Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
den Abfall
Fernanda Trías beschreibt
eine Gesellschaft, die an einer
pinken Katastrophe zerbricht
Angefangen hat es mit den Algen. Sie färbten das Wasser in dunkles lila, das sah noch schön aus. Dann aber kamen die toten Fische, die sich in Stapeln am Strand türmten. Man entfernte sie, aber da war es längst zu spät. Der rosa Wind kam, die Sache mit dem Fleisch, die Häutungen. Die Reichen ziehen sich ins Landesinnere zurück, die Armen ernähren sich nur noch von rosa Schleim, einem Abfallprodukt der Fleischindustrie.
Als der Gesundheitsminister zurücktritt, verleiht der Nachfolger dem Ministerium auch gleich einen neuen Slogan: Jedes Leben ist einzigartig. Was natürlich nur eine andere Art ist das auszudrücken, was ohnehin alle spüren: Nicht alle Leben sind gleich viel wert.
Das ist die Ausgangslage in „Rosa Schleim“ von Fernanda Trías, aus dem Spanischen übersetzt von Petra Strien. Und ja, der Roman bedient alle dystopischen Motive, mit denen man nach drei Corona-Jahren eben so vertraut ist. Die leer gefegten Straßen, die Masken, die überfüllten Krankenhäuser. Es gibt sogar die Talkshows, in denen meinungsstarke Schriftsteller etwas über den Zustand der Gesellschaft sagen, aber niemand genau weiß, was sie eigentlich dazu qualifiziert.
Es wäre trotzdem ein Fehler, den Roman wie eine Abhandlung über die Pandemie zu lesen. Fernanda Trías, geboren 1976 in Montevideo, hat ihren dritten Roman geschrieben, bevor die Pandemie ausgebrochen ist. Sie erzählt von Hunger und Begehren, vom Verfall der Körper, des Ökosystems, aber auch der Beziehungen. Und umkreist damit einer Frage, die sich zwar durch die Pandemie mit neuer Qualität aufgedrängt hat, sich aber schon immer stellte: Kann es sein, dass wir in unseren Beziehungen gar nicht so selbstbestimmt sind, wie wir glauben zu sein?
„Rosa Schleim“ wird aus der Perspektive einer etwa 40 Jahre alten Frau erzählt, und wenn man sie fragen könnte, würde die Antwort vermutlich ziemlich eindeutig ausfallen. Die Erzählerin lebt in einer Hafenstadt und versucht, sich frei durch das dichte Netz der Beziehungen in ihrem Leben zu bewegen, verfängt sich allerdings dabei immer wieder. Immer wieder schlittert sie in soziale Situationen, für die sie sich eigentlich gar nicht entschieden hat. Sie ist kinderlos und findet sich aber doch in der Mutterrolle wieder. Zwar ist sie von ihrem Ex getrennt, doch kümmert sie sich weiterhin um ihn. Sie ist erwachsen, wird von ihrer Mutter aber wie ein Kind behandelt.
Da ist zum Beispiel Mauro, ein Junge, der an einer Krankheit leidet, die ihm unendlichen Hunger bereitet. Die Erzählerin kümmert sich um das Kind, sie wird zwar von seinen Eltern bezahlt, trotzdem fühlt es sich an, als könne kein Geld der Welt das wettmachen, was sie leistet. Da ist Max, ihr Ex, der sich mit der mysteriösen Seuche angesteckt hat, aber nicht an ihr stirbt – er liegt deswegen im Krankenhaus in einem lähmenden Zustand, der zwar zu keiner Verschlechterung führt, aber auch keine Verbesserung verspricht.
Und da ist ihre Mutter, die alleine wohnt. So eine Frau kann man doch jetzt nicht vereinsamen lassen? Die Tochter wird zum Zentrum des Lebens ihrer Mutter, der Ausnahmezustand potenziert die Konflikte, denen man früher so gut aus dem Weg gehen konnte. Nirgends gelingt es Trías so wie hier, den Widerspruch zu zeigen, der ihren Umgang mit den Menschen in ihrem Leben prägt. Auf der einen Seite das Gefühl, irgendwie nicht voneinander loszukommen, sich zu brauchen, schließlich: man teilt ja immerhin eine Geschichte. Auf der anderen Seite die Enge, das Gefühl, in den Rollen unterzugehen, die einem zugeschrieben werden. An einer Stelle wünscht sich die Protagonistin, sie und ihre Mutter könnten sich einfach hassen wie früher.
Zwischen einzelnen Kapiteln tauchen Dialogfragmente auf, von denen nicht klar ist, zwischen wem und ob sie tatsächlich stattgefunden haben. Sie fügen sich ein in das Bild des rosa Nebels, der nicht nur die Stadt umhüllt, sondern auch die Vergangenheit der Protagonistin.
Als die Erzählerin jünger ist, kocht die Mutter ihr Würstchen. Die Erzählerin weigert sich zu essen, die Mutter zwingt sie, stopft ihr das Essen in den Mund. Bis die Tochter sagt, dass sie Schmerzen habe. Das wisse sie schon, entgegnet die Mutter. „Warum?“, schreit die Tochter. Die Mutter antwortet: „Weil ich deine Mutter bin.“
SIMON SALES PRADO
Kann es sein, dass wir in
Beziehungen gar nicht
so selbstbestimmt handeln?
Sie würde ihre Mutter
gern einfach genauso
hassen wie früher
Fernanda Trías: Rosa Schleim. Roman. Ullstein Verlag, Berlin 2023.
288 Seiten, 23 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de