groß sein wie jene vor ebendiesem Selbst, bei dem man am Ende möglicherweise landet. Thomas Glavinic hat in seinen Büchern genauso wie außerhalb dieser einiges dazu beigetragen, als einer der rausch- und entgrenzungsbesessensten Schriftsteller unserer Tage zu gelten, nicht zuletzt deshalb, weil er seine Ausschweifungen mit Vorliebe über die digitalen Kanäle noch einmal multipliziert.
Es ist dabei vor allem eine Geschichte, die Glavinic immer wieder erzählt: eine der Verlorenheit. Und eine der Angst. Dass sein jüngster Roman, der auf der Gegenwartsebene vom Neujahrstag bis Silvester das Jahr 2015 erzählt, "Der Jonas-Komplex" heißt, ist dabei mehr als bloßer Verweis auf die Jonas-Figuren, die schon in drei vorhergehenden Romanen von Glavinic auftrat, zuletzt in der märchenhaften Mount-Everest-Besteigung "Das größere Wunder". Der Name ist poetologisches Programm, steht doch der Jonas-Komplex in der Psychologie für die Angst, an den eigenen Ansprüchen zu scheitern und sie deshalb zu vermeiden - angelehnt an das Buch Jona, der sich vor der ihm von Gott gegebenen Aufgabe und Verantwortung davonschleichen will.
Genau dieser Versuch eines Dauerdavonlaufens qua Entgrenzung ist das Grundmotiv von Glavinics Roman, über den er bereits im Vorfeld hat verlauten lassen, dass dieser bittesehr als fiktionales Werk zu lesen sei. Das kann man selbstverständlich tun, zumal es gerade den ungemein lustigen, bis zur verzweifelten Albernheit sich steigernden Episoden keinen Abbruch tut. Die Ausstellung der eigenen Neurosen birgt jede Menge komisches Potential, und Glavinic zeigt sich in diesem Fach aufs Neue als unbedingt beschlagen. Interessanter aber ist die Struktur des Romans, der sich in drei Erzählstränge gliedert. Der erste ist der über den Wiener Schriftsteller, dessen Alltag zwischen Alkohol- und Koksexzessen und der anschließenden Zermürbung darüber schwankt. Unterdrückt wird dieses Unbehagen genauso wie die in den verschiedensten Situationen - im Flugzeug oder wenn es an der Wohnungstür klingelt - aufkommenden Panik- oder Paranoia-Attacken durch ähnlich unverhältnismäßigen Konsum von Beruhigungsmitteln oder durch eine ebensolche neue Zufuhr von noch mehr Koks, bis das Herz so heftig rumpelt, dass die schiere Überlebensangst alle anderen Ängste überwiegt.
Eine Figur ist dieser Schriftsteller, der fortwährend hektisch nach als erotische Ablenkung getarnter sexueller Entgrenzung schreit und dabei ständig über die Schwellen der Peinlichkeit, mitunter auch Erbärmlichkeit stolpert, um anschließend ohnehin nur in Ernüchterung zu stranden. Eine Figur aber auch, die mit einer unbedingten Liebe an ihrem Sohn hängt, ohne es geschafft zu haben, diesem Kind ein funktionierendes Familienleben zu bieten. Nach der Trennung der Eltern lebt das Kind vorwiegend bei der Mutter.
Der zweite Strang, der im Jahr 1985 spielt, erzählt, todtraurig, aber nie rührselig, die Geschichte eines einsamen dreizehnjährigen Jungen. Über seine Mutter erfahren wir nichts, der kroatische Vater meldet sich allenfalls sporadisch. Nach dem Tod der Großmutter, bei der er bisher aufgewachsen ist und die der Junge in ihren letzten Tagen gepflegt hat, lebt er bei Uriella, offenbar einer entfernten Verwandten. Nicht genug damit, dass der Junge, während er Nachmittag für Nachmittag wartet, dass Uriella angetrunken und in wechselnder männlicher Begleitung nach Hause kommt, seinen ständig nagenden Hunger immerzu mit Milchbrot ruhigzustellen versucht - das Einzige, was die leeren Küchenschränke hergeben.
Thomas Glavinic erzählt auch eine Missbrauchsgeschichte, die sich noch einmal tiefer und erniedrigender in den Jungen einfrisst, weil er auf perfide Weise zum unfreiwilligen Komplizen gemacht wird. Unter dem Vorwand, ihn nach Filzläusen zu untersuchen, muss er sich von Uriella entblößen und sich anfassen lassen. Das Schachspiel, durch das er auch in Erwachsenenkreisen Anerkennung findet, scheint das Einzige zu sein, woraus der Junge eine Spur Selbstbewusstsein schöpft. Thomas Glavinic, der bereits als Junge für Schach entbrannte, weiß um die Wirkung dieses Spiels.
Die dritte Episode des Romans nun kreist um jene bereits aus anderen Glavinic-Romanen bekannte Jonas-Figur. Reich, aber haltlos - bis auf die Liebe zu Marie -, macht Jonas ein obskures Überlebensspiel daraus, sich von seinem Anwalt an den entlegensten Orten der Welt, im unbekannten Nirgendwo aussetzen zu lassen, um sich selbst zu beweisen, dass er es aus dieser unüberwindlich erscheinenden Verlorenheit zurückzukehren schafft. Marie ist es schließlich, die Jonas vor die größte Herausforderung stellt: eine Wanderung zum Südpol, die er mit ihr gemeinsam bewältigen muss - wobei das Gemeinsame der schwierigere Teil für Jonas ist. Eine Malaria-Erkrankung, die ihn nah am Tod vorbeischrammen lässt, zwingt ihn, die Wanderung durchs Eis abzubrechen. Eine, wie man es von Glavinic kennt, himmelschreiend kitschige Erlösung aus seinem Drang, sich zu verlieren, erlebt er am Ende dennoch.
Die zuweilen tragischen, zuweilen von Sehnsucht grundierten Korrespondenzen, die zwischen den drei Teilen des Romans bestehen, sind augenfällig. So kann man, ohne sie zwangsläufig zu verschmelzen, die drei Episoden im Sinne einer dialektischen Versuchsanordnung lesen: Verlassenwerden und Einsamkeit eines dreizehnjährigen Jungen zum einen, Bindungsunfähigkeit und permanente Sich-selbst-Preisgabe eines erwachsenen Schriftstellers zum Zweiten, und, dem dialektischen Prinzip zufolge, als Synthese oder Utopie die Episode über Jonas, der nach all den selbstgewählten Todes- und Grenzüberschreitungen seinen Frieden mit sich findet und die Erlösung in der Liebe.
Wer Spaß daran hat, der kann sich natürlich immer noch an den Authentizitätsknallerbsen, die Thomas Glavinic schmeißt, erfreuen. Sie taugen auch tatsächlich bestens zur Erzeugung eines sanft wärmenden Kicherrausches. Genügen mögen hierzu allein die Kurznachrichten eines erfolgreichen, selbstgewissen, weltmännischen, furchtbar biedermeierlichen Schriftstellers, genannt Daniel. Diese Nachrichten ploppen vorzugsweise in jenen Momenten auf dem Handy des Wiener Schriftstellers auf, wenn dieser sich gerade in Panik- und Verzweiflungsspiralen dreht, und künden von der erfolgreichen, selbstgewissen, weltmännischen, furchtbar biedermeierlichen Existenz des befreundeten Kollegen.
Aber auch, wenn der Roman immerhin noch halbherzig so tun mag, als würde er es hinter dem Knallerbsen-Geballer verstecken wollen, dann ist er doch vor allem eine ziemlich grandiose, maßlose, das Herz zum Rumpeln bringende Fortschreibung der universellen Angst- und Verlorenheitsenzyklopädie, an der Thomas Glavinic arbeitet. Kaum zu entscheiden, ob es bedauerlich oder erfreulich ist, dass "Der Jonas-Komplex" vermutlich nicht deren Abschluss gewesen sein wird. Literatur und Leben sind in dieser Hinsicht eben zwei komplett verschiedene Sportarten.
WIEBKE POROMBKA.
Thomas Glavinic: "Der Jonas-Komplex". Roman.
Verlag S. Fischer, Frankfurt am Main 2016. 752 S., geb., 24,99 [Euro].
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