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lustaufbuch

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Insgesamt 135 Bewertungen
Bewertung vom 22.09.2024
Die Töchter des Zauberers
Seemann, Annette

Die Töchter des Zauberers


ausgezeichnet

Erika Mann, die älteste Tochter des Literaturnobelpreisträgers Thomas Manns, war nicht nur Schauspielerin, Kabarettistin, Journalistin, Schriftstellerin, sondern unter anderem auch eine passionierte Autofahrerin. Beachtenswert ist ihr politisches Engagement, welches sich besonders in ihrem Kabarett „Die Pfeffermühle“ niederschlug und positive Resonanzen nach sich zog.

Das dritte Kind und die zweite Tochter war Monika. Von früh auf begeisterte sie sich für Musik, wurde jedoch stets von ihrer eigenen Familie belächelt. Sie war vom Schicksal geplagt und das besonders hinsichtlich der Liebe. Als sie sich mit ihrem Ehemann Jenő Lányi auf einer Überfahrt nach Amerika befand, wurde ihr Schiff von einem deutschen U-Boot beschossen, was ihrem Mann das Leben nahm. Anschließend litt sie lebenslang unter Depressionen, welche jedoch damals nie als solche diagnostiziert wurden.

Elisabeth war die jüngste Tochter der Manns und zugleich das Lieblingskind ihres Vaters. Ihr widmete er das in Hexametern verfasste Idyll „Gesang vom Kindchen“ und die Novelle „Unordnung und frühes Leid“. Mit ihrer ältesten Schwester teilte sie ihre Vorliebe für ältere Männer und heiratete in jungen Jahren den 36 Jahre älteren Guiseppe Antonio Borgese. Beruflich setzte sie sich in erster Linie mit dem Erhalt der Meere, aber u.a. auch der Genderforschung auseinander.

Alle drei Leben wurden vor Herausforderungen gestellt und vom Zeitgeschehen überschattet, dabei prägten sie die Zeit selbst in vielerlei Hinsicht.

Anschaulich schildert Annette Seemann die Leben der drei Frauen unter Einbeziehung der gesamten Familie und wichtigen Ereignissen, die alle betrafen.
Diesbezüglich wirft sie auch einen Blick auf die literaturwissenschaftliche Forschung sowie Briefe und Tagebücher der „Manns“.
Sorgsam ausgewählte, teils seltene Fotografien runden das Buch passend ab.

Mal wieder zeigt sich wie vielfältig und spannend nicht nur das Leben von Thomas und Heinrich, sondern der gesamten Familie Mann ist.

Bewertung vom 22.09.2024
Das Wesen des Lebens
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


sehr gut

»Einst brauchte die Seekuh keine Angst vor Raubtieren zu haben, doch egal, wo sich der Mensch ausbreitet, verschwinden alsbald große Arten«

Knapp 250 Jahre nach ihrer Ausrottung erweckt die Finnin Iida Turpeinen die Stellersche Seekuh mit ihrem Roman wieder zum Leben:
Kapitän Vitus Bering ist mit seiner Mannschaft, darunter der Naturforscher Georg Wilhelm Steller, auf dem Rückweg einer kräftezehrenden Expedition und glücklicherweise kann der heimatliche Hafen nicht mehr weit entfernt sein. Da bereits einige Tote zu beklagen sind, legen sie umgehend an der nächsten Bucht an, doch es ist nicht ihr Ziel. Dennoch bleiben sie einige Monate auf dieser später nach dem Kapitän bekannten Insel und Steller entdeckt wundersame, sich im flachen Wasser tümmelnde Tiere – die Stellersche Seekuh.
Schon nach kurzer Zeit werden Versuche unternommen diese bis zu acht Meter langen Tiere zu erlegen. Nachdem dieses Unterfangen nach anfänglichen Schwierigkeiten geglückt ist, erforscht Steller diese mystischen Wesen und zugleich offenbart sich deren Fleisch als beliebten Speise.
Nach Stellers Rückkehr fällt die grundsätzlich eher geringe Population der menschlichen Lustgier zum Opfer. Nicht einmal dreißig Jahre konnten seit ihrer Entdeckung verstreichen und schon gehörte diese besondere Seekuh wieder, wenn auch auf andere, traurigere Weise, der Vergangenheit an.
Doch ihr Weg ist nicht noch vorbei, denn auch ihr Skelett ist begehrt.
So beschäftigt sich der weitere Verlauf des Romans mit der Suche nach dessen Überresten, Rekonstruktion und Ausstellung in Museen. Auch wenn manche der folgenden Stellen für mich etwas langwieriger und für die Handlung nicht direkt bestimmend waren, geben sie interessante Einblicke in die Naturforschung.
Schließlich zeichnet Turpeinen eine Art biografische Zeitgeschichte der Stellerschen Seekuh, zwischen Naturschutz, Machtgier und Unterwerfung, von deren Entdeckung bis heute.

Ein Roman als Plädoyer für Artenschutz, der wachrüttelt und die Einzigartigkeit der Natur aufzeigt.

Bewertung vom 22.09.2024
Es ist 5 vor 1933
Ruch, Philipp

Es ist 5 vor 1933


ausgezeichnet

»Sie wollen, was sie sagen. Sie meinen, was sie tun. Sie bereiten den Umsturz schon vor.«

Wenn man bisher dachte, mit dieser Thematik ausreichend vertraut zu sein – ich selbst tat dies auch –, lag man eindeutig falsch!
Philipp Ruchs Buch ist ein Warnschuss, für alle, die ihn noch nicht gehört haben.

Überzeugend plädiert Ruch für ein Verbot der AfD und zieht gleich im ersten Kapitel Parallelen zur SRP (Sozialistische Reichspartei), welche im Jahr 1952 verboten wurde. Gründe hierfür gebe es genug. Immerhin fordert die AfD u.a. die Abschaffung des Parteienstaats, hin zur Diktatur sowie Abschiebungen im Sinne der sog. „Remigration“. Aber nicht nur bei Bürgern mit Migrationshintergrund, sondern auch innerhalb der etablierten Parteien soll gründlich „ausgemistet“ werden. Demzufolge ist gemäß Chrupalla „[a]uch das Grundgesetz […] nicht in Stein gemeißelt“.

Wir müssen die Aussagen der AfD anhören und sie endlich ernst nehmen, anstelle diese als belanglos abzutun oder darüber, halb lachend, zu spotten. Niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst, wenn es Realität wird. Man muss einzig und allein zuhören. Wie schon von Max Frisch in dessen Drama „Biedermann und die Brandstifter“ erwähnt: „[D]ie beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit. Komischerweise. Die glaubt niemand.“

Im Verlauf des Buches wird aufgezeigt wie vielfältig die Ursprünge der AfD-Mitglieder sind. Nicht wenige waren oder sind immer noch Teil einer oder gar mehrerer rechtsextremen Gruppierungen unterschiedlicher Ausrichtung, welche den Sturz der Regierung planen. Dazu passen die Ergebnisse einer Studie der Bertelsmann Stiftung (2020), woraus sich das schockierende Ergebnis ergibt, dass nur knapp 13% der AfD-Wähler keine rechtsextremen Anschauungen vertreten.
Ebenfalls werden schon seit jeher Sympathien für das NS-Vokabular gehegt.

Besonders gelungen sind zudem die Parallelen zum Nationalsozialismus sowie ein Blick in die Zukunft! Letztlich gewinnt die AfD immer mehr Zustimmung, weshalb das Buch so wichtig ist!

Bewertung vom 16.09.2024
Der längste Schlaf
Raabe, Melanie

Der längste Schlaf


ausgezeichnet

»Schlaf okkupiert ein Drittel unseres Lebens und determiniert die Qualität der anderen beiden Drittel. Und vor allem: Je mehr wir schlafen, desto länger leben wir.«

Mara Lux, wohnhaft in London, ist eine anerkannte Wissenschaftlerin auf dem Gebiet des Schlafes. Kaum jemand kennt sich mit dieser Thematik so gut aus wie sie. Doch sie selbst leidet seit ihrer Kindheit unter Schlaflosigkeit. Die Gründe dafür sind mysteriös, schließlich hat sie als Kind häufiger bestimmte Erlebnisse geträumt, welche sich kurze Zeit später in die Realität umwandelten. So auch der Tod ihrer eigenen Eltern. Irgendwann waren die Träume verschwunden. Als diese jedoch erneut wiederzukehren scheinen ist Mara alarmiert. Insbesondere nachdem sie ein unbekannter Notar, bezüglich einer ominöse Schenkung eines Herrenhauses in Deutschland, kontaktiert.
Parallel findet sich noch ein zweiter Handlungsstrang, der unabhängig der übergeordneten Handlung zu lesen scheint:
Zwei Kinder, ein Mädchen und ihr kleiner Bruder, sind, wider der Erlaubnis ihrer Eltern, zum Spielen in den Wald und unglücklicherweise in einen Brunnenschacht gestürzt. Das Mädchen will ihren Bruder nicht alleine lassen und versucht schnellstmöglich Hilfe zu holen. Doch schafft sie es?

Gleich zu Beginn des Romans findet man sich mitten im Geschehen wieder und ist gespannt welche Richtung die Geschichte einschlagen wird. Als klar wird, dass Mara dem Angebot der Schenkung nicht widerstehen kann und zu einer Reise nach Deutschland aufbricht, nimmt die Handlung auf rasante Weise Fahrt auf.
Einige unerwartete Geschehnisse ereignen sich und man selbst ist gebannt und gefangen! Jeder Versuch, das Buch abends beiseite zu legen scheitert kläglich, da die Cliffhanger einen ruhigen Schlaf unmöglich machen.

Wer Bücher von Stephen King liebt, wird diesem Buch von Melanie Raabe, in welchem sie gekonnt mit dem Mysterium des Übernatürlichen spielt, ebenfalls verfallen. Eine spannende Reise!

Bewertung vom 15.09.2024
Zwei Leben
Arenz, Ewald

Zwei Leben


ausgezeichnet

»Fragst du dich auch manchmal, ob das alles ist?«

Salach, ein kleines Dorf im Süden Deutschlands, im Jahre 1971. Nach ihrer Lehre zur Schneiderin kehrt die junge Roberta zurück, nach Hause, in ihr Dorf. Sie freut sich. Schließlich verlief die Ausbildung anders als erwartet und nun kann sie ihre Familie wieder tatkräftig bei der Bewirtschaftung der Felder und Versorgung der Tiere unterstützen. Das Dorf, das ist ihr Leben.
Schon am ersten Tag zurück in der Heimat trifft sie auf ihren Jugendfreund und Pfarrerssohn Wilhelm, dessen Leben so ganz anders verläuft, immerhin möchte er bald studieren. Dennoch erwischt es die beiden und da sie seit jeher Sympathien füreinander hegen, verlieben sie sich kopfüber ineinander.
Im Gegensatz zu Roberta fühlt sich Wilhelms Mutter Gertrud im Dorf gefangen und träumt davon diesem entfliehen zu können. Spätestens als sie mit ihrem Bruder Georg eine achtwöchige Reise macht, steht ihr Entschluss fest: Sie muss hier weg!
Doch beiden Schicksalen soll kein Glück beschert werden…

Lange hat es auch diesmal nicht gedauert, bis ich in einer weiteren Geschichte des Arenz‘schen Kosmos gefangen war. Dabei spielt Arenz die Unterschiede von Dorf und Stadt, der Idylle und dem Weltleben, gekonnt als gegensätzliche Laster und Sehnsüchte aus.
Darüberhinaus sensibilisiert der Roman – einem Stillleben gleich – die Lesenden für die leisen und sanften Töne des Lebens, welche eine alte, längst vergangene Welt heraufbeschwören und ihr wieder Leben einhauchen.
Doch die idyllische Geschichte zum Wohlfühlen ist nach etwa zwei Drittel des Romans abrupt vorbei und eine ganz andere Atmosphäre ist nun bestimmend. Ich bin ehrlich: Schon lange hat mich kein Buch mehr so berührt, emotional mitgenommen und traurig gemacht.
Während des Lesens lenken Arenz‘ einfühlsame und stets wohlgeformte Sätze auf zauberhafte Weise unsere Gefühle in jegliche Richtungen.

Dieser Roman ist ganz großes Kino. Eine Geschichte der Befreiung, von Zusammenhalt und Liebe, Sehnsucht und Trauer, der Wiederentdeckung des Vergangenem und dem Aufbruch ins Neue.

Bewertung vom 13.09.2024
Im Dickicht
Richter, Matthias

Im Dickicht


ausgezeichnet

»Wer immer es ist, den ihr sucht: ich bin es nicht.«

Matthias Richters vier „Nachtstücke“ des sog. „Stückeschreibers“, einem fiktiven Alter Ego Bertolt Brechts, sind in den Monaten vor dessen Tod am 14. August 1956 angesetzt.
Als Lesende treffen wir zuerst auf den „Stückeschreiber“ in der Charité, der sich seinem nahenden Tod bewusst wird. Die folgenden drei „Nachtstücke“ spielen sich überwiegend in Brechts letzter Wohnstätte, der Chausseestraße 125, mit jeweils einem weiteren Hauptgesprächspartner ab.
Dabei wird er u.a. vom Leiter des Aufbau Verlags, Herrn Janka, mit seinen Ansichten des Stalinismus konfrontiert und muss sich mit den Gräueltaten der erst jungen DDR-Diktatur auseinandersetzen.
Auch auf Thomas Mann, welchen er hasserfüllt als Aushängeschild des Bürgertums und des Kapitalismus ansieht, kommen sie zu sprechen. War sein abtrünniger Hass gegen diesen eventuell Neid und eine Art persönliches Eingeständnis, dass seine ganzen Vorwürfe nicht stimmten? Schließlich hatte er nicht mal seine Werke gelesen, aber maßte sich an, darüber zu urteilen.
Dabei schreckt der Autor auch vor unangenehmen Fragen und Brechts Ansichten bezüglich des Kommunismus oder auch Frauen, die teils Widersprüche in sich darstellen, nicht zurück.

Als Lesender stolpert man zuhauf über eingewebte Zitate aus Brechts Werken und bemerkt Matthias Richters Freude am Fabulieren. Das Buch entzaubert das reale Vorbild, hebt ihn von seinem Dichter-Thron und zeigt ihn wie er war: ein Mensch mit unzähligen merkwürdigen, eitlen und teils widerlichen Eigenheiten.
Dabei sind die Vexierspiele dieser fiktiven Gespräche einfach nur grandios!
Schließlich hätten diese genauso stattgefunden haben können, da Brechts Ansichten nicht erfunden, sondern belegt sind.

Wer sich für Brecht interessiert, für den ist das Buch eine große Bereicherung, für alle anderen ist es lohnenswert, sich dem wohl bedeutendsten Dramatiker des letzten Jahrhunderts auf eine ganz persönliche, durchaus fiktive Weise zu nähern.

Bewertung vom 11.09.2024
Protokoll einer Annäherung
Korth, Anne

Protokoll einer Annäherung


sehr gut

»Manchmal, sagt er, ist mir die Welt um mich herum wie ein Bild, das ich mir anschaue, oder wie ein Film, von dem ich fasziniert bin, und ich wünsche mir dann, auch Teil davon zu sein, doch ich weiß nicht wie?«

Maries Leben ändert sich plötzlich. Als ein junger Mann namens Robert und sie in der Bibliothek Blicke tauschen und sie ihm einen Zettel mit ihrer Nummer in den Gepäckträger seines Fahrrads wirft, folgen erste Treffen und ein gegenseitiges, langsames Kennenlernen. Eigentlich die perfekte Liebesgeschichte, würden sich nicht ständig belastende Erinnerungen an ihren Ex-Freund K., welcher nach einem erneuten Treffen bereits nach der Beziehung, ihr gegenüber übergriffig wurde. Jetzt hat Marie Schwierigkeiten sich auf Nähe einzulassen und fühlt sich verfolgt, schließlich kann sie nicht vergessen. Als zudem ihre beste Freundin Sara die Stadt verlässt, belastet sie das noch mehr.
Eine besondere Rolle kommt der Ich-Erzählerin zu, die eine teils außenstehende Perspektive einnimmt und sich überraschend mitten im Geschehen wiederfindet.

Leise, sanft und einfühlsam wird der Text von Anne Korth skizzenhaft erzählt. Oftmals werden Eindeutigkeiten bewusst ausgelassen, um sie der Fantasie der Lesenden anzuvertrauen. Dabei beschäftigt sich das Buch in erster Linie mit der Bewältigung von Maries Erlebnissen mit K. und wie sie damit umzugehen versucht, bis diese sie wieder unerwartet einholen.

Leider fehlt diesem Roman eine gewisse Tiefe, welche den oberflächlichen Schilderungen der Figuren Leben eingehaucht hätte. Zwar sind die zahlreichen Dialoge brilliant geschrieben, aber bis auf einige Charakterisierung bleiben die Protagonisten, geschweige denn die wenigen Randfiguren, nur Skizzen ihrer selbst. Doch wahrscheinlich war das genauso gewollt. Schade, schließlich hätte ich gern mehr über die Figuren, ihr Vorleben und besonders ihre Gedanken erfahren.

Nichtsdestotrotz ist der Debütroman von Anne Korth ein gelungenes Buch, auch wenn er mich persönlich nicht über die Maßen begeistern konnte.

Bewertung vom 10.09.2024
Emigrant des Lebens
Eisenhauer, Gregor

Emigrant des Lebens


ausgezeichnet

»Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?«

Eigentlich hatte Erich Kästner alles, um glücklich zu sein. Er war ein erfolgreicher Autor, beliebt bei Jung und Alt. Eigentlich.
Doch wirklich glücklich konnte er nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr werden, ganz im Gegenteil. Kästner vegetierte in München vor sich hin, ertrank sich im Alkohol und zelebrierte seinen ganz persönlichen Gang vor die Hunde.

Doch warum war Kästner in seinen letzten Lebensjahren so unglücklich?
Schuld daran trug insbesondere sein übermäßiger Alkoholkonsum, wobei dieser eher eine Folge von Vorangegangenem war.
Verantwortlich für seinen Zustand war zuvorderst seine nicht ausgelebte Kindheit, unter seiner besitzergreifenden Mutter, für die er ihr alleiniger Lebensinn war. Dabei erdrückte sie ihren einzigen Sohn mit zu viel Liebe und verwehrte ihm das eigene Lieben zu lernen, woran er sein ganzes Leben litt.
Folglich konnte er keinen Schlussstrich unter die Jahrzehnte andauernde Beziehung zu Luiselotte Enderle setzen, betrog sie ständig mit Affären und belog sie bezüglich seinem Sohn mit der viel jüngeren Friedel Siebert.
Daneben prägten ihn die Jahre der Inneren Emigration nachhaltig. Sein angekündigter großer Roman über das Dritte Reich blieb schließlich ungeschrieben. Zu schwer lastete die Vergangenheit, zu tief waren die Wunden und zu grausam das persönliche Eingestehen, zu welchen Taten Menschen wirklich im Stande waren und immer noch sind.
Kästner hatte alles und war dennoch – anders als seine Romane es auf den ersten Blick vermuten lassen – ein von Kind auf unglücklicher und von der Zeit geprägter Mensch.

Auch wenn der Autor Gregor Eisenhauer für begeisterte Kästner-Leser nicht wirklich etwas Neues zu erzählen weiß, ist sein Buch eine ganz ungewohnte Annäherung an Kästner. Eisenhauer begibt sich auf eine biografische Suche nach Kästners Unglück und verfolgt mehrere mögliche Ansätze, deren Summe Kästners endgültigen Zustand nach sich zog.
Ein grandioses Buch, das bei keinem Kästner-Fan im Bücherregal fehlen darf!

Bewertung vom 08.09.2024
Daniel Kehlmann über Leo Perutz / Bücher meines Lebens Bd.6
Kehlmann, Daniel

Daniel Kehlmann über Leo Perutz / Bücher meines Lebens Bd.6


ausgezeichnet

»Was im Buch Plot ist, ist im Leben unser Schicksal.«

Wer sich mit Daniel Kehlmann beschäftigt weiß, dass dieser eine große Begeisterung für die Werke von Leo Perutz hegt. Wer es noch nicht wusste, wird dessen Begeisterung spätestens nach den ersten Seiten dieses Buchs merken. Darüberhinaus gelingt Kehlmann seine Leidenschaft auf den Leser zu übertragen, sodass dieser alle besprochenen und thematisierten Bücher gerne selbst – am Besten sofort – lesen möchte.
Allein aus diesem Grund lässt sich folgern, dass dieses nur knapp hundert Seiten umfassende Buch seine Wirkung – zumindest bei mir – regelrecht entfalten und mich begeistern konnte. Es wird Zeit, dass ich mich endlich(!) mal dem vielversprechenden Werke von Perutz widme.

Nach einer kurzen Einführung von Volker Weidermann, dem Herausgebers der Reihe „Bücher meines Lebens“, folgen knappe Kapitel über Besonderheiten bei Perutz’ literarischem Schaffen sowie eine Vorstellung dessen Biografie durch den Autoren. Währenddessen brilliert Kehlmanns Stil in diesen ersten Kapiteln!
Durch diese Kapitel erfahren die Lesenden z.B., dass Kafka zeitweise in der selben Versicherungsgesellschaft wie Perutz arbeitete.

Nachdem mehrere Erzählungen und Romane in nur wenige Seiten umfassenden Kapiteln angerissen wurden, widmet sich die gesamte zweite Hälfte des Buchs Perutz’ gemäß Kehlmann „beste[m] Roman“ und „geheimen Meisterwerk[]“: „Nachts unter der steinernen Brücke“. Dieses Buch umfasst vierzehn, auf den ersten Blick voneinander unabhängige Erzählungen, welche sich nach und nach zu einem Gesamtbild fügen.
Bis dato war mir nicht bekannt, dass Kehlmanns Roman „Ruhm“ in Anlehnung an diesen Roman geschrieben wurde und eine darin vorkommende Figur den Namen Leo als Würdigung dessen Kompositionsprinzips und Gesamtwerks trägt.

Ganz egal, ob ihr Leo Perutz bereits kennt oder ihr ihn erst noch entdecken wollt, dieses Buch bietet einen dankbaren Einstieg in sein literarisches Schaffen, das man sicherlich nicht nur einmal zur Hand nimmt.

Bewertung vom 05.09.2024
Freiheitsschock
Kowalczuk, Ilko-Sascha

Freiheitsschock


ausgezeichnet

Schonungslos, radikal und ehrlich. Diese Wörter treffen den Stil von Kowalczuks Essay, der sich mit der Gesellschaft Ostdeutschlands ab dem Fall der Mauer auseinandersetzt, wohl am Besten.
Dem Begriff „Freiheit“ wird dabei eine tragende Rolle zugeteilt, schließlich ist dieser für ihn kein starrer Zustand, sondern ein fortlaufender Prozess, mit dem sich jede Generation erneut auseinandersetzen muss, um sie zu erhalten.

Bei vielen Menschen aus Ostdeutschland lässt sich nach 1989 eine Überforderung, der sog. titelgebende „Freiheitsschock“, sowie eine Belastung durch Transformation und die dazukommende Verklärung der Vergangenheit erkennen. Darüberhinaus gab es keine Schulung über Demokratie und Freiheit, wie es in der BRD im Sinne der amerikanischen Re-Education stattfand.
So folgert Kowalczuk, dass keine mehrheitlich politische sowie demokratische Zivilgesellschaft entstanden ist, sondern sich die Trägheit autoritärer Vergangenheit widerspiegelt und teils gar als Sehnsuchtszustand fungiert.
Dazu kommt noch der Aspekt, dass nicht wenige Menschen der Auffassung sind, dass wir aktuell in einer Quasi-Diktatur leben und man sich durch die Wahl extremistischer Parteien davon befreien kann.
Anhand konkreter Beispiele macht der Historiker deutlich wie tief Diskriminierungen unterschiedlicher Ausprägung oder Nationalismus in den gesellschaftlichen Strukturen der DDR verankert waren und folglich nicht einfach verschwanden.

Für Dirk Oschmann, Sahra Wagenknecht und insbesondere die gesamte AfD hat er kaum ein gutes Wort übrig. Ebenfalls beäugt er die Umwandlung der SED zur PDS und zur späteren Partei „Die Linke“ als problematisch, schließlich wandelte sich eine Diktaturpartei zu einer demokratischen Partei der Emanzipation und unterstützt in mancher Hinsicht noch immer antiwestliche und prorussische Ansichten.
Dabei blickt er auch auf die Familien der Schauspielerin Sandra Hüller sowie der Schriftstellerin Jenny Erpenbeck und kommentiert deren überwiegend positive Erinnerungen an die DDR kritisch.

Eine ganz große Empfehlung!