BenutzerTop-Rezensenten Übersicht
Bewertungen
Insgesamt 67 BewertungenBewertung vom 19.04.2024 | ||
"Es war ein Wetter ohne Jahreszeit: vierzehn Grad und ein schwerer Himmel. ... Es war, als hielte alles hier die Luft an, oder vielmehr: als würde vorher nochmal Luft geholt. Marlene schaute aufs Wasser, in der Erwartung, dass es etwas in ihr auslösen würde. Aber das Meer glich dem Himmel darüber, bloß auf den Kopf gestellt." (S. 9)
Nach dem Abschluss ihres Studiums sehnt Marlene sich nach Halt, doch in ihr ist eine große Leere: Sie fühlt sich eingeengt von den Erwartungen der Gesellschaft an sie als junge Frau, und gleichzeitig verloren in ihrer Erwartungslosigkeit an eine mögliche Zukunft. Sie braucht Abstand. Von den fragenden Blicken, von ihrem Leben und beschließt daher, für den Sommer in einem Erlebnisdorf im nordfriesischen Wattenmeer zu arbeiten.
Auf der Insel Strand scheint die Zeit stillzustehen: In altertümlichen Trachten, die sie innerhalb der „Kostümgrenze“ zu tragen haben, bewirten die zahlreichen Saisonkräfte die Urlaubsgäste, verkaufen authentische Handwerkskunst und frisch geräucherten Fisch. Marlene ist für die Zeit ihres Aufenthalts im Hofladen eingeteilt; jeden Morgen versteckt sie ihre Haare unter einer Spitzenhaube, bindet sich die schweren Schnürstiefel, streift Bluse und Rock über, und verkauft Kekse, Inselhonig und Sanddornbonbons, bis die Abenddämmerung den Horizont färbt. Bald lernt Marlene Janne kennen, die auf der Insel aufgewachsen ist. Es kribbelt in ihrer Brust, wenn sie an sie denkt, ihr Herz klopft schneller, wenn sie sie unter der Traufe der Räucherei stehen sieht. Je näher sie einander kennenlernen, ihre Geschichten und Körper erkunden, desto mehr verändert sich Marlenes Wahrnehmung der Insel und ihrer Bewohner:innen. Sie beginnt, sich für das Unsichtbare zu interessieren, das, was hinter alldem liegt, was den Urlauber:innen tagtäglich vorgespielt wird. Aber auch Janne hat Geheimnisse, die sie nicht greifen.
„[Durch die Glasscheibe sah Marlene] eine in Packpapier eingewickelte Makrele [auf der Fensterbank liegen]. Auf dem Papier stand mit Edding ‚Bis nächste Woche‘ geschrieben. Nervös zählte sie an den Fingern die Nächte bis Johannisnacht ab: Es waren sechs.“ (S. 180)
Diese ersten Seiten, das fühlte sich an wie das Betreten einer anderen Welt, wie Urlaub: salziger Wind, Sand zwischen den Zehen, Wellenrauschen. Am liebsten wäre ich direkt in die Bahn gestiegen und ab ans Meer, im Handgepäck: „Leute von früher“ von Kristin Höller. Von Urlaub kann Marlene in diesen ersten Tagen auf Strand nur träumen. Ihre Gedanken wiegen schwer, der Geburtstagskuchen knistert in der Plastikfolie, als sie ihr Zimmer für den Sommer bezieht, doch die Neugier über das, was sie erwartet, tritt mit jedem Schritt in den Vordergrund. Und mit der Neugier auch die Beklemmung.
Ich lerne Marlene als eine rastlose, emphatische junge Frau kennen, die zuhört und anpackt, uneitel und pragmatisch ist, und von sich selbst sagt, dass sie „absichtlich unachtsam“ sei, und nie gelernt hätte, in sich hineinzuhören. Eng an ihrer Seite: ihre besten Freund:innen Luzia und Robert. Sie hatten sich zu Beginn des Studiums kennengelernt und sind einander Ohr und Schulter. Und Kühlpack-Halter, Wartezimmer-Begleitung, In-den-Schlaf-gleit-Beschützer. Wir alle brauchen einen Robert in unserem Leben. Das Verhältnis zu ihren Eltern hingegen ist distanziert, angespannt; wie ihre Großmutter, der sie jede Woche eine Postkarte schreibt, wissen sie nichts von Marlenes Sommerjob. |
||
Bewertung vom 25.03.2024 | ||
Philipp hatte es in seiner Kindheit nicht einfach: feuerrotes Haar, eine alkoholkranke Mutter - er war ein Außenseiter. Sein einziger Wunsch war es, einen besten Freund zu finden, nicht mehr alleine sein zu müssen. Eines Tages betritt Faina das Klassenzimmer. Sie anderen beäugen sie argwöhnisch, ihre Haare, ihren scheuen Blick; sie kommt aus der Ukraine, traut sich nicht, den Lehrer zu verbessern, weil sie die Sprache nicht gut spricht und nimmt stumm seinen Irrtum hin. Kurze Zeit später werden sie Freunde. |
||
Bewertung vom 14.03.2024 | ||
„Die Gegenwart meiner verlorenen Kindheit, die ewige Rückkehr dieses Verlustes machte mich zu der, die ich war, es war ein Teil von mir, es durchdrang selbst das schwächste Gefühl in mir.“ (S. 395) |
||
Bewertung vom 10.03.2024 | ||
„Es sieht aus, als wäre das Meer mit Abertausenden flimmernden Sternen gefüllt. Vielleicht ist jeder einzelne das, was von jeder Seele bleibt, die je gelebt hat; vielleicht ist Zeit kein Kontinuum, sondern Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft entfalten sich immer und ewig.“ (S. 282) |
||
Bewertung vom 28.02.2024 | ||
Fünf Jahre ist es her, dass er gegangen ist. Dass er den alten Gutshof hinter sich gelassen hat und mit ihm einen Teil von sich. Das Scheppern des Bestecks, wenn Georg wütend war; den Hall des Schusses, als er den Hund - hör auf, atme. Vor fünf Jahren ist Jirka aufs Internat gegangen, geflüchtet an einen Ort, an dem sein Inneres wieder zusammengewachsen konnte. Papa nannte er Georg damals schon nicht mehr, das Wort hatte für ihn jegliche Emotion verloren. Es tat weh, es auszusprechen; eh war er nie der richtige Sohn gewesen, wie seine Schwester Malene nicht die richtige Tochter war für dieses Erbe. |
||
Bewertung vom 26.02.2024 | ||
„Diese weißen Wolken haben also nichts mit Weißsein zu tun? – Doch, aber nicht nur. Ich würde sagen, es sin die Spuren, die unsere sogenannte Identität bei uns hinterlässt.“ (S. 98) |
||
Bewertung vom 26.02.2024 | ||
Die Hoffnung der Chani Kaufman "Die Hoffnung der Chani Kaufman" ist die Fortsetzung des bereits 2015 erschienenen Romandebüts von Eve Harris, lässt sich jedoch unabhängig davon lesen. |
||
Bewertung vom 12.02.2024 | ||
Hätte ich mitgezählt, wie oft ich mich in diesem Text wiedergefunden habe, ich hätte meine Socken ausziehen müssen zum Zählen, denn beide Händen hätten nicht gereicht. Ich musste so oft peinlich berührt bis melancholisch verträumt grinsen oder lauthals auflachen, gegen den Kloß im Hals anschlucken oder stumm nicken ob der Erlebnisse und Erinnerungen der Protagonist:innen, die Ilona Hartmann so lebensnah, klar und präzise eingefangen hat. Ihre Sprache ist lakonisch, humorvoll und frech, bisweilen von einer intensiven, verlangsamenden Stille, die Höhen und Tiefen auslotend. Ich musste immer an diesen einen Song von Nina Nesbitt denken, in dem sie singt: My life's uncertain and sometimes it's strange / But one thing I've learned is it won't stay the same / Even in the darkness, I'll be okay / The sun will come up, the seasons will change - und so findet auch die namenlose Protagonistin ihren Weg, unmerklich, die Rollen kehren sich um. Ein:e jede:r von uns. Ein wundervoller Text, der von Freundschaft erzählt, vom Kindsein und Erwachsenwerden, von Abschieden und Neuanfängen und dieses besondere Lebensgefühl wie kein anderes einfängt. Große Empfehlung! |
||
Bewertung vom 15.01.2024 | ||
Zärtlich und unendlich behutsam zeichnet Iris Wolff in „Lichtungen“ die Bande einer Freundschaft, die von den Jahreszeiten geformt wurde, aber noch die kältesten Winter überdauert hat. Lev und Kato kennen sich bereits seit ihrer Kindheit, gingen gemeinsam zur Schule. Sie ist ein Samstagskind, wie ihre Mutter sagte, neugierig und klug, doch in den Augen der anderen eine Außenseiterin. Kato hatte einen eigenen Zugang zur Welt, erfuhr sie mit ihren Sinnen, ihrer Fantasie, um dem Jetzt zu entfliehen, denn ihr Vater war Alkoholiker, ihre Mutter nicht mehr da; wann immer möglich, war sie bei Lev zu Hause, um dem Zorn des Vaters zu entfliehen. Lev hingegen ist still und pflichtbewusst, bedacht mit seinen Worten und Handlungen; ein Beobachter. Einer, der bleibt, der festhält an Erinnerungen. An Gefühlen. An drei Worten, die ein Anfang, ein Aufbruch sein können. |
||
Bewertung vom 07.11.2023 | ||
„Weiße Wände, nahezu leuchtend. Ich betastete meinen Bauch. Aus der Ferne drangen Stimmen zu mir. Ein Laken, das fest um mich gespannt war, hielt mich in dem Bett gefangen. Mein Kopf war unnatürlich schwer. Wo ist mein Kind?, fragte ich mit heiserer Stimme.“ (S. 260) |
||