Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, CY, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, IRL, I, L, M, NL, P, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Thomas Sparr hat die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank recherchiert. Und spannend aufgeschrieben.
Sekundärliteratur wird normalerweise von Philolologen für Philologen produziert. Das ist ein autarker Kreislauf, der sich längst von Autoren und Lesern gelöst hat. Der Philologe Thomas Sparr ist allerdings auch Editor-at-Large im Suhrkamp-Verlag, und als solcher hat man durchaus noch das Publikum im Blick. Mit der Recherche um Paul Celans Gedicht „Todesfuge“ hat Sparr schon einmal eine Werkbiografie vorgelegt, die aus dem wissenschaftlichen Kosmos ausbrach, und mit der „Biographie des Tagebuchs der Anne Frank“ wendet er sich eindeutig an eine breite Leserschaft, die sich für die Wirkungsgeschichte dieses singulären Werkes interessiert.
Unter zahlreichen Tagebüchern der Nazijahre haben zwei nachhaltige Verbreitung erfahren: die Aufzeichnungen von Victor Klemperer und das Tagebuch der Anne Frank. Klemperer mit intellektuellem Dokumentationsanspruch, Frank in aufrichtiger Naivität und Klugheit. Aber wie weit sind die Aufzeichnungen der Anne Frank wirklich authentisch?
Diese Frage beschäftigte die Leserschaft in Deutschland und der Schweiz seit dem Erscheinen des Tagebuchs im S.-Fischer-Verlag. Gottfried Bermann Fischer und Anne Franks Vater Otto Frank – treibende Kraft der Verbreitung des Tagebuchs und des später gegründeten Anne-Frank-Hauses – traten gar als Nebenkläger auf in einem Prozess um die Echtheit von Anne Franks Tagebuch. Ein Lübecker Studienrat – der daraufhin suspendiert wurde – hatte behauptet, es sei gefälscht, bezog sich aber offenbar auf zwei amerikanische Bühnenbearbeitungen und nicht auf das Original.
Aber auch dieses stand in der Kritik. Isa Cauvern, die den holländischen Originaltext abgeschrieben, und ihr Ehemann Albert Cauvern, der ihn redigiert hatte, schienen Veränderungen vorgenommen zu haben. Isa Cauvern, die 1946 Suizid beging, wurde in einem Artikel des Spiegel im April 1959 vorgeworfen, die Tagebucheinträge des Jahres 1943 weggelassen zu haben. Albert Cauvern sagte, er habe am Anfang ziemlich viel geändert, später hätten sich seine Eingriffe in den Text darauf beschränkt, „dass ich nur die Interpunktion, die idiomatischen und grammatikalischen Fehler verbesserte“.
Gravierender aber waren wohl die Eingriffe der deutschen Übersetzerin Anneliese Schütz. Sie ließ vor allem jene Passagen weg, in denen Anne Frank ihr aufkeimendes sexuelles Begehren beschrieben hatte. Vor allem aber übersetzte sie das Kindlich-Witzige in ein normiertes Erwachsenendeutsch. Offenbar erschien der Übersetzerin das Thema zu ernst, um auch nur einen Anflug von Humor dulden zu wollen. Sparr zitiert hier den Spiegel-Artikel: „Pfiffige Antworten“ wurden zu „beschwingten Antworten“, ein „warmer Blick“ zur „reizenden Art“, „empfindlich“ zu „empfindsam“, „eigensinnig“ zu „eingebildet“.
Wo Anne Frank geschrieben hatte „We zijn zo stil als baby-muisjes“ – Baby-Mäuschen –, stand „Wir verhalten uns sehr ruhig“. „Wie in einem Blitz sah ich etwas von ihrem Leben“ wurde zu „Manchmal dachte ich vorübergehend an sie“. Auch die sicherlich nicht sehr freundlichen Beschreibungen der Deutschen hatte Schütz offenbar stark abgeschwächt. Was man kaum nachvollziehen kann, denn Anneliese Schütz war eine aus Deutschland emigrierte Journalistin, die keinen Grund hatte, die Deutschen zu schonen. Möglicherweise, so vermutet jedenfalls Sparr, wollte sie den Erfolg des Buchs im Nachkriegsdeutschland nicht gefährden.
Nachdem der Umgang mit den Tagebüchern aber vor allem Gerichte beschäftigte, ging es nicht so sehr um philologische Sachverhalte, es wurden lediglich Übersetzungsfehler festgestellt, die laut dem Gerichtsgutachten einer Dozentin der Universität Hamburg lediglich als „lokale Schäden gelten, die für das Verständnis des Gesamtzusammenhangs unwesentlich sind“. Die Übersetzung sei „sinngemäß und im Ganzen sachlich richtig“.
Die entscheidende Frage, die den Sachverhalt noch heute erhellt, stellte die Staatsanwaltschaft Lübeck: War das Tagebuch zum einen dokumentarisch und zum anderen literarisch echt? Sparr meint, dass hier „das mangelhafte Verständnis des Tagebuchs als literarisches Werk – mit seinen Abschweifungen, Abweichungen, Erfindungen, Motiven und Figuren, die gerade nicht der Zeitgeschichte zuzurechnen sind“, Otto Frank als verantwortlichen Sachwalter des Tagebuchs einholte. Anne Franks Vater wollte die Aufzeichnungen offenbar als rein zeitgeschichtliches Dokument verstanden wissen.
Auch hier stutzt man, denn Otto Frank hatte acht Jahre zuvor, im Oktober 1951, der Oberstudiendirektorin Katharina Weber aus Frankfurt am Main angeboten, mit ihr über alle Details zu sprechen, die jene frühe literarische Begabung seiner Tochter belegten. Weber hatte die Echtheit des Tagebuchs bezweifelt. Otto Frank konnte sie überzeugen, auch mittels einiger rein literarischer Schriften seiner Tochter, Märchen und Erzählungen.
HELMUT MAURÓ
Märchen und Erzählungen
zeigen Anne Franks
literarische Begabung
Thomas Sparr: „Ich will fortleben, auch nach meinem Tode“ – Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank.
S. Fischer, Frankfurt am Main 2023. 336 Seiten, 25 Euro.
Lesen wir sie dokumentarisch oder literarisch? Anne Frank schrieb im Versteck ihr weltberühmtes Tagebuch.
Foto: imago images / Photo12
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de