David Graeber
eBook, ePUB
Piraten (eBook, ePUB)
Auf der Suche nach der wahren Freiheit
Übersetzer: Roller, Werner
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Das Schauspiel sagenumwobener Piraten, ihrer Königreiche, Gräueltaten und anarchistischen Utopien erregte im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt Aufsehen. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, schockierten und inspirierten die europäischen Eliten. Piraten und Freibeuter schufen die wirklich revolutionären Ideen für eine offene Weltgemeinschaft. Dieses utopische Potential elektrisierte David Graeber und lässt seine intellektuellen Funken auf seine Leser überspringen. David Graeber, der bedeutendste Anthropologe unserer Zeit, wagt eine provokative These: Der Westen belügt sich un...
Das Schauspiel sagenumwobener Piraten, ihrer Königreiche, Gräueltaten und anarchistischen Utopien erregte im 18. Jahrhundert in der ganzen Welt Aufsehen. Gerüchte verbreiteten sich wie ein Lauffeuer, schockierten und inspirierten die europäischen Eliten. Piraten und Freibeuter schufen die wirklich revolutionären Ideen für eine offene Weltgemeinschaft. Dieses utopische Potential elektrisierte David Graeber und lässt seine intellektuellen Funken auf seine Leser überspringen. David Graeber, der bedeutendste Anthropologe unserer Zeit, wagt eine provokative These: Der Westen belügt sich und die Welt über seine Geschichte, seinen Eurozentrismus, seinen Rassismus und seine kapitalistische Ideologie. Wechseln wir die Perspektive, wird Geschichte mit einem Schlag wieder lebendig, denn hier geht es um Menschen, um ihre Freiheit und ihren riskanten Alltag. Mit David Graeber tauchen wir ein in die >andere<, anarchistische Geschichte von Magie, Lügen, Seeschlachten, Sklavenaufstände, Menschenjagden, Königreichen, Spionen und Juwelendieben. Die Welt der Abenteuer verbindet sich mit historischen Fakten und literarischer Phantasie. Am Rand der Welt - in Madagaskar, in der Karibik oder im Orient - spüren wir dem Ursprung von Freiheit, Anarchie und Demokratie nach, die nicht im Westen entdeckt, sondern von ihm gekapert wurden. Mitreißend erzählt David Graeber diese Gegengeschichte und entdeckt souverän »nie begangene Wege« für unsere aus den Fugen geratene Welt.
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David Graeber (1961-2020) war Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Weltbestseller »Schulden«, »Bullshit Jobs« und »Bürokratie« und Vordenker von »Occupy Wall Street«. Völlig überraschend starb David Graeber am 2. September 2020 in Venedig. Sein letztes großes Werk »Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit« erschien postum im Frühjahr 2022 bei Klett-Cotta.
Produktdetails
- Verlag: Klett-Cotta Verlag
- Seitenzahl: 256
- Erscheinungstermin: 14. Januar 2023
- Deutsch
- ISBN-13: 9783608121506
- Artikelnr.: 66410129
Der Hölle doch sehr zugeneigt
Frei auf hoher See: Siegfried Kohlhammer wettert gegen ein sozialromantisches Bild der Piraten, zu dem es David Graeber hingegen zog.
Eine madagassische Sage beginnt so: Gott und der Mensch waren unzertrennliche Gefährten. Eines Tages sagte Gott zum Menschen: Warum gehst du nicht eine Zeit lang fort und siehst dich auf der Erde um, damit wir neue Themen für unsere Gespräche finden? - Wir wissen allerdings nicht, wie diese Sage weitergeht. Es könnte aber sein, dass Gott darüber erheitert wäre, wie sehr sich die Menschen auf der Erde für madagassische Piratengeschichten interessieren. Denn solche erzählt das neue, aus dem Nachlass herausgegebene Buch von David Graeber. Während ein anderes
Frei auf hoher See: Siegfried Kohlhammer wettert gegen ein sozialromantisches Bild der Piraten, zu dem es David Graeber hingegen zog.
Eine madagassische Sage beginnt so: Gott und der Mensch waren unzertrennliche Gefährten. Eines Tages sagte Gott zum Menschen: Warum gehst du nicht eine Zeit lang fort und siehst dich auf der Erde um, damit wir neue Themen für unsere Gespräche finden? - Wir wissen allerdings nicht, wie diese Sage weitergeht. Es könnte aber sein, dass Gott darüber erheitert wäre, wie sehr sich die Menschen auf der Erde für madagassische Piratengeschichten interessieren. Denn solche erzählt das neue, aus dem Nachlass herausgegebene Buch von David Graeber. Während ein anderes
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Piratenbuch von Siegfried Kohlhammer eine geradezu entgegengesetzte Position einnimmt.
Piraterie ist ein sehr altes Gewerbe. Schon bei Cicero findet sich eine legendäre Verdammung der Piraten als "gemeinsamer Feind aller" (communis hostis omnium). Sie führte zur Bekämpfung und letztendlichen Kriminalisierung des Piratenunwesens auf hoher See durch das Völkerrecht des neunzehnten Jahrhunderts: Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 verbot die Kaperei. Genauso alt sind aber auch die sozialromantischen Erklärungen des Piratenlebens. Hier wurde piratische Freiheit durch Selbstorganisation gefeiert, und zwar als Gegenmodell zum modernen Staat als Zwangsanstalt westlicher Prägung - und das macht auch die Faszination für David Graeber aus.
Anstelle von obrigkeitlichem Zwang herrschte auf den Schiffen unter der Totenkopfflagge mutmaßlich solidarische Liberalität. Anstelle unfreier europäischer Gesellschaften, in denen fürstliche Autorität ständische Modelle von Ungleichheit immer engmaschiger normierte, ging es an Deck und unter Deck drastisch locker zu: Nüchternheit machte Männer verdächtig, (vermeintlich) freie Sexualität wurde praktiziert, die Sklaverei war abgeschafft. Die populären Abbilder dieses Narrativs werden im Kino aufbereitet.
Siegfried Kohlhammers schmales Büchlein, in nüchternes Schwarz gewandet (aber natürlich ohne Totenkopf), ist dagegen eine gepfefferte Polemik. Sein Zorn über die falsche piratische Sozialromantik ist so leidenschaftlich, dass er schon wieder amüsiert. Kohlhammer, freier Publizist und Übersetzer, hat allerlei Geschichtsbilder zusammengetragen, in denen die Piraten für seinen Geschmack moralisch zu gut wegkommen statt vom Seegerichtshof der Geschichte verurteilt zu werden.
Kohlhammer findet die Verdammung des Seeraubs ganz richtig, die Aufwertung der Seeräuber als Vorkämpfer für Freiheit und Gleichheit scheint ihm ganz verkehrt. Er identifiziert drei mutmaßliche Hauptvertreter piratophiler Ideologien - "Marxisten und Arbeiterbewegte, Anarchisten und Dionysiker in der Nachfolge Nietzsches". Während das Buch am Anfang eine Breitseite nach der anderen auf Pappkameraden abfeuert, gewinnt es mit zunehmendem Verlauf doch an Differenziertheit. Ein Gutteil des Ärgers adressiert falsche Geschichtsbilder von Nichthistorikern; ein anderer politisiert in überschießender Weise Piratenfolklore, die so viel intellektuelle Aufwertung gar nicht verdient.
Interessanter ist die Einbettung der Piraten in eine vormoderne Gewaltgeschichte und insbesondere in Kolonialismus und Imperialismus. Denn illegale Piraterie und legale Staatsgewalt waren keineswegs immer ein Gegensatzpaar. Vormoderne Obrigkeiten statteten Kapitäne mit Kaperbriefen aus. Die Freibeuter der Meere waren insofern teils autonome, auf Gewinn erpichte Unternehmer. Teils waren sie aber auch ein Instrument staatlich gedeckter, gewaltsamer Selbsthilfe auf hoher See, analog den mittlerweile verpönten völkerrechtlichen Repressalien, und sie unterstützten imperiale und koloniale Herrschaftsansprüche. In der Nacherzählung dieser Ambivalenz stützt sich Kohlhammer auf Geschichtsforschung, die er um des Streites willen ins Unrecht zu setzen versucht.
Ein Beispiel für die von Kohlhammer kritisierte fortexistierende Romantisierung der Piraterie bietet das Buch David Graebers. Der Verlag hat es in der deutschen Übersetzung mit dem denkbar knalligsten Titel ausstaffiert, und so prangt "Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit" in Großbuchstaben auf dem leuchtend roten Cover. Welch ein Etikettenschwindel!
Denn eigentlich, so schreibt es auch Graeber selbst, sollte dieser Text Teil eines Buches über (betrügerische) Könige werden. Graeber ist Anthropologe, hatte um 1989/1991 auf Madagaskar geforscht, und wenn er nicht durch andere Titel zu Weltruhm gekommen wäre, hätte sich wohl kaum ein Verleger erbarmt, dieses Manuskript überhaupt zu drucken. Aber durch Graebers alternative Leseweisen der Menschheitsgeschichte und seinen politischen Aktivismus hat er ein Paradigma erschaffen und Publikum angelockt, für das der Verlag seine anarchistischen Ideen in neuen historischen Erzählungen vermarktet.
Im Kern möchte Graeber über ein utopisches Experiment von Piraten berichten, welches mutmaßlich auf Madagaskar stattgefunden hat. Dort sei um 1700 ein Piratenkönigreich gegründet worden. Seine politischen Merkmale passen ziemlich genau auf jenes Muster, das Kohlhammer immer wieder aufspießt: Die Piratengesellschaft sei ein Experiment "radikaler Demokratie" und alternativer Eigentumsverhältnisse gewesen, ähnlich wie auf den Piratenschiffen, nur dass sie auf das madagassische Festland übertragen wurde. Graeber bezeichnet es als "proto-aufklärerisches politisches Experiment".
Dem Buch fehlt allerdings eine hinreichend dichte Beweisführung, um es historisch überzeugend zu finden, und erzählerisch ist es oft eine Zumutung. Die Quellenlage ist - wie Graeber selbst zugibt - "mager". Der Autor stützt sich auf ein überliefertes Manuskript und gibt sich durch weitere Indizien ausreichend überzeugt, dass es sich so zugetragen haben könnte, wie er glaubt. Dass das politische Experiment allerdings mit so vielen Charakteristika geschmückt wird, die dem Autor politisch sympathisch erscheinen, macht seine Interpretation zeitgeistig verdächtig: Die Nordostküste von Madagaskar wird für "Vielfalt" und "Kosmopolitismus" gepriesen; Sprache und Ideologie der Piraten seien von der systematischen Ablehnung der Religion durchdrungen gewesen: "Die Hölle lockte unverdrossen"; politisch sei das Gebilde geprägt gewesen von der charismatischen Persönlichkeit eines brillanten Piratenkindes, das diese egalitäre, "dezentralisierte Basisdemokratie" nach außen hin als Königreich präsentierte. Auch die prominente Rolle von Frauen im politischen Prozess klingt zu feministisch-progressiv, um wahr zu sein. Angesichts der Selbsteinsicht des Autors sind seine spekulativen Schlüsse über "den Westen" und die europäische Aufklärung erstaunlich weitreichend.
Nicht nur die historische Stichhaltigkeit ist ein Problem des Buchs. Erzählerisch fehlt dem Text jene Frische, den die Erfolgstitel Graebers besitzen. Die Kombination aus langen Quellenpassagen und kleinteiligen Sachverhaltsschilderungen lässt den Leser in einer Stimmung vor sich hindümpeln, die jener der Einsamkeit auf hoher See bei Flaute nahekommen dürfte: Wir gähnten vor Madagaskar und hatten die Langeweile an Bord. Aber Graebers Erzählung bedient Menschen, die sich überreglementiert oder bevormundet fühlen und historische Gegenentwürfe der Rebellion suchen. In ihren guten Passagen ist sie eine historische, spekulative Spezialstudie, deren eigentlicher Adressat ein kritisches Fachpublikum der Anthropologie sein sollte. Aber nicht nur in madagassischen Volkssagen herrscht manchmal überschießende Sehnsucht nach neuem Gesprächsstoff. MILOS VEC
David Graeber: "Piraten". Auf der Suche nach der wahren Freiheit.
Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 256 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Siegfried Kohlhammer: "Piraten". Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär.
zu Klampen Verlag, Springe 2022. 168 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Piraterie ist ein sehr altes Gewerbe. Schon bei Cicero findet sich eine legendäre Verdammung der Piraten als "gemeinsamer Feind aller" (communis hostis omnium). Sie führte zur Bekämpfung und letztendlichen Kriminalisierung des Piratenunwesens auf hoher See durch das Völkerrecht des neunzehnten Jahrhunderts: Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 verbot die Kaperei. Genauso alt sind aber auch die sozialromantischen Erklärungen des Piratenlebens. Hier wurde piratische Freiheit durch Selbstorganisation gefeiert, und zwar als Gegenmodell zum modernen Staat als Zwangsanstalt westlicher Prägung - und das macht auch die Faszination für David Graeber aus.
Anstelle von obrigkeitlichem Zwang herrschte auf den Schiffen unter der Totenkopfflagge mutmaßlich solidarische Liberalität. Anstelle unfreier europäischer Gesellschaften, in denen fürstliche Autorität ständische Modelle von Ungleichheit immer engmaschiger normierte, ging es an Deck und unter Deck drastisch locker zu: Nüchternheit machte Männer verdächtig, (vermeintlich) freie Sexualität wurde praktiziert, die Sklaverei war abgeschafft. Die populären Abbilder dieses Narrativs werden im Kino aufbereitet.
Siegfried Kohlhammers schmales Büchlein, in nüchternes Schwarz gewandet (aber natürlich ohne Totenkopf), ist dagegen eine gepfefferte Polemik. Sein Zorn über die falsche piratische Sozialromantik ist so leidenschaftlich, dass er schon wieder amüsiert. Kohlhammer, freier Publizist und Übersetzer, hat allerlei Geschichtsbilder zusammengetragen, in denen die Piraten für seinen Geschmack moralisch zu gut wegkommen statt vom Seegerichtshof der Geschichte verurteilt zu werden.
Kohlhammer findet die Verdammung des Seeraubs ganz richtig, die Aufwertung der Seeräuber als Vorkämpfer für Freiheit und Gleichheit scheint ihm ganz verkehrt. Er identifiziert drei mutmaßliche Hauptvertreter piratophiler Ideologien - "Marxisten und Arbeiterbewegte, Anarchisten und Dionysiker in der Nachfolge Nietzsches". Während das Buch am Anfang eine Breitseite nach der anderen auf Pappkameraden abfeuert, gewinnt es mit zunehmendem Verlauf doch an Differenziertheit. Ein Gutteil des Ärgers adressiert falsche Geschichtsbilder von Nichthistorikern; ein anderer politisiert in überschießender Weise Piratenfolklore, die so viel intellektuelle Aufwertung gar nicht verdient.
Interessanter ist die Einbettung der Piraten in eine vormoderne Gewaltgeschichte und insbesondere in Kolonialismus und Imperialismus. Denn illegale Piraterie und legale Staatsgewalt waren keineswegs immer ein Gegensatzpaar. Vormoderne Obrigkeiten statteten Kapitäne mit Kaperbriefen aus. Die Freibeuter der Meere waren insofern teils autonome, auf Gewinn erpichte Unternehmer. Teils waren sie aber auch ein Instrument staatlich gedeckter, gewaltsamer Selbsthilfe auf hoher See, analog den mittlerweile verpönten völkerrechtlichen Repressalien, und sie unterstützten imperiale und koloniale Herrschaftsansprüche. In der Nacherzählung dieser Ambivalenz stützt sich Kohlhammer auf Geschichtsforschung, die er um des Streites willen ins Unrecht zu setzen versucht.
Ein Beispiel für die von Kohlhammer kritisierte fortexistierende Romantisierung der Piraterie bietet das Buch David Graebers. Der Verlag hat es in der deutschen Übersetzung mit dem denkbar knalligsten Titel ausstaffiert, und so prangt "Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit" in Großbuchstaben auf dem leuchtend roten Cover. Welch ein Etikettenschwindel!
Denn eigentlich, so schreibt es auch Graeber selbst, sollte dieser Text Teil eines Buches über (betrügerische) Könige werden. Graeber ist Anthropologe, hatte um 1989/1991 auf Madagaskar geforscht, und wenn er nicht durch andere Titel zu Weltruhm gekommen wäre, hätte sich wohl kaum ein Verleger erbarmt, dieses Manuskript überhaupt zu drucken. Aber durch Graebers alternative Leseweisen der Menschheitsgeschichte und seinen politischen Aktivismus hat er ein Paradigma erschaffen und Publikum angelockt, für das der Verlag seine anarchistischen Ideen in neuen historischen Erzählungen vermarktet.
Im Kern möchte Graeber über ein utopisches Experiment von Piraten berichten, welches mutmaßlich auf Madagaskar stattgefunden hat. Dort sei um 1700 ein Piratenkönigreich gegründet worden. Seine politischen Merkmale passen ziemlich genau auf jenes Muster, das Kohlhammer immer wieder aufspießt: Die Piratengesellschaft sei ein Experiment "radikaler Demokratie" und alternativer Eigentumsverhältnisse gewesen, ähnlich wie auf den Piratenschiffen, nur dass sie auf das madagassische Festland übertragen wurde. Graeber bezeichnet es als "proto-aufklärerisches politisches Experiment".
Dem Buch fehlt allerdings eine hinreichend dichte Beweisführung, um es historisch überzeugend zu finden, und erzählerisch ist es oft eine Zumutung. Die Quellenlage ist - wie Graeber selbst zugibt - "mager". Der Autor stützt sich auf ein überliefertes Manuskript und gibt sich durch weitere Indizien ausreichend überzeugt, dass es sich so zugetragen haben könnte, wie er glaubt. Dass das politische Experiment allerdings mit so vielen Charakteristika geschmückt wird, die dem Autor politisch sympathisch erscheinen, macht seine Interpretation zeitgeistig verdächtig: Die Nordostküste von Madagaskar wird für "Vielfalt" und "Kosmopolitismus" gepriesen; Sprache und Ideologie der Piraten seien von der systematischen Ablehnung der Religion durchdrungen gewesen: "Die Hölle lockte unverdrossen"; politisch sei das Gebilde geprägt gewesen von der charismatischen Persönlichkeit eines brillanten Piratenkindes, das diese egalitäre, "dezentralisierte Basisdemokratie" nach außen hin als Königreich präsentierte. Auch die prominente Rolle von Frauen im politischen Prozess klingt zu feministisch-progressiv, um wahr zu sein. Angesichts der Selbsteinsicht des Autors sind seine spekulativen Schlüsse über "den Westen" und die europäische Aufklärung erstaunlich weitreichend.
Nicht nur die historische Stichhaltigkeit ist ein Problem des Buchs. Erzählerisch fehlt dem Text jene Frische, den die Erfolgstitel Graebers besitzen. Die Kombination aus langen Quellenpassagen und kleinteiligen Sachverhaltsschilderungen lässt den Leser in einer Stimmung vor sich hindümpeln, die jener der Einsamkeit auf hoher See bei Flaute nahekommen dürfte: Wir gähnten vor Madagaskar und hatten die Langeweile an Bord. Aber Graebers Erzählung bedient Menschen, die sich überreglementiert oder bevormundet fühlen und historische Gegenentwürfe der Rebellion suchen. In ihren guten Passagen ist sie eine historische, spekulative Spezialstudie, deren eigentlicher Adressat ein kritisches Fachpublikum der Anthropologie sein sollte. Aber nicht nur in madagassischen Volkssagen herrscht manchmal überschießende Sehnsucht nach neuem Gesprächsstoff. MILOS VEC
David Graeber: "Piraten". Auf der Suche nach der wahren Freiheit.
Aus dem Englischen von Werner Roller. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2023. 256 S., Abb., geb., 24,- Euro.
Siegfried Kohlhammer: "Piraten". Vom Seeräuber zum Sozialrevolutionär.
zu Klampen Verlag, Springe 2022. 168 S., geb., 16,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Rezensent Michael Hesse kann damit leben, dass der Anthropologe David Graeber in seinem postum veröffentlichten Buch kaum Belege liefert für seine These, wonach die Demokratie ihren Ursprung in einer Piratengesellschaft auf Madagaskar hat. Das Buch macht einfach Spaß, meint er, bietet Leselust, faszinierende Analysen und eine neue historische Sicht der Dinge. Wer sich für gesellschaftlichen Wandel und Machtstrukturen interessiert, ist hier richtig, meint Hesse, wer Piratengeschichten liebt, sowieso.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Ein spannendes Gedankenspiel« Christan Hellmann, Spektrum der Wissenschaft, 01. Juni 2023 Christian Hellmann Spektrum der Wissenschaft 20230601
Auf zu neuen Wegen
Das Cover wirkt zweckmäßig: Die knallrote Coverfarbe hat mich zusammen mit dem schlicht aber effektiv in Szene gesetzten Titel sofort angesprochen und neugierig gemacht.
David Graeber versucht mit diesem Buch die gegenseitige Beeinflussung von Piraten und …
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Auf zu neuen Wegen
Das Cover wirkt zweckmäßig: Die knallrote Coverfarbe hat mich zusammen mit dem schlicht aber effektiv in Szene gesetzten Titel sofort angesprochen und neugierig gemacht.
David Graeber versucht mit diesem Buch die gegenseitige Beeinflussung von Piraten und madagassischen Bevölkerungsgruppen vor dem Hintergrund des dortigen politischen Handelns im 17. und 18. Jahrhundert zu rekonstruieren. Damit verfolgt er einen momentan recht häufig zu sehenden Ansatz, indem er von offenen Grenzen im Sinne eines kulturellen und intellektuellen Austausches spricht und nach überregionalen Zusammenhängen bei der Verbreitung demokratischer Ideen und freiheitlichen Gedankenguts fragt.
Gekonnt begibt der Autor sich dafür in historischen Quellen und literarischen Werken auf Spurensuche, um daraus eine mögliche und teilweise aus Ermangelung an physischen Beweisen spekulative Erzählung der Vergangenheit zu bieten. Dabei werden Einblicke in verschiedene Forschungszweige, wie Geschichte, Anthropologie und Ethnologie, kombiniert - Interdisziplinarität an einem Fallbespiel also. Teilweise geht Graeber dabei bewusst provozierend vor und stellt jede Menge - teilweise bis zuletzt offene - Fragen, die zum Nachdenken anregen.
Der detaillierte Anhang des Buchs lädt außerdem zu tiefgreifender Beschäftigung mit dem Besprochenen ein und bietet dank Glossar und Zeitstrahl auch eine gelungene Orientierungshilfe. Trotzdem ist mein größter Kritikpunkt die Lesbarkeit des Ganzen. Besonders der methodische Teil, also der Einstieg, war unglaublich schwer lesbar und dank dem komplizierten Satzbau gilt das auch für den Rest des eigentlich recht kurzen Buchs. Dennoch waren die interessanten Gedankengänge und die Argumentationsstruktur des Autors jederzeit gut nachvollziehbar.
Ich habe den Einblick in die verschiedenen Fachrichtungen rund um das Zusammenleben zwischen Piraten und madagassischen Bevölkerungsgruppen sehr genossen und sicherlich einen Mehrwert daraus gezogen. Als Laie sollte man jedoch wohl ein starkes Interesse, Neugier, Offenheit und vor allem viel Zeit für die Lektüre mitbringen, um sich völlig auf Graebers Ausführungen einlassen zu können.
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Der bekannte Autor, Ethnologe und Anarchist David Graeber (1961-2020) hat sich mit diesem Buch auf die Spuren „echter“ Piraten, abseits des Hollywood-Klischees à la Erol Flynn oder der Meuterei auf der Bounty, geheftet. Dazu bediente er sich der Ergebnisse der ethnologischen …
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Der bekannte Autor, Ethnologe und Anarchist David Graeber (1961-2020) hat sich mit diesem Buch auf die Spuren „echter“ Piraten, abseits des Hollywood-Klischees à la Erol Flynn oder der Meuterei auf der Bounty, geheftet. Dazu bediente er sich der Ergebnisse der ethnologischen Studien auf Madagaskar, die er unter Marshall Sahlins (1930-2021) durchgeführt und 1996 darüber promoviert hatte.
Graeber untersuchte das Piratenleben des 17. und 18. Jahrhunderts auf Madagaskar, fand Anhaltspunkte über Siedlungen und Unwesen der Freibeuter auf der Insel. Dabei stützte er sich auf die wenigen historisch belegten Texte.
Die Insel, die rund 400 km östlich von Moçambique im Indischen Ozean liegt, ist strategisch günstig gelegen und von dort aus Raubzüge auf Indienfahrer zu machen und gleichzeitig als Versteck zu dienen. Doch Madagaskar war keineswegs eine unbewohnte Insel.
Wie wurden die Freibeuter auf Madagaskar aufgenommen? Freundlich oder doch als Eindringlinge? Haben sich die Piraten mit den Madegassen vermischt? Warum gibt es kaum archäologische Funde als Beweis für die längere Anwesenheit der Piraten?
Sind Piratenschiffe wirklich ein Hort der Demokratie, in dem der Kapitän regelmäßig gewählt wird? Gab es wirklich einen Piratenstaat? Ist „Libertalia“ Fakt oder Fiktion oder Wunschdenken, der vom Adel unterdrückten und geprägten Gesellschaft in Europa?
Meine Meinung:
Dass Autor David Graeber sich des Piratentums annahm, passt gut zu seiner anarchistischen Biografie, denn er hatte eine führende Rolle bei der „Occupy“-Bewegung inne.
David Graeber versucht, aus den wenigen gesicherten Fakten Antworten auf die Fragen zu geben. Das gelingt manchmal besser und manchmal nicht ganz so gut.
Er wirft mehr neue Fragen auf, als er beantwortet.
Demokratie auf einem Segler, auf dem der Kapitän nach Belieben abgewählt werden kann? Klingt nicht ganz glaubwürdig. Nicht jeder Kapitän ist ein Leuteschinder. Gerade auf den Schiffen des 17. und 18. Jahrhunderts muss es eine klare Aufgabenverteilung und strenge, fast militärische anmutende Hierarchie geben, um die äußeren Bedingungen zu beherrschen. Bei einem Sturm zu diskutieren und abzustimmen WER in die Wanten klettern muss oder ob man die Rumrationen gleich ausgibt, kann ich mir nicht vorstellen. Auch die Navigation (ohne technische Hilfsmittel wie GPS oder Echolot) stellt eine, für den einfachen Matrosen ohne entsprechende Ausbildung, vor eine nahezu unlösbare Aufgabe dar.
Das Buch ist recht gut lesbar und mit ausführlichen Zitaten aus den wenigen historischen Quellen unterlegt, die in ein umfangreiches Quellenverzeichnis dargestellt sind. Zur leichteren Einordnung in das Weltgeschehen ist ein Zeitstrahl mit damaligen Geschehnissen in Europa und Madagaskar angeführt. Eine Liste weiterführender Literatur rundet den Text ab.
Fazit:
Ein interessantes Buch, das das Piratenleben in einem anderen Licht erscheinen lässt. Mich hat das Buch nicht ganz überzeugt, da es mehr Fragen aufwirft als es beantwortet, daher gibt es von mir 3 Sterne.
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