer Gesellschaft und der Medienlandschaft und ein gut gemeinter Hinterntritt an all jene, die wegschauen, einfach, weil es einfacher und bequemer ist. Und jene, die sich ein Urteil bilden, weil das sehr viel leichter ist, als sich mit Fakten und anderen Perspektiven auseinanderzusetzen.

Leichtigkeit, Wortgefechte und die alles bereichernde Prise Humor wird man auch hier finden, allerdings nicht so einnehmend, wie in anderen Werken des Autors. Der Tod des Mädchen verändert das Leben der Figuren schlagartig und die beobachtenden Menschen haben alle eine Meinung, die anhand von Internetkommentaren widergegeben werden. Jeder nutzt seine Strategien, um das Geschehene zu verarbeiten oder zu verdrängen; wie auch immer ausgeartete Flucht, das unbedingte Verlangen nach irgendeiner Art von Gerechtigkeit und Wiedergutmachung, Ignoranz, Beschönigung, Trauer, Wut, Depression.

Glattauer schreibt wieder zwar kurzweilig und sehr (!) unterhaltsam, aber inhaltsschwer. Er würzt das Geschriebene mit Humor, ohne es darin einzubetten und zeichnet ein messerscharfes Portrait unserer modernen Gesellschaft und (Internet-) Kultur. Mit sehr viel Spannung und Freude habe ich auch sein aktuelles Werk genossen und bin gespannt auf alles, was da noch kommen mag!

Bewertung vom 07.11.2022
Das Gesetz der Natur
Winter, Solomonica de

Das Gesetz der Natur


weniger gut

Die Autorin, die schon im zarten Alter von 16 ihr erstes Buch schrieb, welches hier zu Lande durchaus einige Fans für sich gewinnen konnte und Aufmerksamkeit generierte, wartet nun, einige Jahre später, mit einer neuen Geschichte auf.

Vergleicht man den Erstling, der auch mich zur gegebenen Zeit sehr gut erhalten konnte und mich die Autorin im Blick behalten ließ, mit „Das Gesetz der Natur“, so ergeben sich, retrospektiv betrachtet, kaum Parallelen. Während „Die Geschichte von Blue“ damals mit einem Stil und einer Wendung überzeugen konnte und mir auf Grund dessen im Gedächtnis blieb, erscheint das aktuelle Werk hingegen sehr blass und eher mühselig in seiner breit erzählten Form. Der Stil sehr aufgesetzt und gewollt, repetitiv, die vermeintlich melodische Sprache eher deplatziert. Kein Thema scheint hier so recht aus erzählt und zu Ende gedacht worden zu sein.

Worauf ich mich bei dem Werk gefreut habe: Eine apokalyptische oder dystopische Geschichte mit einer Außenseiter-Figur, die sich auf Grund ihres schweren Erbes behaupten muss und sich zu emanzipieren lernt. Was ich bekommen habe: Eine Geschichte, dessen Szenario kurz umrissen wird, dessen System fast gar nicht erklärt wird und irgendwann sowieso keine Rolle mehr spielt. Eine Hauptfigur, die durchaus ausgegrenzt wird, sich aber irgendwann (und so einige Male fragte ich mich trotz der Länge der Geschichte (!): Wann ist das bitte passiert?) zur strahlenden (Anti-?) Heldin erhebt und von den Menschen, die sie ob ihrer Andersartigkeit verachten, auf eine Empore gehoben wird. Warum? Nun, so ganz klar wird das nicht, denn unsere Hauptfigur bleibt trotz aller Voraussetzungen, die ihr gegeben sind, unglaublich blass. Die Autorin versucht ihr anhand von Dialogen eine Unnahbarkeit zu verschaffen, die sie eher sehr belanglos und langweilig erscheinen lassen, eindimensional, träge. Und bei aller Kritik muss ich noch hinzufügen, dass die Dialoge an sich bereits eine große Schwäche waren, da sie sehr uninspiriert wirkten, die Autorin sich innerhalb dieser sehr, sehr, sehr gerne wiederholt hat und teilweise nur Phrasen aneinandergereiht, ohne relevante Inhalte hinzuzufügen oder der Geschichte anderweitig voranzuhelfen.

Insgesamt war es also ein sehr mühevolles Vorankommen innerhalb der Geschichte, denn hier gab es kaum etwas, das einen bleibenden Eindruck hinterlassen konnte oder interessant oder gut ausgearbeitet war. Der Stil las sich mühselig, Sprachbilder waren wenig gut eingebettet und die Hauptfigur erschien in ihrem Verhalten nicht konsequent.

Leider fällt es mir schwer, einem Buch, das von den Lesenden so viel Zeit für sich einfordert, aber kaum etwas zurückgibt, etwas Positives abzugewinnen und so muss ich diese Leseerfahrung für mich doch insgesamt als negativ bewerten.

Bewertung vom 17.07.2022
Ich bin Joy / Joy Applebloom Bd.1
Valentine, Jenny

Ich bin Joy / Joy Applebloom Bd.1


sehr gut

Hier kommt Joy; Alltagsmagierin, Optimistin und Frohnatur.

So spritzig bunt, wie das Cover vermuten lässt, geht es auch in der Geschichte zu. Denn Joy ist eine liebenswerte Figur, die in ihren Menschen immer das Gute sieht, bis sie auf ihre Endgegnerin trifft: Die neue Lehrerin in ihrer neuen Heimat, die sich ganz offenbar an Joys quirligem Charakter stört.
Denn unsere 9-jährige Hauptfigur hat ihr Leben lang mit ihrer Familie eine Art Nomadenleben geführt. Sie und ihre Schwester wurden zuhause unterrichtet und haben sich ihr Wissen zudem praktisch angeeignet, Länder bereist, Kulturen kennengelernt, die Welt erfahren. Ein Leben, das die Familie sehr genossen hat, bis der englische Großvater, den Joy bisher nur einmal gesehen hat, bedürftig wird und die Familie beschließt, sich ihm anzunehmen. Das Nomadenleben verurteilt er, weshalb nur noch England als neuer Lebensmittelpunkt für die Familie bleibt.

Für Joy und ihre große Schwester fühlt sich die neue Beständigkeit zuerst wie ein Gefängnis an. Joy, die zudem durch ihren fröhlichen und ausgeglichenen Charakter glänzt, stößt im starren Schulsystem an ihre Grenzen, wird traurig, wütend und verzweifelt an der Konformität, der Eingesperrtheit und Trennung von der Natur. Bis sich ganz plötzlich jemand zu erkennen gibt, der ihr sehr wohlgesonnen zu sein scheint und mit dem Joy die Alltagsmagie Schicht für Schicht wieder zu Tage führt.

Der Name unserer Titelfigur ist hier Programm, denn es macht Spaß, die Geschichte zu erfahren und Joy in die Eingliederung in ein System zu begleiten, in das sie nicht so recht zu passen scheint. Und ganz glücklich mag auch die Autorin mit dem Schulsystem nicht zu sein und vorallem nicht mit der Behandlung von Kindern, die in dieses, aus welchen Gründen auch immer, nicht passen. Denn eine leichte Kritik lässt sich hier wahrnehmen.
Ein weiteres Thema, das sich gen Ende präsentiert, ist der Umweltschutz, aber die Naturverbundenheit selbst ist hier das gesamte Buch über spürbar, das ergibt sich allein schon aus der Tatsache, dass unsere Heldin die zahlreichen Facetten der Natur während ihres Aufwachsens hautnah miterlebt und lieben und schätzen gelernt hat.

Da es sich hierbei um den ersten Teil einer Trilogie handelt, lohnt es sich sicherlich, Joy weiterhin zu begleiten, denn sie ist nicht nur liebevoll und ungewollt humorvoll, man kann für sich auch die ein oder andere Lehre aus der Geschichte ziehen. Und es kann sicher nicht schaden, ein bisschen JOY in sein Leben zu lassen.

Bewertung vom 16.07.2022
Der Mann, der vom Himmel fiel
Tevis, Walter

Der Mann, der vom Himmel fiel


gut

"Der Mann, der vom Himmel fiel" oder eigentlich "Das androgyne antheanische Wesen, das ganz bewusst und geplant auf die Erde kommt" ist ein weiterer Roman des bereits verstorbenen Autoren Walter Tevis, der hier zu Lande durch die Verfilmung seines Romans "Das Damengambit" Aufmerksamkeit auf sein Werk generieren konnte.
Zeichnet sich allerdings das Damengambit durch ein großes Charakterisierungstalent aus, so ist hier, vermutlich aufgrund der Kürze der Geschichte, sehr viel weniger davon zu spüren.

Die Menschheit durch die Augen anderer Wesen, seien es irdische oder solche, denen die Erde fremd ist, gespiegelt zu sehen, bietet immer viel Potenzial für spannende philosophische und durchaus kritische Ansätze, aber ebenso wertschätzende Perspektiven. Kein unbeliebtes Motiv in der Literatur, vor allem in der Science Fiction. Die Herangehensweisen sind so vielfältig wie die Aussagen selbst; ob humorvoll, offen kritisch und dramatisch oder ja, auch durchaus kitschig, wenn der Wert des Menschen an der Fähigkeit zu lieben bemessen wird.

Wo reiht sich nun Tevis 1963 erschiener Roman ein? Für mich wurde die Geschichte durchzogen von einer ständig aufkochenden Melancholie, die sich auch in der Aussage gut widerspiegelt.
Denn Thomas Jerome Newton, das antheanische Wesen (denn obwohl er große Ähnlichkeiten mit einem Menschen hat, ist er in seiner Physiologie und seiner Intelligenz den Menschen zum größten Teil um einiges überlegen, was ihm auch durchaus bewusst ist), kommt mit einer Mission auf die Erde, mit hoffnungsvollem Blick. Doch diese Einstellung bröckelt immer weiter, je länger er zwischen den Menschen lebt. Und obwohl er alle menschlichen "Schwächen" wie Begehren und Impulsivität oder einfach eine ausgeprägte Emotionalität an sich im Grunde nicht hat, deprimiert ihn die Situation derart, dass er dem Alkohol verfällt (hier eine Parallele zum Damengambit).

Und auch wenn unsere Hauptfigur sich irgendwann mit Blick auf die Menschheit eingestehen muss "die Tiere ringsum, die ihre eigene Umwelt verschmutzten und ihren eigenen Mist fraßen, letzten Endes glücklicher und weiser waren als er." (S. 133), gelingt es ihm nie, dieses vermeintliche Glück selber zu erfahren.

Letztendlich geht es also um jemanden, der zutiefst einsam und unverstanden in einer Gesellschaft lebt, in der er für sich genommen nicht akzeptiert wird. In der er nur überleben kann, indem er brilliert und außerordentliche Dinge tut, die zu außerordentlichem Reichtum führen, welcher ihm Macht verleiht und ihn über die Menschen stellt, sodass sie ihn nicht angreifen können.

Für ein anspruchsvolles Science-Fiction Buch reicht dies aber, aus meiner Sicht, heutzutage nicht mehr aus, um einen Wiedererkennungswert zu haben. Und für eine Charakter- oder Gesellschaftsstudie fehlt es vielleicht an Umfang. Im zeitlichen Kontext betrachtet mag der Roman wichtig gewesen sein, aber aus heutiger Perspektive kann ich darin leider wenig erhellendes finden.

Bewertung vom 06.06.2022
Tod im Trödelladen
Grue, Anna

Tod im Trödelladen


weniger gut

Beworben wird das Buch als „Hygge“-Krimi. Ziemlich ironisch, wenn man bedenkt, wofür das Schlagwort, das mittlerweile auch hierzulande gemütliche und heimelige Stimmung verbreiten soll, steht; eine gesellige (oder nicht gesellige, je nach Vorliebe) Atmosphäre voller Harmonie, stimmig gezaubertem Ambiente und einer Auszeit von der Realität. Von Mord und anderen Verbrechen war mir hierzu bislang nichts bekannt, aber man lernt nie aus. Ob sich das Buch zudem als Krimi klassifizieren sollte, sei mal dahingestellt, aber nun gut.

Damit, dass der Verlag unsere Protagonistin als „neue Miss Marple“ vorstellt, tut er sich sicherlich auch keinen Gefallen. Denn was sie auszeichnet ist, dass sie eine herzliche und mütterliche, aber vor allem unfassbar dicke (90 unglaubliche Kilo verteilen sich hier auf 1,63 m und damit reiht sie sich in die Riga der anderen, Zitat „Fettsäcke“ ein) und, Überraschung, keine Kostverächterin und sehr leidenschaftliche Esserin, die jedem Normalgewichtigen Kalorien in den Rachen schieben möchte. Dafür zeichnet sie, und auch eine Traube anderer Figuren, eine große Portion Sensationslüsternheit aus. Hyggeliger wird’s nicht.

Die Parallelen zu Miss Marple lassen sich wohl am ehesten darin wiederfinden, dass beide ein entsprechendes Alter haben, weiblich sind und gerne ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Mit dem Unterschied, dass Anne-Maj ihre Nase vor allem in allerlei Köstlichkeiten steckt und das Land Dänemark mit ihrer exorbitant ausgearteten Figur belästigt, was die Autorin nicht müde wird, uns klarzumachen.

Abgesehen davon habe wir eine ganz nette, aber wirklich nicht herausragend beschriebene Dynamik zwischen den Figuren im Trödelladen, einen Mordfall, der kaum nach einem aussieht und Beziehungsgeschichten, die mal mehr, mal weniger interessant sind. Wer sich an allen oben genannten Punkten nicht stört und keine wahnsinnig ausgeklügelte Ermittlerarbeit erwartet, sondern einfach Menschen beim Dorfleben beobachten möchte, sei hiermit vielleicht gut beraten.

Bewertung vom 27.05.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Geschichte in den schillerndsten Farben

„Es gibt eine große, wenig beachtete Geschichte hinter dem Überleben der ältesten Klassiker: Es ist die Geschichte all der anonymen Menschen, die es schafften, aus Leidenschaft ein zerbrechliches Vermächtnis von Wörtern zu bewahren, es ist die Geschichte ihrer sagenhaften Treue zu diesen Büchern.“ (S. 606)

Sachbücher sind leider oft als trocken und langweilig verschrien, solange man nicht selber gerade für das besprochene Thema brennt. Dass das anders geht, dürfte die Autorin mit diesem Werk allen Skeptikern beweisen. Man stelle sich einen Vortrag eines Dozierenden vor, der nicht nur ganz viel Expertise besitzt, sondern vor allem für das von ihm präsentierte Thema brennt – und diese Leidenschaft mit noch mehr Leidenschaft den Zuhörenden zu vermitteln vermag. Wir alle kennen Filme, in denen ein (neuer) Lehrer das Klassenzimmer betritt, die schlafenden Schüler mit monumentalen Reden und ungewöhnlichen Lehrmethoden wachrüttelt und diese sich plötzlich für etwas zu interessieren beginnen, das sie vorher stöhnend über sich ergehen ließen. Nun, Vallejos Methoden sind nicht allzu ungewöhnlich (sie lässt Geschichte lebendig werden und spinnt immer wieder einen Bogen zur Gegenwart), aber dieser oft portraitierte Erweckungsmoment kam mir beim Lesen in den Sinn.

Zugegeben, ich war schon vorher sehr an Geschichte, Literatur und der Entstehungsgeschichte von Büchern und Sprachen interessiert. Dennoch möchte ich behaupten, dass die Autorin es vermag, fesselnd zu erzählen, ohne in irgendeiner Art und Weise reißerisch zu sein. Sie erbaut vor unseren Augen die Bibliothek von Alexandria, nur um sie wieder in Trümmern zerfallen zu lassen. Sie verdeutlicht, dass das obsessive Sammeln von Gegenständen kein Phänomen unserer Neuzeit ist, sondern dass Bibliotheken ohne Besessenheit vermutlich niemals entstanden wären. Sie führt uns durch zahlreiche Kriege, denen das Medium Buch ausgesetzt war. Und daraus resultierend: Sie illustriert, wieso das Buch unsterblich ist. Und das, obwohl aufgrund von Massenproduktionen jährlich unfassbar viele Bücher im Millionenbereich vernichtet werden (bezogen auf Spanien, aber mit Deutschland wird es sich ähnlich verhalten).

Wer sich also gern auf eine Reise ins alte Alexandria begeben mag, Büchermenschen beim heutzutage sehr verschrienen Hamstern begleiten möchte und eine höchst interessante Autorin kennenlernen möchte, die mit Inbrunst, Leidenschaft und sehr viel Expertise erzählt, der ist mit diesem Buch sicher sehr gut beraten.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


gut

„Es ging nicht darum zu wissen, wer Mélanie Claux war. Es ging darum zu wissen, was diese Epoche tolerierte, ermutigte und glorifizierte. Und darum zuzugeben, dass Leute, die sich, wie sie selbst, in dieser Epoche nicht mehr ohne Erstaunen oder Empörung bewegen konnten, unangepasst, gestrig, ja reaktionäre waren.“ (S. 202)

Die Kinder sind Könige. Sie sind schützenswert, kostbar und eine Quelle der Inspiration. So ließe sich der Titel interpretieren. Aber Kinder sind auch bewundernswert. Sie stecken an mit ihrer Unbedarftheit, ihrer Neugier und ihrer Lebensfreude. Ja sie verleiten geradezu dazu, dass man sie auf ein Podest hebt und zur Schau stellt. Sich mit ihnen schmückt. Wir leben in einer Zeit, in der nichts einfacher ist, als sein Privatleben in die Öffentlichkeit zu tragen. Ganz gleich wie uninteressant, wie wenig talentiert man ist. Es bedarf einer Kamera und einer Internetverbindung, um sich zu inszenieren und auf sich aufmerksam zu machen. Beides also Hürden, die so gut wie jeder hier lebende lächerlich leicht überwinden kann.
Was aber, wenn das Privatleben, das es doch eigentlich unbedingt zu schützen gilt, von einem anderen Raum überlagert wird, in welchen wir uns freiwillig und bereitwillig begeben und die Grenzen immer weiter verschwimmen?
Das könnte sich leicht wie der Aufhänger einer Dystopie lesen, wäre es nicht längst Alltag.

Delphine de Vigan nimmt sich in ihrem 2022 erschienen Werk eben dieser Grenzverschiebung an und geht sehr unversöhnlich, nicht aber gerade subtil unserer Epoche an den Kragen.
Sie beschreibt dabei ein Extremszenario. Eines, in dem Kinder instrumentalisiert und als Werbepüppchen versklavt werden. Bereitwillig von den eigenen Eltern, die ihr Leben auf Plattformen dokumentieren und mit den größtmöglich effektiven Mitteln an eine kaufwillige Zuschauerschaft tragen. Das Wort „Extremszenario“ bezieht sich hier allerdings nicht auf eine ausgeklügelte und überspitzte Idee der Autorin, sondern einfach auf eine Erhöhung unseres tatsächlichen digitalen Alltags, denn es gibt diese Eltern, die ihre vermeintlich heile Familie dem Internet präsentieren, ihre Kinder permanent filmen und suggerieren, sie wuchsen in einer rosaroten Zuckerwattenwelt des Konsum auf, seien überglücklich damit und ließen sich gerne immerzu beim Aufwachsen begleiten, zuschauen und bewerten.

Dabei zeichnet die Autrin hier zwei Gegenentwürfe. Auf der einen Seite Mélanie, die sich ein Videotagebuchimperium mit ihrer Familie erschaffen hat und deren Tochter verschwindet.
Auf der anderen Seite ist da Clara, eine Ermittlerin, die zurückgezogen und allein lebt, ihre Privatsphäre schätzt und das Internet eher zu professionellen Zwecken nutzt, sich nicht in dieser Welt zerstreut und versucht, das vermisste Mädchen ausfindig zu machen. Sie blickt empört auf dieses Leben des Scheins, das sich die Filmerfamilie geschaffen hat und dekonstruiert die Blase und die Illusion, in der all das Kreierte stattfindet.

Anfangs hatte ich das Gefühl, Clara, die Ermittlerin, repräsentiere den Leser, der auf dieses eigentlich nicht tolerierbare Konstrukt blickt, aber dadurch, dass sie sich freiwillig fast völlig abseits der digitalen Pfade bewegt und wir mittlerweile in einer Welt leben, die vieles hinnehmt und nach Sensation und Zerstreuung giert, ist sie vermutlich eher der mit erhobenem Zeigefinger in der Ecke stehende Pädagoge, der uns den Spiegel vorhält, aber auch sehr unversöhnlich dabei ist. Sie ist vermutlich eine der wenigen in unserem Zeitalter. Vielleicht ist sie Delphine de Vigan selber, die absolut übersättigt und reizüberflutet ist und voller Empörung auf unsere Gesellschaft blickt. Ganz und gar nicht zu Unrecht allerdings.

„Seit einiger Zeit hat sie das Gefühl, in unglaublicher Zurückgezogenheit in einem weltabgewandten Winkel zu leben, am Rande dieser mit künstlicher Liebe und echtem Hass gesättigten angeblichen sozialen Netze, am Rande dieses mit Selfies und lapidaren Sätzen vollgestopften World Wide Web der Illusionen,

Bewertung vom 23.02.2022
Tell
Schmidt, Joachim B.

Tell


ausgezeichnet

Nachdem mich Joachim B. Schmidt in seinem Vorgänger „Kallmann“ bereits vorallem mit der Inszenierung seiner Charaktere und rauen, aber atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen begeistern konnte, war ich gespannt, was noch so aus seiner Feder tropfen würde.

Thematisch begibt er sich in ganz andere Gefilde. Aufgrund des Vorgängers hatte ich ihn als talentierten Krimiautoren abgespeichert, aber mit „Tell“ beweist er, dass das viel zu kurz gedacht ist, denn es scheint, dass nicht der Kriminalfall an sich sein Steckenpferd ist, sondern die Figuren, die, aus welchen Gründen auch immer, darin verwickelt sind. Statt in Island sind wir jetzt in der Schweiz. Nicht in der Gegenwart, sondern grob im Mittelalter. Also sollte man die beiden Werke nicht miteinander vergleichen? Ich denke schon. Denn die anfangs beschriebene Charakterzeichnung ist brillant und das Motiv ähnlich. Denn es geht um Recht. Und auch hier überlässt es der Autor dem Leser, in den Graustufen dazwischen zu wandeln. Er heroisiert nicht, wertet aber auch nicht ab.

Die Saga um Wilhelm Tell war mir ein Begriff, aber alles was ich darunter abgespeichert hatte waren die Stichworte Schiller, Pfeil und Bogen und Apfel, der von irgendjemandes Kopf geschossen wird. Nun habe ich, auch nachdem ich das Buch schon zwei Wochen ausgelesen habe, immernoch ein sehr plastisches Bild zu dieser Saga im Kopf. Ein Vater, der sich schikaniert und gedemütigt und seine Familie in Gefahr sieht, kämpft um so etwas wie Gerechtigkeit. Definitiv Stoff für eine (Helden-) Saga, obwohl ich noch einmal betonen möchte, dass ich Tell nicht als Held inszeniert sehe.

Was hier sicherlich zu sehr viel Spannung beiträgt, ist die Kürze der Kapitel. Was allerdings heutzutage in Thrillern zu einem beliebten Stilmittel verkommen ist, nutzt der Autor aber meiner Meinung nach nicht inflationär und nicht um des baren Schockes willen und um die Leser an sein Werk zu fesseln. Liest man sich die Anpreisungen für das Buch durch, so könnte man durchaus den Eindruck bekommen, es handele sich um einen Actionthriller, der sich von Cliffhanger zu Cliffhanger hangelt. So habe ich das Buch absolut nicht empfunden. Es ist sicherlich kurzweilig und eine Spannung zieht sich durch die Seiten, die sich zum Ende hin verdichtet. Aber der Autor verliert nie seine Figuren aus den Augen und baut Szenen ein, die reine Schockelemente darstellen oder das Tempo anziehen. Hätte er noch mehr mit seinen Charakteren gespielt und die Familie Tell noch tiefer beleuchtet, wäre ich dankbar gewesen. Was sicherlich für die Fähigkeit von Herrn Schmidt spricht, seinen Protagonisten Leben einzuhauchen. Und sie mit Eigenheiten, Witz und Charme zu versehen.

Insgesamt habe ich auch dieses Buch des Autoren unglaublich gerne gelesen. Und dass sowohl die Figuren, als auch die Szenerie mir weiterhin lebhaft im Gedächtnis sind, spricht denke ich dafür, dass der Autor mal wieder ein substanziell gutes Buch geschrieben hat.