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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Rauschhaft vorüberflitzend: Stefan Bollmann berichtet live und direkt
von der Münchner Boheme um 1900
VON GUSTAV SEIBT
Am 9. August 1889 veröffentlichte Hedwig Pringsheim, Tochter der berühmten Berliner Frauenrechtlerin Hedwig Dohm, Ehefrau des schwerreichen Mathematikprofessors Alfred Pringsheim und Mutter der später mit Thomas Mann verheirateten Katia, ein Feuilleton in den Münchner Neuesten Nachrichten, der Vorgängerzeitung der SZ. Darin ging es um ihren neuen Hut, genauer um die Reaktionen, die dieser „große Deckel von durchbrochenem braunen Stroh, mit einem wahren Garten von rothen Mohnblumen übersäet, wie die Mode des heutigen Sommers bei uns vorschreibt“, in Berlin auslöste.
Vorbeimarschierende Soldaten am Spandauer Bahnhof tuscheln und kichern, stoßen dann wie auf Kommando ein lautstarkes „Hoch“ aus. In der Stadtmitte wird es immer schlimmer: kreischendes, brutales, ja gellendes Gelächter, blöde Witze („Phantasie-Rieke“, „Gemüsehändler“ lauten die harmloseren Zurufe), einer brüllt, sie solle aufpassen, dass nicht eine Kuh auf sie aufmerksam werde. Berlin ist, wenn Schnauze ist, damals schon.
Frau Pringsheim fand das wenig witzig. „Berlin wird Weltstadt – ja wohl.“ Aber die innere Entwicklung habe mit dem äußeren Ausbau hier nicht Schritt gehalten. Anders als in München! Auch die bayerische Residenzstadt war stark gewachsen. Allein zwischen 1880 und 1890, in nur zehn Jahren nahm die Einwohnerzahl um unglaubliche 50 Prozent zu, bis 1900 wurde eine halbe Million Einwohner erreicht. Eine Explosion, wenn auch in kleinerem Maßstab als in der Reichshauptstadt. Aber München stockt weder kulturell noch in seiner Lebensart. Die Stadt wird in dieser Zeit attraktiv für eine internationale Boheme, für weltberühmte Künstler und für hungrige Anfänger, für Genies und Menschen mit Genieverdacht, für Lebensreformer in wallenden Gewändern, Psychologen mit handfesten sexuellen Interessen, Spiritisten, Hypnosekünstler, Feministinnen und Feministen (ja, auch in männlicher Version!), Genderexperimentierer aller Spielarten, Lesben, Schwule, Non-Binäre, für Designer, Fotografinnen, Tänzer, Galeristen, Verleger, Zeitschriftenmacher – ein unabsehbar vielfältiges, lustiges, wagemutiges, wuselndes Geschwerl, angereist aus allen Himmelsrichtungen: Skandinavier, Russinnen, mecklenburgische Adelige, Lübecker Literaten. Dazu die heimischen Malerfürsten und die neuen Abstrakten.
Stefan Bollmann hat daraus ein überaus lustiges, rauschhaft vorüberflitzendes (das Fahrrad ist das angesagte neue Fortbewegungsmittel, skandalöserweise vor allem für Frauen), farbiges, von Anekdoten überquellendes Buch gemacht, das mindestens so überbordend beladen ist wie Hedwig Pringsheims Hutdeckel. Der Aufbau ist vorwiegend chronologisch, nur wenig nach ästhetisch-kulturellen Sachgebieten (Design, Malerei, Literatur, Psychologie, Publizistik) geordnet, eher arabesk-chronikalisch. Verfasst ist es im trocken-ironischen Reporterton des Historischen Präsens, den Florian Illies etabliert hat, der Begründer des Genres der Kulturchronik, die ganz auf den Zauber der Gleichzeitigkeit setzt: Was da alles in einem Moment los war!
Wie Illies setzt Bollmann ganz auf staunende Nahsicht, geschöpft aus den überreich edierten Quellen einer pausenlos Briefe und Tagebücher schreibenden Zeit. München war in den beiden Jahrfünften um 1900 tatsächlich ein Hauptort der europäischen Avantgarden, das macht Bollmanns Anekdoten-Niagara unwiderleglich anschaulich. Was aber hatte das mit der Stadt München zu tun? Trotz ihres raschen Wachstums müssen die Mieten und die Pensionskosten gering gewesen sein, wenn so viele, meist knapp betuchte Künstlerinnen und Literaten dort Unterschlupf und Ateliers fanden. Aber sonst wenig. Das Volksleben war Kulisse, die Luft meist gut, die Landschaft zum Malen schön, die Zimmerwirtinnen offenherzig.
Leider versagt sich Bollmann eine stadthistorische Skizze, das wäre zu systematisch gewesen. Über die politischen Hintergründe in Bayern erfährt man fast nichts. Immerhin, es ist die Zeit nach dem Kunstverschwender Ludwig II., in der der lässige, zunächst wenig beliebte Prinzregent ja durchaus wittelsbachisches Mäzenatentum sogar im Stadtausbau fortsetzte. Bayern als auch politischer Gegenpol zu Preußen-Berlin kommt nicht ins Bild. Selbst die Mechanismen der Zensur, mit einem schwammigen Majestätsbeleidungsparagrafen, der etliche Literaten ins Gefängnis oder Festungshaft brachte, werden nur angetippt. Nun, die meisten Vorfälle, Wirrungen und Exzesse, von denen Bollmann berichtet, fanden im privaten Rahmen statt, auf Kostümfesten, in Wohngemeinschaften, in kulturellen Vereinen und Vortragszirkeln, auf spiritistischen Sitzungen.
Neben vielen Kaum-, Wenig- und Unbekannten haben auch die (später) Berühmten der Epoche ihre Auftritte. Stefan George trifft sich zeremoniell kompliziert mit Ludwig Klages, bald stellt er dem Münchner Buben Maximilian Kronenberger nach. Der zarte, aber sexhungrige Rilke lässt sich von Lou Andreas-Salomé in die Liebe einführen. Thomas Mann macht Radausflüge mit Katia Pringsheim. Lovis Corinth, Gabriele Münter und Alexej Jawlensky erfinden eine neue Malerei – Bollmann ist ein so begabter Bild-Beschreiber, dass man sich bei fehlenden Abbildungen in seinem Buch viele dieser Bilder unwillkürlich aufs Telefon holt.
Die gar nicht geheime Hauptheldin des Buches ist Franziska von Reventlow, die unglaublich lebenslustige, freie, liebesbegierige und Liebe schenkende, immer nahe am Bankrott lebende Gräfin aus dem Norden, die zudem eine begabte Autorin war – und es in Notzeiten nicht verschmähte, im Luxussegment als exklusive Sex-Workerin tätig zu werden. Ein Hauch von „Weltpuff Berlin“ dann doch auch in München. Reventlows Leben wurde in den vergangenen Jahren öfter erzählt, ihre Bücher gibt es unter anderem bei Reclam. Überhaupt ist im Detail nichts neu in Bollmanns als Gesamtkunstwerk frappierendem Erzählteppich. Die Leistung des Autors besteht im Zusammenführen, im Gruppieren und Arrangieren, im leichten Ton. Schön. Aber wozu? Hier beginnen Einwände, die sich gegen das ganze, buchhändlerisch so erfolgreiche, darum inzwischen nähmaschinenhaft reproduzierte Genre richten müssen.
Wenn man sich schon die Mühe macht, all das zusammenzukopieren, warum werden dann nicht einmal geringe Anstrengungen unternommen, das viele Material übers Unterhaltsame hinaus fruchtbar zu machen? Kein Nachweis der Zitate, kein Register, keine Zeittafel. Noch interessanter wäre ein Stadtplan mit den Schauplätzen und Adressen der Cafés, Studios, Vortragsräume, Pensionszimmer, ein Bild vom Stadtraum. Und damit müsste es ja erst beginnen. Warum nimmt Bollmann, der ein intelligenter Historiker ist, nicht Bezug auf Forschungen zur Spaßkultur der Kaiserzeit, die längst florieren? Wer zu Recht Jugend und Simplicissismus als Marksteine von Zeitschriftenkunst und Publizistik würdigt, der könnte auch ein paar Absätze zur Pressegeschichte insgesamt verlieren. Für alle Gebiete gäbe es solche Kontexte. Und historiografische Modelle: Christoph Nonn hat vorgemacht, wie man episodisches Erzählen zu einer Strukturgeschichte der Kaiserzeit ausbauen kann, ohne dabei ein Gran an Lesbarkeit aufzugeben. Zugleich gelingt es ihm, nicht nur farbigen Abglanz zu liefern, sondern auch historische Einsichten.
Denn wer dieses lustige Buch zumacht, könnte sich ja die Frage stellen, wie es kam, dass dieses moderne, tolerante München nur ein Jahrzehnt später zum Hauptort der völkischen Feindschaft gegen die Weimarer Republik wurde. Ja, die Boheme war nicht eingeboren, aber sie war doch in München auch zu Hause – siehe Hedwig Pringsheims Artikel in den Münchner Neuesten Nachrichten. So haben wir halt noch eine supernette Kulturchronik zum Lachen und Staunen und schon wieder keine Geschichtsschreibung.
Zwischen 1880 und 1890 nahm
die Einwohnerzahl der
Stadt um 50 Prozent zu
Der Autor gruppiert und
arrangiert elegant und in
leichtem Ton. Nur wozu?
„Also, es fängt damit an, dass ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke.“ Das ist der erste Satz eines modernen Klassikers: „Faserland“ von Christian Kracht. Hier in der Version der Bild-KI.
Foto: midjourney/Florian Gmach
Stefan Bollmann:
Zeit der Verwandlung – München 1900 und die Neuerfindung des Lebens. Klett-Cotta, Stuttgart 2023. 380 Seiten, 28 Euro.
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