gerade einmal sechzig Jahre alt, gestorben. Seine Laufbahn hat ihn nicht auf einen Lehrstuhl geführt oder in die Gremiengeflechte von Academia, sondern zunächst nach London und von dort aus in den Journalismus. Er reüssierte von 1991 an beim gerade entstehenden Privatfernsehen mit dem Interview-Format "0137" bei Premiere, später mit "Willemsens Woche" im ZDF. Dann besann er sich wieder stärker auf das Buch, daneben war er Moderator, Dokumentarfilmer, Redner, Vortragender seiner thematisch weit gespannten Produktion, die ihn vom Jazz über Afghanistan und den Rest der Welt auch ein Jahr in den Bundestag als Beobachter der politischen Klasse führte. Ein intellektueller Tausendsassa, der zwischen E und U vermitteln konnte, ein Publikumsliebling, der manchem Kritiker wegen seines rhetorischen Übereifers missfiel.
Als er im Spätsommer letzten Jahres seine Krebserkrankung öffentlich machte und sich zurückzog, hatte er gerade die Arbeit an einem neuen Buch begonnen. Es sollte den Titel tragen "Wer wir waren" und aus der Zukunftsperspektive auf unsere Gegenwart als "Filialexistenzen" blicken. Um das Thema abzutasten, schrieb Willemsen einen Essay, den er zweimal vor Publikum vortrug. Als "sein Vermächtnis" ist diese kaum fünfzig kleine Druckseiten füllende "Zukunftsrede" nun veröffentlicht worden.
Willemsens Blick auf die Gegenwart ist gelinde gesagt elegisch, so wie jede gepflegte Kulturkritik aber bemüht, nicht völlig kulturpessimistisch daherzukommen. Doch schon auf der zweiten Seite sind wir an dem Punkt, an dem das Wort "Krise" fällt. Und mit ihm tritt auf der Homo sapiens als Erzeuger der "Krise der ganzen Welt": "Wenn man es genau bedenkt, dann ist vom Anfang aller Tage an alles immer schlechter geworden. Luft und Wasser sowieso, dann die Manieren, die politischen Persönlichkeiten, das Herrentennis und das Aroma der Tomaten." Da ist nicht nur die Anspielung auf Fitzgerald, da ist auch die Isolierschicht Ironie, die den Befund erträglich machen soll.
Dahinter verbirgt sich gehöriger Ernst. Mehr noch, die Sorge, dass wir uns zwar in der digital beschleunigten Welt die Zukunft als Versprechen auf ein bequemes, effizientes Dasein in der Hand der Maschinen durchaus vorstellen könnten, nicht aber unser kommendes Bewusstsein. Wir ahnen, schreibt Willemsen, "dass wir künftig weniger mitfühlend, weniger solidarisch, weniger sentimental sein werden". Deswegen verlegt er sich gleich auf das Futur II und fragt nicht, wer wir sind, sondern "wer wir gewesen sein werden". Wie soll dieser Befund optimistisch ausfallen, wenn wir "in der Kapitulation" leben, das Menschsein aufgegeben haben? Wenn wir uns von unserer Zeit haben niederringen lassen?
Die bislang prekärste Ausformung des Homo sapiens, den die Digitalzeit hervorgebracht hat, ist der "Second-Screen-Mensch", dem "der eine Bildschirm nicht mehr reicht, der ohne mehrere Parallelhandlungen die Welt nicht erträgt und im Blend der Informationen, Impulse und bildbegleitenden Affekte sich selbst eine Art behäbiger Mutterkonzern ist, unpraktisch konfiguriert und irgendwie fern und unerreichbar". Der Rest ist Selbstpreisgabe und -darstellung in den sozialen Medien sowie eine große Zertrümmerung der epischen Strukturen - womit nicht zuletzt das Ende des Romans gemeint ist. Und so landet der Autor am Ende bei seinem alten Helden Robert Musil, über dessen "Mann ohne Eigenschaften" er eine Dissertation schrieb und der maßgeblichen Einfluss auf Willemsens vergessenes Buch "Figuren der Willkür" (1991) ausübte.
Es steckt viel drin in diesem Brühwürfel, treffend Beobachtetes, Witziges, Skurriles, Theorieschnipsel - ob daraus am Ende ein stringentes Buch hätte werden können, lässt sich nur vermuten; das Skizzenhafte war stets ein Charakteristikum von Willemsens Art zu schreiben. Ob wir wirklich in der "letzten Epoche der Utopie" angekommen sind? Bei Fitzgerald heißt es in "Der Knacks", die wahre Prüfung einer erstklassigen Intelligenz sei die Fähigkeit, zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und trotzdem weiter zu funktionieren. Diese Aufgabe, wird man Roger Willemsen unterstellen dürfen, hat er seinen Lesern mit auf den Weg gegeben.
HANNES HINTERMEIER
Roger Willemsen: "Wer wir waren". Zukunftsrede.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016. 60 S., geb., 12.- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main