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Eine literarische Erkundung des Rheins
Vor ein paar Jahren hat die Internationale Kommission für die Hydrologie des Rheingebietes noch einmal ganz genau nachgemessen. Es gab Unklarheiten, wie lang er denn tatsächlich ist, dieser Fluss, der nicht nur eine der wichtigsten europäischen Wasserstraßen ist, sondern auch ein Mythos, vor allem in Deutschland, obwohl er doch insgesamt sechs Länder durchfließt. 1320 Kilometer, wie es seit Jahrzehnten in den Lexika stand, das konnte nicht sein, hatte ein Kölner Biologie herausgefunden. Und die Messung ergab tatsächlich: Es sind fast 100 Kilometer weniger, nämlich exakt 1232,7 Kilometer vom längsten Quell-Ast des Vorderrheins im Schweizer Kanton Graubünden bis zur Mündung bei Hoek van Holland in den Niederlanden.
Ein Fluss hat einen Anfang und ein Ende, eine Quelle und eine Mündung, so lernt man es schon in der Schule. Und könnte er nicht auch wie ein Mensch eine Geburt haben und einen Tod? Und ein Leben dazwischen? Mit dieser Idee ging der niederländische Autor Mathijs Deen an die Recherchen für sein Buch. Und stellte schnell fest, dass sich dieser europäische Strom von solchen Kategorien nicht fassen lässt, dass Wasser vor allem Bewegung ist und Veränderung. „Jeder Lauf eines Flusses ist vorläufig“: Vor Jahrmillionen mündete der Rhein ins Mittelmeer.
Deen ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Journalist, für seine „Literarische Biografie“ des Rheins geht er auf akribische Faktenrecherche und lässt sich dabei von seinen Lesern begleiten, ins fensterlose Zimmer des Geowissenschaftlers an der Universität Utrecht und zu den ausgegrabenen Überresten eines römischen Frachtschiffs zum Beispiel.
Er lässt sich erklären, wie sich rund um die Rheinquelle die Alpen auffalteten und warum die Römer es nur sehr schwer ans andere Ufer schafften, warum der Fluss immer wieder eine umkämpfte Grenze war und doch eigentlich grenzenlos ist. Er besucht einen Fischer, der Fossilien der Tiere sammelt, die früher am Rhein gelebt haben, lässt sich in der Garage den Schädel eines Flusspferds zeigen, „eigentlich ein Rheinpferd“, mit einem Vorderzahn, fast so lang wie ein Unterarm.
Deen erzählt reportagehaft und atmosphärisch dicht von Menschen am Rhein samt dessen Zuflüssen, wie sie lebten oder wie sie gelebt haben könnten. Man trifft Caesar und Karl den Großen, das prähistorische Ur-Mädchen von Steinheim und die in selbstgewählter Einsiedelei lebende „Robinson-Familie vom Rhein“. Manches vermeintliche Heldentum relativiert sich über die Jahrhunderte: Napoleon-Bezwinger Blücher auf seinem Denkmal am Rheinufer in Kaub erinnert den Autor dann doch eher an einen älteren Herrn, „der beim Gassigehen seinen unwilligen Hund vergebens auf das geworfene Stöckchen hinweist“.
Natürlich versucht Deen auch, den Rhein am eigenen Leib zu erfassen, überquert den jungen Fluss im Hinterrheintal, „in drei schlüpfrigen Schritten auf Händen und Füßen“. Zwischen den Felsen liegen Blindgänger – er befindet sich auf dem Gelände eines Truppenübungsplatzes. „Ich knie mich in den Schnee und trinke aus dem Rhein, er schmeckt nach Stein.“ Später wird er sich auch im kalten Wasser treiben lassen und gar nicht mehr an trockene Ufer wollen: „Ein Fluss ist ein reines, beständiges und vor allem ansteckendes Verlangen nach dem, was weiter unten ist.“
„Weg“, so heißt das letzte Kapitel, in dem Deen an Bord des Frachtschiffs Terra Maris geht, einmal stromaufwärts fährt von der Nordseeküste bis Köln und einmal stromabwärts vom Main bis nach Rotterdam, vorbei an Orten, deren Geschichten er erzählt hat, mit neuer Perspektive, vom Wasser aus. Christiaan und Anna heißen die beiden Bootsführer und sie erzählen, wie wenig Wasser sie oft nur noch unter dem Kiel haben. „,Der Fluss verändert sich also‘, sage ich. ,Und bleibt auch gleich‘, sagt Anna nach einer Weile.“
Ein Buch wie ein Fluss, voller Geschichten, mal sprudelnd schnell, mal mit der Muße für Kontemplation. Nur hat es definitiv einen Anfang und leider auch ein Ende.
EVA DIGNÖS
Vor Jahrmillionen mündete
der Rhein nicht in die Nordsee,
sondern ins Mittelmeer
Mathijs Deen: Fluss ohne Grenzen. Der Rhein – eine literarische Biografie. Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. Knesebeck Verlag, München 2023. 304 Seiten, 25 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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Martin Becker, WDR3 Mosaik