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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Der größte Erotiker der deutschen Literatur: Hanjo Kestings grandioses neues Buch zeigt
Thomas Mann als Genauigkeitsfanatiker und Weltmeister der Vorstellungsgabe
VON GUSTAV SEIBT
Über Hanjo Kestings Thomas-Mann-Buch kann man das Beste sagen, was es zu einem solchen Werk zu sagen gibt: Es befeuert die Lust auf seinen Gegenstand. Wie beredt schildert es die Anforderungen, aber auch das Glücksversprechen einer „Zauberberg“-Lektüre: Mindestens eine Woche versinken im spätromantischen, zugleich ganz modernen Sprachgewoge und dann am besten gleich noch einmal von vorne anfangen – denn erst dann erschließt sich der Beziehungsreichtum einer Leitmotivik, die zugleich rückwärts und vorwärts weist. Kann das gehen unter heutigen medialen Bedingungen mit ihrer 24/7-Dauerkommunikation auf allen Kanälen? Ach, denkt man, Kesting lesend, lass uns das Abenteuer der Versenkung doch erproben, es könnte gelingen.
Jedenfalls trägt dieser zwölfteilige Essay-Kranz die Leser mühelos voran, so kurzweilig sind die sechs Werkanalysen und die sechs biografisch-motivischen Stücke. Die „Werkfahrten“, so der Titel des ersten Teils, schaffen es, auf jeweils ein bis drei Dutzend Seiten Durchblicke zu schaffen, nach denen man neugierig auf die Ausfahrt in die Originale wird – wie macht er das mit Zeitlosigkeit im „Zauberberg“, mit Mythos und Psychologie im „Joseph“? Kesting legt besonderen Wert auf politische Implikationen, so im vierten, „amerikanischen“ Teil des „Joseph“, oder im Goethe-Roman „Lotte in Weimar“, dem Buch der Emigration.
Wie Politik und die gequälte Seele eines Arbeitsasketen mit bewusstem Triebverzicht zusammenhängen, zeigen zwei schimmernd-dunkle Stücke zu den Tagebüchern im Abschnitt „Lebensfahrten“, mit so guten Zitaten, dass jeder Skeptiker auch von ihrem stilistischen Rang überzeugt werden müsste. Es ist absurd, diese Selbstbekenntnisse der Schwäche einem Autor anzukreiden, der die Stärke hatte, sie zu Papier zu bringen. Ein Leben voller Glanz, aber ohne Glück; ein Leben des Triebverzichts, ja – aber dadurch wurde, wie Kesting zu Recht festhält, „Thomas Mann der vielleicht größte Erotiker unter den deutschen Autoren seiner Zeit“. Endlich sagt es einmal jemand, anstatt immer nur weiter die Schopenhauer-Wagner-Nietzsche-Goethe-Suppe zu rühren.
Aus solcher Aufmerksamkeit erklärt sich die Ehrenrettung für die ganz zu Unrecht übel beleumundete späte Erzählung „Die Betrogene“, das womöglich glänzendste Stück des Bandes. Kesting erkennt hier ein großes Gedankenexperiment zu Humanität und Naturverfallenheit. Die Peinlichkeiten, Selbsttäuschungen, die in dieser Novelle quälen, sind avantgardistisch wie nur etwas – kein Geringerer als Adorno war tief beeindruckt davon. Bei den Werkessays fehlen zentrale Bücher wie der „Doktor Faustus“, der „Felix Krull“ und die „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Aber sie erscheinen dafür im „Querfahrten“ betitelten Abschnitt, der Abhandlungen zur Rolle der Musik bei Thomas Mann, zum Bruderkonflikt mit Heinrich, und ja: zu Thomas Mann als kennerischem Hotelbewohner enthält. Im Hotel spielt nicht nur der „Krull“, das Düsseldorfer Park-Hotel wurde auch zum Vorbild für die Residenz in „Königliche Hoheit“. Köstlich wird der Moment geschildert, in dem der noch jugendliche, durch den Erfolg der „Buddenbrooks“ zu Geld gekommene Schriftsteller zum ersten mal so einen Luxuspalast betritt, mit fast noch scheuen Schritten und gezücktem Notizbuch.
Kestings aus durchweg noch unpublizierten Vorträgen und Radiobeiträgen komponiertes Buch ist also keine Biografie, auch kein Handbuch. Aber ein rundes Bild der Person entsteht darin doch, und auch die enorme historische Strecke, die Thomas Mann von der Wilhelminischen Zeit bis zum Kalten Krieg hinter sich legte, kommt zur Anschauung. Das liegt nicht zuletzt am Freimut des Autors, der politische Irrungen, nervöse Irritationen und sexuelle Nöte seines Helden nicht bagatellisiert.
Zu Recht weist Kesting darauf hin, auf welch schmaler Erfahrungsgrundlage bei genial gesteigerter Beobachtungsgabe und unablässigem Lektürefleiß Thomas Mann seine Kathedralen errichtet hat. Es war der Fleiß des schier endlosen Amplifizierens (so nannte Mann selbst seine Kunst des Ausgestaltens und Auskostens), der aus drei Tagebuch-Notizen und zwei Briefen eine Goethe-Roman schuf oder aus ein paar Seiten der Bibel eine Roman-Tetralogie. Der Genauigkeitsfanatiker war ein Weltmeister der Vorstellungskraft.
Ist das Biografismus, unzulässige Reduktion der großen Ideenmusiken auf zeitgenössische, gar intime Empirie? Jedenfalls ist es keineswegs unzulässig, die Werke und die Person ihres Verfassers in Beziehung zu bringen, denn jeder Leser, auch der wenig orientierte, nimmt die Präzision dieser Prosa wahr und wohl auch ihren von Thomas Mann selbst so benannten autobiografischen Radikalismus. Das ist eine nur bei ihm so folgerichtig entwickelte Konstellation, die weitgehend auf seinem Triebschicksal beruht, jener im Alter immer freimütiger eingestandenen Homosexualität, die unter den gegebenen historischen Umständen die Ambivalenz von Enthüllen und Verstecken herausforderte.
Es wäre verkehrt, die menschlichen Kosten dieser Flucht in die Leistungsethik, der es unmöglich war, nichts zu tun, zu verschweigen. Kesting spricht in diesem Buch der unbezweifelbaren, hochinformierten Liebe immer wieder davon, am düstersten im Kapitel über Thomas Manns Verhältnis zu seinem Sohn Klaus.
Kommt etwas zu kurz? Ja, wie so oft die Komik des Erzählers Thomas Mann, der sich selbst gar nicht in erster Linie als Ironiker, sondern als Humorist verstand und sich über wenig mehr freute als über das Gelächter seines Publikums – mehr höchstens, wenn es zu Tränen gerührt war.
Ein Leben voller Glanz,
aber ohne Glück; ein Leben
des Triebverzichts
Autobiografischer Radikalismus: Thomas Mann.
Foto: SZ Photo
Hanjo Kesting: Thomas Mann – Glanz und Qual. Wallstein Verlag, Göttingen 2023. 398 Seiten, 28 Euro.
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