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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Anne Z.
Wohnort: 
Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 27 Bewertungen
Bewertung vom 14.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


sehr gut

Wie sehr bin ich damit beschäftigt, mich so zu inszenieren, wie ich von der Außenwelt wahrgenommen werden möchte, während ich mir eigentlich am meisten wünsche, dass jemand sieht, wie es mir wirklich geht? Und was macht das mit mir? Entsprechen meine Erinnerungen der Wahrheit oder habe ich auch sie so umgeschrieben, dass sie in die Geschichte passen, die ich mir selbst erzähle? Was tue ich mir selbst an, in der Hoffnung, eine bestimmte Reaktion bei einer anderen Person damit auszulösen? Diese Fragen behandelt Hilde Rod-Larsen in ihrem Roman „Diamantnächte“ auf eine ausgesprochen ruhige, intelligente und einfühlsame Art.

Als der Protagonistin Agnete die Haare auszufallen beginnen, erkennt sie, dass es an der Zeit ist, sich mit einem traumatischen Erlebnis aus ihrer Studienzeit auseinanderzusetzen. Ihre Bewältigungsstrategie ist es, darüber zu schreiben. Dabei reflektiert sie nicht nur das Erlebte und ihre eigenen Gedanken und Gefühle, sondern auch den Schreibprozess selbst. An welchem Punkt soll sie die Erzählung beginnen? Welche Perspektive soll sie wählen? Im Laufe des Romans probiert sie verschiedene Erzählweisen aus, um herauszufinden, auf welche Weise sie am wahrhaftigsten von den Ereignissen berichten kann. Larsen gelingt es auf diese Weise, die wichtigsten Fragestellungen des Texts auch anhand des Schreibstils selbst aufzugreifen.

Der Roman setzt sich aus Erinnerungen von Agnete von ihrer Kindheit bis in die Gegenwart in Form von kurzen Kapiteln, manche wenige Seiten, andere nur wenige Zeilen lang, zusammen. Dabei geht Agnete nicht chronologisch vor, sondern springt zwischen ihren verschiedenen Lebensphasen hin und her und reflektiert über die Ereignisse und ihr Verhalten. Obwohl dabei stets die Selbstwahrnehmung sowie die Wahrhaftigkeit der eigenen Erinnerungen hinterfragt werden, vermittelt die Erzählweise ein Gefühl radikaler Ehrlichkeit. Agnete legt ihre Ängste und Wünsche offen dar und analysiert ihre eigenen Verhaltensmuster. Trotz des eher nüchternen Tonfalls habe ich mich der Protagonistin beim Lesen sehr nahe gefühlt und immer wieder darüber nachgedacht, inwiefern ich selbst versuche, eine ganz bestimmte Version von mir für die anderen zu kreieren und so ihr Verhalten mir gegenüber zu beeinflussen.

Hilde Rod-Larsens „Diamantnächte“ ist ein beeindruckendes Buch, in dem eigentlich nicht viel passiert und das sich schnell lesen lässt, aber noch lange in mir nachhallt und mich auch Tage nach der Lektüre noch dazu bringt, meine eigenen Erinnerungen und Verhaltensweisen anderen gegenüber zu hinterfragen.

Bewertung vom 24.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


sehr gut

Sprachbilder machen Gefühle erlebbar

Was macht es mit einer Person, wenn sie von klein auf immer nur bemüht ist, dafür zu sorgen, dass es allen anderen gut geht, und dabei keinerlei Rücksicht auf die eigenen Bedürfnisse und Gefühle nimmt? Diese Frage steht im Mittelpunkt von Sina Scherzants literarischem Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“.

Der Roman ist in drei Teile aufgeteilt, die sich nicht nur in ihrer Länge deutlich voneinander unterscheiden. Im ersten Teil, der beinahe drei Viertel des gesamten Textes ausmacht, schildert Erzählerin Katha das Jahr, in dem sie mit ihrer frisch getrennten Mutter und ihrer kleinen Schwester nach Dortmund gezogen ist und dort Angelica kennenlernt, eine Frau, deren Auftreten sie sehr beeindruckt und deren Ansichten und Lebenseinstellung Kathas Leben tief prägen. Anfangs erschienen mir einige Formulierungen noch etwas zu künstlich und bemüht, doch mit der Zeit fand ich immer besser in die Handlung hinein.

Die Sprache passt insgesamt sehr gut zur Lebenswelt einer Vierzehn- bzw. Fünfzehnjährigen: Manchmal ein bisschen flapsig, eine ordentliche Portion Sarkasmus und eine erfrischende Direktheit. Obwohl die Protagonistin ein viel zu großes Päckchen zu tragen hat, hat es mir oft auch viel Spaß gemacht, die Welt durch ihre Teenageraugen zu betrachten. Manchmal haben mich ihre Beobachtungen und Urteile über andere Menschen zum Lachen gemacht, weil ich einfach ganz genau nachempfinden konnte, was sie meint, z. B. wenn sie denkt: „Ich war mir sicher, dass die beiden so eine gekreppte Bettwäsche hatten, die sich ganz eklig auf der Haut anfühlte und die nur alte Menschen besaßen.“

Scherzant malt treffende Bilder, die die Lesenden spüren lassen, was im Inneren der Erzählerin vorgeht. Dies gilt ganz besonders für den zweiten Teil, der aus einzelnen collagenartig zusammengesetzten kurzen Abschnitten mit jeweils eigenen Überschriften besteht. Hier hat auch der wunderschöne Romantitel seinen Ursprung. Der Autorin gelingt es, auf beeindruckende und unfassbar poetische Weise das Gefühlschaos einer Jugendlichen nach dem tragischen Verlust eines geliebten Menschen darzustellen. Die teilweise recht wirren Episoden vermitteln einen mitreißenden Eindruck davon, wie Katha die Welt nach dem Tod einer Person wahrnimmt, die ihr unglaublich viel bedeutet hat. Für mich war dies der stärkste und faszinierendste Teil des Romans.

Der dritte und letzte Teil wirkt eher wie eine Art verlängerter Epilog, in dem sich der Kreis schließt und eine sehr reflektierte erwachsene Katha über die Vergangenheit, die Gesellschaft und die Überwindung des Verhaltensmusters, anderen nicht zur Last fallen zu wollen, nachdenkt. Dieser letzte Abschnitt war mir für meinen Geschmack etwas zu rund, die Erzählstimme ein bisschen zu weise geworden.

Insgesamt hat mir Sina Scherzants Debütroman „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“, an dem nicht nur der Titel außergewöhnlich ist, sehr gut gefallen, auch wenn manchmal ein bisschen zu sehr mit dem Holzhammer auf „dieses verdammte Patriarchat“ eingedroschen und es als Erklärung für alles Mögliche Schlechte herangezogen wird. Ich würde mich freuen, in Zukunft mehr von dieser Autorin und ihren fantasievollen Sprachbildern zu lesen.

Bewertung vom 26.03.2023
Keine gute Geschichte
Roy, Lisa

Keine gute Geschichte


sehr gut

Keine gute Geschichte, aber verdammt gut erzählt

Die Grundlage des Plots kennt man aus so vielen anderen Romanen und Filmen, dass es sich schon um ein Klischee handelt: Jemand hat es eigentlich geschafft, verliert jedoch plötzlich alles wieder und kehrt an einem Tiefpunkt seines Lebens in die alte Heimat zurück, um zwischen Kindheitstraumata und Familiengeheimnissen wieder zu sich selbst zu finden. Was die von Lisa Roy in „Keine gute Geschichte“ entworfene Variante dieses Szenarios so besonders macht, sind die Protagonistin, der Handlungsort und vor allem der Schreibstil der Autorin: Direkt, zynisch und voll bitterbösem Humor lässt sie die Erzählerin das Aufwachsen in einem Essener Brennpunktviertel und die Zustände dort ein Jahrzehnt später schildern. Arielle betrachtet alles schonungslos, beschönigt nichts und nimmt kein Blatt vor den Mund.

Auf den ersten Seiten bleibt das Lachen aufgrund der drastischen Sprache vielleicht noch kurz im Hals stecken, aber wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat, dass die Erzählerin keinerlei Wert auf auch nur ansatzweise diskriminierungsfreie Sprache legt, macht es ungemein viel Spaß, die Welt und insbesondere das Ruhrgebiet aus ihrer Perspektive zu betrachten. Vor dem geistigen Auge schießen Dönerbuden, Wettbüros und Goldankaufstellen empor und man kann sich die Bewohner des Viertels lebhaft vorstellen. So unsympathisch sie teilweise auch auftreten mögen – die Protagonistin eingeschlossen – fühlt man doch mit ihnen mit und entwickelt Verständnis für sie und ihre Situation.

Neben der Darstellung der prekären Lebensumstände in Katernberg und wie die dort lebenden Menschen damit umgehen und wie sich ihre Leben entwickeln, sind auch die Einblicke in Arielles Karriereweg als Social Media Managerin und die Beschreibung ihrer Depression sehr gelungen. Die Gefühlszustände der Protagonistin werden ebenso erlebbar gemacht wie der Handlungsort und die Lächerlichkeit von Arielles Branche wird gnadenlos vorgeführt.

Während mich der Schreibstil, die Figuren und die Darstellung des Lebens in einem sogenannten Brennpunkt im Ruhrgebiet restlos begeistert haben, hat auf der Plotebene für mich jedoch nicht alles funktioniert. Natürlich braucht Arielle einen Grund, an den verhassten Ort ihrer Kindheit zurückzukehren, doch davon, dass ihre Großmutter sich gerade den Oberschenkelhals gebrochen haben soll, merkt man im Laufe der Handlung eigentlich gar nicht wirklich etwas. Auch die verschwundenen Mädchen, mit denen die Geschichte einsetzt, geraten immer mehr zur Nebensache, die sich dann auch einfach mal so nebenher aufklärt. Ich hatte das Gefühl, dass diese Elemente nur eingeflochten wurden, um die Protagonistin nach Katernberg zu bringen und ihr Zusammentreffen mit den übrigen Figuren zu begründen. Was genau mit den Mädchen passiert ist, blieb mir zu vage und die Verstrickung bestimmter Personen in die Angelegenheit, die ich aus Spoilergründen nicht näher erläutern kann, erschien mir doch recht unglaubwürdig. An dieser Stelle setzt Roy einen zu viel drauf, die verschwundene Mutter hätte gereicht, die verschwundenen Mädchen hätte es aus meiner Sicht nicht gebraucht.

Auch wenn der Plot für mich nicht immer ganz stimmig war, war Lisa Roys Roman „Keine gute Geschichte“ für mich ein großes Lesevergnügen und wird es bestimmt auch für all jene sein, die sich nicht an einer Extraportion Zynismus und einer flapsigen Wortwahl stören und Lust auf einen absolut zeitgemäßen deutschen Roman haben, der abseits von Berlin spielt.

Bewertung vom 18.12.2022
Liebewesen
Schmitt, Caroline

Liebewesen


sehr gut

Irgendwie absurd und doch fast schmerzhaft real

Die Beziehung zwischen Lio und Max ist wie ein Autounfall: Irgendwie ist die ganze Zeit klar, dass es zu unschönen Szenen kommen wird, und trotzdem kann man nicht weggucken bzw. „Liebewesen“ von Caroline Schmitt aus der Hand legen. Dass in diesem rasanten Debütroman laut Klappentext eine ungewollte Schwangerschaft im Mittelpunkt stehen soll, ist etwas irreführend. Auf den positiven Schwangerschaftstest muss man bis kurz nach der Hälfte warten. Das Zitat, mit dem das Buch eröffnet und beworben wird, das aber erst auf Seite 207 von 221 vorkommt, hat bei mir völlig falsche Vorstellungen vom thematischen Schwerpunkt und dem Plot des Buches geweckt.

Letztendlich war es aber halb so schlimm, dass ich das Buch mit einer ganz anderen Erwartung an den Inhalt aufgeschlagen habe. „Liebewesen“ war dennoch ein Leseerlebnis, das mich begeistert hat. Die Autorin porträtiert die Beziehung der mit Traumata aus ihrer Kindheit und Jugend kämpfenden Biologin Lio mit dem depressiven Radiomoderator Max beginnend beim Kennenlernen auf Tinder. Beide haben ihr Päckchen zu tragen und es stellt sich die Frage, ob sie einander aufrichten oder sich gegenseitig in den Abgrund reißen werden. Im Laufe der Handlung erleben sie allerhand absurde Situationen wie ein Date in der Badewanne und Nacktbaden mit der potenziellen Schwiegermutter. Schmitt gelingt es mit ihrer alltagsnahen Sprache, die verrücktesten Begebenheiten lebensecht rüberzubringen. Auch ihre Charaktere, die obwohl noch recht jung schon derart vom Leben geschädigt sind, wirken gerade durch ihre Probleme, Ängste und manchmal auch etwas unsympathischen Eigenschaften dreidimensional und wie aus dem Leben gegriffen.

Die Entwicklung der Beziehung der beiden zu verfolgen, ist spannend und unterhaltsam, und ich konnte mich in viele Situationen gut hineinversetzen und insbesondere mit Lio mitfühlen. Dann wiederum gibt es aber auch beklemmende Passagen, in denen Lio sich daran erinnert, was sie in ihrer Kindheit und Jugend durchgemacht hat, oder in denen sie mit ihrem eigenen Körper einfach nicht zurechtkommt. Diese Momente werden ebenfalls ehrlich und ungeschönt dargestellt. Insgesamt hätte ich mir aber doch gewünscht, dass etwas näher auf Lios Aufwachsen und ihre spätere Beziehung zu ihren Eltern eingegangen worden wäre.

Nichtsdestotrotz ist „Liebewesen“ von Caroline Schmitt ein Roman, den man sich nicht nur wegen des großartigen Covers ins Regal stellen sollte, sondern auch weil die Autorin Beziehungsdynamiken schonungslos, realistisch und mitreißend am Beispiel zutiefst menschlicher Charaktere darstellt.

Bewertung vom 02.10.2022
Ein Alman feiert selten allein
Atmaca, Aylin

Ein Alman feiert selten allein


sehr gut

Für alle, die Birkenstock tragen und Geschenkpapier bügeln. Und alle, die darüber den Kopf schütteln
Ende September: In den Supermarktregalen tauchen die ersten Lebkuchen auf und die Familie Neubauer beginnt, die Weihnachtsfeiertage bis ins kleinste Detail zu planen. Vom Tagesablauf bis hin zum pro Person unter dem Weihnachtsbaum für Geschenke benötigen Platz wird alles haargenau in mehreren Listen festgehalten. Bei der türkischstämmigen Ich-Erzählerin Elif verwandelt sich die Vorfreude auf ihr erstes Weihnachten mit der Familie ihres deutschen Freundes langsam aber sicher in Panik.

Mit viel Humor schildert die sympathische Protagonistin, wie sie die Vorbereitungen und die Weihnachtsfeiertage bei Neubauers erlebt, hebt dabei aber auch deutlich hervor, welche Verhaltensweisen ihrer potenziellen Schwiegerfamilie ihr gegenüber unangemessen sind und von welchen oft unbedachten oder lustig gemeinten Aussagen sie sich verletzt oder angegriffen fühlt. Auf diese Weise regt die Aylin Atmaca nicht nur dazu an, Weihnachtstraditionen zu hinterfragen, sondern vor allem auch unseren Umgang mit unseren Mitmenschen, insbesondere, wenn diese einen anderen kulturellen Hintergrund haben als wir selbst.

Die Autorin spielt mit kulturellen Klischees, ohne dass es abgedroschen oder klamaukig wirkt, und lässt ihre Ich-Erzählerin immer wieder zu der Feststellung kommen, dass ihre eigene Familie und die ihres Partners in einiger Hinsicht doch eigentlich gar nicht so unterschiedlich ticken. So blickt Elif mit einer Mischung aus Faszination, Unverständnis und Wut, aber auch mit ganz viel Liebe auf ihr erstes richtiges deutsches Weihnachtsfest und die Mitglieder der Familie Neubauer.

Als weihnachtsfeiernder Alman erkennt man beim Lesen die ein oder andere typische Weihnachtssituation wieder, auch wenn manches doch ein wenig überspitzt wirkt. Ich konnte definitiv einiges auf der „Wie viel Alman steckt in dir?“-Checkliste im Buchumschlag für mich selbst abhaken. Aber auch in viele Situationen und Fettnäpfchen rund um das erste Kennenlernen der zukünftigen Schwiegereltern konnte ich mich sofort einfühlen und wurde teilweise an eigene Erfahrungen erinnert. Der locker-lustige, zeitgemäße, sehr ehrlich wirkende Schreibstil hat dafür gesorgt, dass ich den Roman schnell und mit Freude gelesen und mich der Erzählerin von Anfang an nahe gefühlt habe.

„Ein Alman feiert selten allein“ von Aylin Atamaca ist ein Buch für alle, deren Familien an Weihnachten ein kleines bisschen verrücktspielen. Für alle, die in einer Familien-WhatsApp-Gruppe gefangen sind. Für alle, die zum ersten Mal die Feiertage mit der potenziellen Schwiegerfamilie verbringen. Für alle, die gerne mal wieder herzlich lachen wollen. Und für alle Almans, die bereit sind, einen selbstironischen Blick auf die eigenen Familientraditionen zu werfen und diese einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.

Bewertung vom 24.09.2022
Gespräche auf dem Meeresgrund
Leeb, Root

Gespräche auf dem Meeresgrund


weniger gut

Ungelenker Trialog mit wenig Tiefgang

Treffen sich ein philosophischer Geflüchteter, ein egozentrischer Kreuzfahrtpassagier und eine wütende Feministin auf dem Grund des Mittelmeers. Alle drei sind tot. Und während sie nun im Wasser verwesen, haben sie nichts mehr zu tun, als zu denken, sich zu unterhalten und unfreiwillig ihre plötzlich auftauchenden Erinnerungen miteinander zu teilen. Ab und zu schwimmen nackte Nereiden vorbei und lästern kichernd über die dummen Menschen, man hört Poseidon über die Menschheit schimpfen oder das Meer erbebt, weil die Lebenden wahrscheinlich mal wieder Atombomben testen oder zerstörerische Fischereimethoden praktizieren.

Root Leeb thematisiert in ihrem Roman „Gespräche auf dem Meeresgrund“ unter anderem Rassismus, Flucht, Sexismus, Kolonialismus und Umweltzerstörung. Leider bieten knapp 150 Seiten nicht genug Platz, um diesen wichtigen Themen die nötige Tiefe zu geben. Stattdessen werden sie von den drei Toten sehr plakativ und holzhammerig besprochen, sodass unterm Strich wenig mehr gesagt wird, als dass einige Menschen ihre Macht missbrauchen, um andere Menschen und die Natur auszubeuten, man sich aber auch in andere hineinversetzen und niemanden vorschnell verurteilen sollte. Ich hätte mir gewünscht, dass die Autorin in die Verhandlung derart komplexer und vielschichtiger Themen ebenso viele Nuancen eingebracht hätte wie in die Farbverläufe des wunderschönen Covers und der einzelne Buchseiten schmückenden Illustrationen.

Dabei hatte ihre Idee, drei so unterschiedliche Protagonist:innen, die aber dennoch auf gewissen Weise miteinander verknüpft sind, das gleiches Ende finden zu lassen und sie an einem Ort zusammenzubringen, an dem sie einander ohne Fluchtmöglichkeit ausgesetzt und gezwungen sind, das Leid der anderen ertragen, so viel Potenzial. Auch die Vorgeschichten aller drei Figuren sind hochinteressant, werden aber leider lediglich in einzelnen Erinnerungsfetzen kurz angerissen, sodass die drei klischeehafte Abziehbilder bleiben: Der auf der Flucht Ertrunkene, der den anderen das Totsein erklärt, zwischen ihnen schlichtet und ab und zu Weisheiten einwirft, der weiße Mann, der nur an sich selbst denkt und sich unausstehlich gibt und die Soziologin, die in jedem zweiten Satz „euch Männer“ und „uns Frauen“ einander gegenüberstellt.

Die Sprache der Protagonist:innen sowie der gelegentlich erscheinenden mythologischen Figuren wirkte auf mich oft ungelenk und aufgesetzt. Man merkt stets, dass es sich um Sätze handelt, die erfundenen Personen von einer Autorin in den Mund gelegt wurden. Da dieser kurze Roman hauptsächlich aus dem Trialog der Toten besteht, wurde ich somit nicht wirklich mit auf den Meeresgrund gezogen und konnte mich nicht in der Handlung treiben lassen, sondern war eher von der künstlichen, übererklärenden Sprechweise genervt, die wenig Raum für eigene Interpretationen und philosophische Spekulationen lässt.

„Gespräche auf dem Meeresgrund“ von Root Leeb ist zwar äußerst ansprechend gestaltet, hat für mich persönlich aber leider nicht genug Tiefgang, obwohl es auf dem Grund des Meeres spielt. Die Autorin hat das große Potenzial, das in der Anlage ihres Romans steckt, aus meiner Sicht leider bei Weitem nicht ausgeschöpft.

Bewertung vom 19.08.2022
Die Stimme meiner Schwester
Vieira Junior, Itamar

Die Stimme meiner Schwester


sehr gut

Stimmen, die gehört werden müssen

1888 schaffte Brasilien als letztes westliches Land offiziell die Sklaverei ab, die Ausbeutung der Schwarzen Bevölkerung endete damit jedoch lange noch nicht. Viele ehemalige Sklav:innen und ihre Nachkommen schufteten jahrzehntelang weiterhin Tag für Tag hart auf den Plantagen ihrer ehemaligen Herr:innen und erhielten als Lohn lediglich die Erlaubnis, auf dem Land zu leben und sich von ihm zu ernähren. So auch die beiden Protagonistinnen aus Itamar Vieira Juniors Roman "Die Stimme meiner Schwester", die mit ihrer Familie auf einer Fazenda leben.

Hinter dem farbenfroh gestalteten Cover verbirgt sich eine erschütternde Schilderung der harten Lebensumstände der Nachkommen ehemaliger Sklav:innen. Dass der Autor das Thema bereits in seiner Doktorarbeit behandelte, lässt darauf schließen, dass er sich stark an den realen Bedingungen, die Mitte des 20. Jahrhunderts auf brasilianischen Plantagen herrschten, orientiert hat. Die Arbeiter:innen in seinem Roman werden immer wieder von Dürren und Überschwemmungen heimgesucht, die ihre kräftezehrende Arbeit zunichte machen, während ihnen ein Großteil dessen, was sie anbauen, von Verwaltern und Plantagenbesitzern genommen wird. Dennoch sind die Familien dankbar für die Möglichkeit, sich ein unbeständiges Lehmhaus bauen und die Erde darum herum bewirtschaften zu dürfen. Erst die Generation der Schwestern Bibiana und Belonísia beginnt allmählich, sich gegen die Unterdrückung aufzulehnen, alte Strukturen aufzubrechen und nach Freiheit und Selbstbestimmung zu streben.

Itamar Vieira Junior zeigt dies am Beispiel zweier starker weiblicher Hauptfiguren, die zwar unterschiedliche Vorstellungen davon haben, wie sie leben möchten, aber durch einen tragischen Unfall in ihrer Kindheit eng miteinander verbunden sind. Bereits der Einstieg in den Roman ist schonungslos, denn der Autor beschreibt ohne Umschweife das Ereignis, bei dem eine der Schwestern ihre Zunge verliert, sodass die andere ihr im Laufe ihres Lebens ihre Stimme leihen muss. Der Roman ist in drei Abschnitte gegliedert, die aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden. Beeindruckend ist, dass es Vieira Junior trotz Ich-Perspektive gelingt, im gesamten ersten Abschnitt offen zu lassen, welche der beiden Schwestern noch über eine Zunge verfügt. Während die Erzählstimmen der beiden Schwestern in den ersten beiden Abschnitten in sich stimmig erscheinen und eine große Nähe zu den beiden Protagonistinnen entstehen lassen, wirkt die Erzählstimme des dritten Abschnitts meiner Ansicht nach weniger kohärent und durch Wechsel zwischen erster, zweiter und dritter Person sowie große Zeitsprünge distanzierter und etwas weniger flüssig als der übrige Roman.

Insgesamt umfasst die Handlung ca. 30 Jahre, in denen sich nach und nach Veränderungen auf der Fazenda bemerkbar machen. Diese betreffen zum einen das Aufbegehren der Jüngeren gegenüber den Besitzern und Verwaltern, zum anderen aber auch den Verlust alter Traditionen und Geschichten, die eine große Rolle im Roman einnehmen. Bibiana und Belonísia müssen sich nicht nur gegen die ausbeuterischen Strukturen der weißen Kolonisator:innen auflehnen, sondern auch gegen die Rolle ankämpfen, die ihre eigene Gemeinschaft für sie als Frauen vorgesehen hat, um sich eine Zukunft nach ihren Vorstellungen gestalten zu können.

"Die Stimme meiner Schwester" erzählt auf ebenso mitreißende wie poetische Weise Geschichten voller Brutalität und Grausamkeit, aber auch Geschichten des Zaubers und des Zusammenhalts, und ermöglicht einen spannenden Einblick in die harten Lebensbedingungen Schwarzer Plantagenarbeiter:innen in Brasilien Mitte des 20. Jahrhunderts.

Bewertung vom 13.08.2022
unfairbindlich? #tinderblues #und #dategestöber
Adams, Claudine

unfairbindlich? #tinderblues #und #dategestöber


sehr gut

#authentisch #unterhaltsam #informativ

Claudine Adams nimmt die Lesenden in „unfairbindlich? #tinderblues #und #dategestoeber“ mit in die Welt des Onlinedatings. Wir erleben gemeinsam mit der Singlemama Mitte 40, die unter dem Namen „Emma Peel“ auf verschiedenen Datingplattformen unterwegs ist, unterschiedlichste Begegnungen mit Menschen im digitalen Raum, die mal zu Sex, mal zu Tränen, mal zu Lachanfällen und manchmal einfach nur zum Kopfschütteln über die Menschheit führen.

„unfairbindlich?“ ist dabei weit mehr als eine Anekdotensammlung über schräge Begebenheiten im Netz. Claudine Adams erzählt nicht nur auf unterhaltsame Weise von skurrilen Erfahrungen, die sie auf Datingplattformen gemacht hat, sondern reflektiert auch unter anderem über den allgemeinen Umgang mit dem Thema Sexualität, darüber, wie Menschen online miteinander umgehen, und was Onlineprofile über die dahintersteckenden Persönlichkeiten verraten. Zwischendurch präsentiert sie Sammlungen witzigkreativer bis hin zu peinlichkitschiger Nicknames und der absurdesten Profiltexte, die ihr auf den Plattformen begegnet sind. Nicht zuletzt gibt die Autorin tiefe Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt, indem sie offen über sexuelle Fantasien und Begegnungen, aber auch über Selbstzweifel, Grübeleien und Enttäuschungen schreibt. Abgerundet wird das Buch mit einem Glossar, in dem Adams von Anonymität über Love Bombing bis hin zu Slowdating in mehr oder weniger ernstgemeinten Einträgen Begriffe erläutert, die für sie in Verbindung mit der Erfahrung Onlinedating stehen.

Die Autorin schreibt lebhaft und humorvoll und wirkt dabei jederzeit authentisch. Ihr Blick auf ihre Onlinedatingerfahrungen ist angenehm reflektiert und sie hinterfragt stets die Beweggründe für die Verhaltensweisen ihrer Bekanntschaften, anstatt in seitenlange Schimpftiraden über all die „Unfairbindlichkeit“, die ihr im Netz widerfährt (der Buchtitel könnte nicht passender gewählt sein), zu verfallen. Auf diese Weise entsteht ein realistischer und ungeschönter Einblick in die digitale Datingwelt und deren schöne wie auch weniger schöne Facetten.

„unfairbindlich? #tinderblues #und #dategestoeber“ ist sowohl ein Buch für Menschen, die neugierig aufs Onlinedating sind, als auch für alle, die es schon einmal selbst ausprobiert haben und sicher so manche Situation wiedererkennen. Claudine Adams ist eine gute Mischung aus Unterhaltung und Information gelungen, die Spaß macht, zu lesen.

Bewertung vom 19.07.2022
Dieser Beitrag wurde entfernt
Bervoets, Hanna

Dieser Beitrag wurde entfernt


sehr gut

Wenige Seiten, die viel Eindruck hinterlassen

„Ein Video von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist nur dann erlaubt, wenn es nicht aus grausamen Motiven geschieht, ein Foto von jemandem, der seine Katze aus dem Fenster wirft, ist immer erlaubt. Die Aufnahme eines küssenden Pärchens im Bett dagegen nur, solange wir keine Geschlechtsteile oder weiblichen Brustwarzen sehen, männliche Brustwarzen sind nie ein Problem.“

Nach solchen absurd anmutenden, sich ständig ändernden Richtlinien beurteilt Kayleigh, die Protagonistin aus Hanna Bervoets Roman „Dieser Beitrag wurde entfernt“ täglich Hunderte von Social-Media-Beiträgen für das Unternehmen HEXA. Es werden nur einige wenige dieser Beiträge detailreicher beschrieben, diese waren beim Lesen für mich allerdings nur schwer zu ertragen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie es sein muss, sich tatsächlich ein Video anzusehen, auf dem sich ein Kind oder Jugendlicher selbst verstümmelt. Und das stundenlang, jeden Tag. In dem schmalen Büchlein geht es jedoch weniger um den Inhalt der zu begutachtenden Beiträge, sondern vielmehr darum, was es mit den Contentmoderator*innen macht, täglich einer solchen Flut von Gewalt, Hass, Rassismus und Verschwörungstheorien ausgesetzt zu sein.

Der Roman ist als Schreiben an einen Anwalt aufgebaut, der Kayleigh für eine Sammelklage gegen HEXA gewinnen will. Darin erklärt sie, warum sie dort zu arbeiten begonnen hat, schildert die katastrophalen Arbeitsbedingungen und erzählt, wie sich die Mitarbeitenden, mit denen sie gemeinsam bei dem Unternehmen angefangen hat, nach und nach verändern. Das wirklich Erschreckende ist hierbei, mitzuerleben, wie Menschen plötzlich beginnen, die irrsinnigen Theorien zu glauben, mit denen sie tagtäglich konfrontiert werden.

Die Zeit bei dem Unternehmen hat auch im Leben der Protagonistin Spuren hinterlassen, insbesondere in Bezug auf ihre Beziehung zu ihrer Kollegin Sigrid. Wie sich die beiden näherkommen und schließlich wieder voneinander entfernen, steht im Fokus der Geschichte. Dadurch, dass die Handlung von Kayleigh erzählt wird, bekommt man nur ihre Perspektive auf die Geschehnisse und ihre Beziehung mit Sigrid. Ihre nüchtern-distanzierte, teilweise etwas flapsige Sprache, die sich leicht lesen lässt, lässt sie über weite Teile des Romans wie die einzige Figur mit einem klaren Blick auf die Ereignisse erscheinen. Je näher der Roman seinem Ende kommt, umso deutlicher wird, was die Arbeit als Contentmoderatorin auch in ihr ausgelöst hat.

Auf kaum mehr als hundert Seiten entwirft Hanna Bervoets ein so eindrückliches wie schockierendes Bild dessen, was uns dank Menschen wie der Protagonistin Kayleigh und ihren Kolleg*innen hoffentlich größtenteils erspart bleibt, wenn wir uns durch die Sozialen Netzwerke scrollen. „Dieser Beitrag wurde entfernt“ hinterlässt Eindruck und wirkt nach, hätte aus meiner Sicht aber durchaus noch ein paar Kapitel mehr vertragen.

Bewertung vom 05.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


gut

Da mir Anfang des Jahres Karin Kalisas Roman „Sungs Laden“ in die Hände gefallen ist und mich rundum begeistert hat, habe ich mich sehr darüber gefreut ein neues Buch der Autorin in den Händen zu halten, noch dazu ein derart schön gestaltetes. Sowohl das Thema – die Geschichte zweier Frauen in verschiedenen Zeiten, die über einen an der Ostsee geknüpften Teppich miteinander verbunden sind – als auch die Covergestaltung und die Karte auf der Innenseite des Umschlags haben mich direkt angesprochen. In die Sprache mit ihren Einschüben und Gedankensprüngen musste ich mich erst hineinfinden, sie passt jedoch sehr gut zur Protagonistin. Mia Sund ist eine Faserarchäologin, die die meiste Zeit alleine verbringt und vor ihrer eigenen Vergangenheit in die Geschichte Jahrhunderte alter Stoffe flieht, bis ihre Vergangenheit sie in Form eines von einem Kollegen dahingesagten Satzes wieder einholt. Die Sprache hat mich direkt in Mias von Zweifeln und Unsicherheiten geprägte Gedankenwelt versetzt.

Von Anfang an kommt Spannung auf: Was hat Mia hinter sich gelassen? Und was hat es mit dem ungewöhnlichen grünen Fischerteppich auf sich, den der Kollege Mia ins Büro gebracht hat? Es macht Spaß, Mia bei ihrer Recherchereise auf den Spuren des Teppichs zu begleiten und dabei sowohl etwas über sie als auch über die pommerschen Fischerteppiche zu erfahren. Wie ausführlich Kalisa die historischen Aspekte des Romans recherchiert hat, zeigt sich nicht erst anhand der Liste der von ihr verwendeten Sekundärliteratur im Anhang, sondern ist durchweg spürbar. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass die Handlung durchgehend auf der Basis der historischen Fakten aufbaut und anhand von Mias Recherche nach und nach sowohl die Geheimnisse des Teppichs als auch ihre eigenen offenbart. Doch der Titel „Fischers Frau“ ist nun mal an ein Märchen angelehnt und so verwandelt sich der Roman etwa ab der Hälfte in eine Art Märchenerzählung, die für meinen Geschmack zu stark ins Kitschige abdriftet. Ab dem Moment, als die Protagonistin der Geschichte des Teppichs nicht mehr anhand von Fakten nachgeht, sondern sie in einer Art gedanklichem Zwiegespräch mit der Teppichknüpferin erfindet, war ich leider raus.

„Fischers Frau“ ist zweifelsohne eine großartige Rechercheleistung zu einem abseits der Ostsee vermutlich weitestgehend unbekannten Thema, die Karin Kalisa sprachlich gut umsetzt. Leider verwandelt die Autorin die überaus spannende Geschichte einer Forschungsreise in die Vergangenheit in eine unfassbar kitschige Märchenerzählung. Wer Lesestoff fürs Herz sucht, trifft mit diesem Roman dennoch eine gute Wahl.

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