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© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
wenden
Endlich irgendwo
ankommen, aber wo?
Jan Brandts todtrauriger
und superlustiger Doppelband
„Ein Haus auf dem Land /
Eine Wohnung in der Stadt“
ist das ideale Buch
für eine Gesellschaft
zwischen Entmietung
und Landflucht
VON GERHARD MATZIG
Das Buch ist – einem Wendekreis oder einer Wendejacke durchaus ähnlich – ein Wendebuch. Man kann es sowohl von vorne als auch von hinten lesen. Jan Brandts neues, mehr als 400 Seiten (und auch sonst) starkes Buch hat denn auch zwei Titel, zwei Geschichten und schätzungsweise 232 Schicksale pro Quadratkilometer. Sowie einen Tipp: Wir sollten wenden. Möglichst schnell und möglichst überall. In den Städten, auf den Dörfern.
In „Ein Haus auf dem Land“ beschreibt der Schriftsteller den bisweilen grotesken, bisweilen melancholischen und letztlich grausam sinnlosen Versuch, das 150 Jahre alte Backsteinhaus des Urgroßvaters zu retten. Brandt will im dreieinhalbtausend Einwohner bergenden Ihrhove den „Gulfhof“, das ist eine für Ostfriesland typische, behaglich anmutige Mischform aus Wohn- und Scheunentrakt unter einem Dach, davor bewahren, abgerissen und durch ein schuhschachtelhaft gemeines Immobilienelend ersetzt zu werden.
Zugleich ist dies auch der Versuch, dem Wohnwahnsinn Berlins, wo der Schriftsteller seit Jahren in räumlich zumeist prekären Verhältnissen lebt, zu entkommen. Vom Elend der Mietpreise, Makler und Hausverwaltungen, vom Elend des Schimmels an den Wänden, der Ratten im Keller und der Rapper im Hauseingang sowie der Kreativen auf der Straße erzählt, bitte wenden, „Eine Wohnung in der Stadt“.
Dass die monate- bis jahrelange Suche nach einer passenden und bezahlbaren Wohnung auf dem delirierenden Immobilienmarkt Berlins bisweilen grotesk, bisweilen melancholisch und letztlich grausam (aber noch nicht ganz sinnlos) anmutet: geschenkt. So oder so könnte man denken, dass sich der 45-jährige Autor, der im ostfriesischen Kaff Ihrhove aufgewachsen ist, aber auch in den Großkäffern Köln, München, Berlin und London gelebt hat, nicht so recht entscheiden kann. Zwischen Stadt und Land, Wohnung und Haus, urbanem Stress und ländlichidyllischer Langeweile. Zum Glück, muss man sagen.
Der Poet Brandt scheint insofern einem Gedicht von Kurt Tucholsky wie auch einem Dilemma der Moderne entlaufen zu sein. Tucholsky schrieb („Das Ideal“) von der Sehnsucht, wonach sich das eigene Leben idealerweise am Schnittpunkt von Friedrichstraße, Ostsee und Zugspitze befindet. Wobei zur Grundausstattung – zumindest jener des Jahres 1927 – auch gehört: „eine süße Frau voller Rasse und Verve – / (und eine fürs Wochenend, zur Reserve)“. Man kann die Süße getrost durch Stadt und Land ersetzen.
Unabhängig von solchen Sehnsüchten einer gurgelnd untergehenden Epoche schreibt Brandt: „Die Sehnsucht nach Freiheit und die Sehnsucht nach Sicherheit sind die Fliehkräfte meines Lebens.“ Das steht in der einen Buchhälfte, die der Stadt und dem Wohnen, also dem Leiden gewidmet ist. Während es in der anderen Buchhälfte, die dem Land und dem Leben, also mindestens dem Leiden, wenn nicht gar dem Sterben gewidmet ist, heißt: „Ich hoffte, dass es eine Alternative gäbe, dass ich mich nicht für das Dorf oder die Großstadt entscheiden müsste, dass ein Leben in beiden Welten möglich wäre.“
Ist so ein Leben möglich? Irgendwo zwischen Leiden und Sterben, zwischen existenzieller Wohnungsnot in der Stadt und den sterbend siechen Lebensräumen auf dem Land? Kann man ein Leben in der vermeintlichen Sicherheit des Dorfes leben, das zugleich eines in der vermeintlichen Freiheit der Stadt wäre? Und kann man sich zugleich der Vergangenheit zuneigen, ohne der Zukunft abhanden zu kommen? Der große Gatsby, F. Scott Fitzgeralds grandiose Erfindung, dem man in Brandts Buch nicht zufällig begegnet, würde sagen: „Aber natürlich kann man das.“
Das ist die Frage. Vor allem dann, wenn man sich eingesteht, dass es weder in der Stadt noch auf dem Land Sicherheit und Freiheit jenseits ihrer klischeehaften Schwundstufen gibt. Und wenn man bedenkt, dass Land und Stadt als die scheinbar größten Antagonisten der Gegenwart, als Bestandteile einer global wirksamen Raum-Dichotomie, sich gar so wesensfremd wie stets behauptet gar nicht gegenüberstehen.
Das Stadtland oder die Landstadt sind vielmehr Orte, die sich eine immerwährende Sehnsucht teilen, die zudem überall in der Welt bekannt ist. Es ist die Sehnsucht nach Heimat. Nach Verortung und Identität. Nach einem Ankommen in einem Dasein, das etwas anderes ist als das Woanderssein. Jan Brandts enorm kluges, genau beobachtetes, todtrauriges, superlustiges und überwältigend anregendes Buch ist daher das Buch der Stunde. Es ist der ultimative Heimatroman – ohne ein Roman zu sein. Denn es ist eine Kunstform eigener Art, ein mitreißendes Amalgam aus Essay, Reportage, Fotoalbum, Tagebuch und Familienchronik. Geschrieben in einer Ära, die zwar ein Heimatministerium, aber kein Wissen um das rätselhafte Wesen der Heimat hervorgebracht hat. Was man darüber wissen und fühlen kann, ja soll und darf, steht nun in diesem Buch. Man sollte mit seinen Wendeseiten das Heimatministerium, das auch für das Wohnen, die Stadt und das Land zuständig ist, tapezieren.
Das Wendebuch wendet man tatsächlich immer wieder, weil einen die Analogien der Fluchtpunkte, die es gar nicht geben dürfte, dazu auffordern. Da sind zum Beispiel Bomba und Berserka, zwei rappende und auch sonst irritierende Nachbarn von Brandt in Berlin-Kreuzberg („SO 36 ist unser Revier“). Dem Magazin Masafaka sagen sie im Buch: „Wir vergessen nie, wer wir sind und wo wir herkommen.“ Das ist – bitte wenden – exakt die Botschaft, die auch Holger, Silke oder Imke, die früheren Klassenkameraden, die in aller Unschuld und Plattheit Gabelstapelfahrer, Lehrerin oder Versicherungsvertreter geworden und daheim in Ihrhove nicht weit entfernt von Discos geblieben sind, die „Old Germany“ oder „Ufo“ oder „Limit“ heißen.
Wer wir sind – das hat viel damit zu tun, wo wir herkommen. Aber auch damit, wo wir hinwollen. Identität als vielleicht wichtigste Ressource der Gegenwart ist immer auch eine Frage des Habitats. Der berühmte Ikea-Satz („wohnst du noch oder lebst du schon?“) ist in Wahrheit nicht weit entfernt von Bloch und Heidegger. Der eine Philosoph sah das Wesen des Bauens im „Wohnenlassen“ (Heidegger), der andere Denker definierte Architektur als „Produktionsversuch menschlicher Heimat“.
Man kann sich selbst in Brandts Wohnproduktionsversuch einschreiben. In einem Land, das viel mehr Provinz als Metropole ist, weil viel mehr Menschen in kleinstädtischen Strukturen leben, begreift man den jugendlichen Hass des Ich-Erzählers auf die Thujaheckenhaftigkeit der Doppelhausexistenz. Die Begrenztheit eines Daseins an der Bundesstraße 70 wird dann auch an der Bar im „Limit“ leider gar nicht limitiert – „die Stadt“, schreibt Brandt, „war mein Sehnsuchtsort“.
Tatsächlich fantasiert der junge Autor davon, seine Heimatstadt Ihrhove „abzufackeln“. Aus der Sicht eines sich nach Welthaltigkeit und Aufbruch sehnenden Azubi-Intellektuellen könnte es sich hierbei um ein Art Notwehrexzess handeln. Es ist dann eine zugleich lange Reise sowie ein kleiner Schritt bis hinein in die Hölle der kodifizierten Wohnungssuche: „AB, 3. OG, DuBd, Bk, OH, WBS“ oder „SFL, Kü, Km, GH, hell, ruhig“. Wobei sich „dieses Kaputte, Heruntergekommene ( . . . ) diese Kultur gewordene Negation des bisherigen Lebensentwurfes“ erst als Ankommen und dann als „der postindustrielle Charme der Nachwendezeit“ entpuppt: „Zugedröhnte kotzten und pissten und schissen mir vors Fenster.“ Bitte wenden: „Das Dorf war meine Bestimmung, da kam ich her, da musste ich hin, zurück zu den Wurzeln.“
Das vor dem Abriss stehende uralte und urgroßväterliche Haus in Ihrhove, Ausgangspunkt der Flucht nach Berlin, wird so zum Zielpunkt einer zweiten Flucht, diesmal von Berlin aufs Land. Brandt will das Haus bewahren. Und wenn er dazu zum Fitzcarraldo Ostfrieslands werden muss. Was er einst abfackeln wollte (die Herkunft), will er jetzt vor dem Abriss retten (das Haus). Man kann ihn so gut verstehen – vor allem mit Blick auf die Discountästhetik und Gewerbeversteppung jener deutschen Dörfer und Kleinstädte, die einmal schön, Arbeits-, Lebensraum und Heimat zugleich waren. Sie können es wieder sein. Das wäre auch gut für die Städte, die ebenfalls einmal schön und Heimat zugleich waren. In beiden Sphären könnte man glücklich leben und beheimatet sein. Aber natürlich kann man das.
Der Poet Brandt scheint einem
Gedicht von Kurt Tucholsky
entlaufen zu sein
Wer wir sind,
das hat viel damit zu tun,
wo wir herkommen
In der vermeintlichen Sicherheit auf dem Land leben oder in
der vermeintlichen Freiheit der Stadt?
Irgendwo dazwischen?
Foto: Jörg Buschmann
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Jan Brandt liest im Frankfurter Literaturhaus über Wohnraumprobleme in der Stadt und auf dem Land
Mit der ganzen Sache sei etwas ins Wanken geraten, erzählt Jan Brandt den Gästen im Literaturhaus Frankfurt. "Kann ich mich mit meinem Lebensentwurf weiter verwirklichen?" Was bei dem Schriftsteller, geboren 1974 im ostfriesischen Leer, die Krise auslöste, war etwas mittlerweile Alltägliches: eine Wohnungssuche. In Berlin. Die dauerte mehrere Monate, bezahlbarer Wohnraum war kaum zu finden. Brandt, der eine LA Dodgers-Kappe und ein dunkelblaues Hemd trägt, hat die Suche in dem autobiographischen Buch "Ein Haus auf dem Land/ Eine Wohnung in der Stadt" verarbeitet. Diese Krise ging so weit, dass der Autor überlegte nach Ihrhove zurückzugehen, wo er aufgewachsen ist, zurück zu den Tujenhecken und der Spießigkeit Ostfrieslands, die er in seinem Debütroman "Gegen die Welt" beschrieb.
"Ein Haus auf dem Land/ Eine Wohnung in der Stadt" ist ein Wendebuch mit zwei Erzählsträngen, das im Mai im DuMont Verlag erschienen ist. Brandt stellt darin Anekdoten, die den Wahnsinn der Wohnungssuche in der Hauptstadt kondensieren, der nicht weniger wahnsinnigen Idee, das alte Haus des Urgroßvaters auf dem platten Land zu kaufen und in ein "Literaturhaus" umzuwandeln, gegenüber.
Oliver Elser, der Kurator am Deutschen Architekturmuseum ist, moderiert den Abend. Brandt solle zuerst über die Stadt lesen. Das Publikum, mit Weißwein, Wasser, Fächern ausgestattet, sei mit dem Thema ja vertraut. "Solange ich zur Miete lebe, betrifft es mich", sagt Brandt, "Wohnen ist eine existentielle Frage." Und die habe längst die Mittelschicht erreicht und sei nicht nur für Künstler wichtig, die Fixkosten niedrig halten müssten, sagt Brandt.
Das ernste Thema verarbeitet der Autor auf witzige Weise, im Text, aber auch in der Lesung. Denn Brandt erzählt beinahe genau so viel, wie er liest - manchmal unterbricht er sich selbst, um noch einen Kommentar loszuwerden. Er hat mehr als zwanzig Jahre Erfahrung mit Wohnungssuchen in Berlin.
"Das ist der Autor als junger Mann", sagt Brandt und lässt eine Pause zum Lachen, "vor seinem Kachelofen." Auf einem Bildschirm zeigt er Fotos, die auch im Buch sind, das 40 Abbildungen enthält, sowie "Exklusivbilder". Brandt ist 1998 nach Berlin gezogen, als die Stadt noch schrumpfte und eine selbstrenovierte Wohnung Abenteuercharme hatte, allerdings "jahreszeitabhängig": Im Winter hieß es Kohlen schleppen.
In der ersten WG lebt Brandt mit einer Mitbewohnerin und der Schlange Lucy zusammen, die er mit aufgetauten Mäusen füttert. Weiter geht es nach Kreuzberg, wo er eine tolle Wohnung findet. Wo ist der Haken? Den findet er kurze Zeit später: Ratten. "Immobilien holen das Schlechteste aus jedem heraus", ist Brandt sich sicher. Man sei Opfer und Täter zugleich. Den Nachmietern erzählt er nichts von der Plage.
Nach etwa zehn Jahren in einer Wohnung - Kreuzberg ist längst Heimat geworden - kommt eine vorgetäuschte Eigenbedarfskündigung und zieht eine Suche nach sich, die fast ein Jahr dauert. "Deswegen wurde ich auch mit meinem Buch nicht fertig", schiebt er ein und scherzt: "Mein Verlag hätte mir einfach eine Wohnung suchen können." Gefragt nach dem eigenen Wohnraum, gibt Brandt zu, dass er einen zu hohen Quadratmeterbedarf habe. Zum Arbeiten brauche er eben ein Büro und Inspirationen um sich: "Ich bevorzuge die Begriffe Archiv und Material, Kram und Zeug wäre die Terminologie meines Vaters."
Der Autor zeigt ein historisches Foto eines Gulfhofs, eines typisch friesischen Backstein-Bauernhauses, der seinem Urgroßvater Jan Brandt gehörte und jüngst zum Verkauf stand. Im zweiten Teil seziert er, wie er voller Illusionen das vom Abriss bedrohte Haus retten will, und erkundet sein "verfluchtes Heimweh nach Historie". Eine Begehung öffnet ihm langsam die Augen, die Substanz ist viel zu schlecht, und so kauft er es dem Bauunternehmer, der wirklich Uwe Tellkamp heißt, nicht ab. Das Geld fehlt eh.
Gibt es ein Stadt-Land-Gefälle? Auch auf dem Dorf seien die Bewohner atomisiert, sagt Brandt. In Ihrhove fehle sozialer Wohnungsbau - genau wie in der Stadt. Ältere Menschen, die irgendwann aus den zu großen Häusern ausziehen, brauchen dann ebenso kleinere Mietwohnungen.
TOBIAS HAUSDORF
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