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Graeme Macrae Burnet auf den Spuren von Simenon
Madame weiß, wie man so etwas macht. "Ihr Nachthemd war am Ausschnitt so locker zusammengebunden, dass Gorski sich Mühe geben musste, dran vorbeizuschauen." Lucette, soeben Witwe geworden, empfängt den Kommissar im Schlafzimmer, und als eine vage Geste ihrer Hand "ihre Brüste unter dem dünnen Stoff des Nachthemds in Bewegung" versetzt, ist es um Kommissar Georges Gorski geschehen. Madame ist auch gar nicht sehr erschüttert, als sie erfährt, dass ihr wesentlich älterer Gemahl Bertrand Barthelme bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Beinahe erleichtert wirkt auch der siebzehnjährige Sohn, Raymond, der sich als überheblicher Existentialist geriert, Sartres "Zeit der Reife" inhaliert und erste amouröse Erfahrungen mit einer Klassenkameradin macht.
Und wenn es kein Unfall war? Warum fuhr der Anwalt überhaupt auf der Autobahn um diese Zeit in diese Richtung, da er doch angeblich sein dienstägliches Abendessen im Honoratiorenkreis hatte - wie schon seit vielen Jahren? Gorski, nach siebzehnjähriger Ehe von Frau und Kindern verlassen, stochert im Umfeld des Verstorbenen herum, hauptsächlich, um Anlass zu haben, die Witwe wiederzusehen. Willkommen sind seine Nachforschungen nicht, die behäbige Selbstgewissheit im elsässischen Saint-Louis bevorzugt es, nicht gestört zu werden.
Wir sind in den siebziger Jahren und damit in einem historischen Provinzroman. Man hat noch Haushälterinnen und Schamhaare. Aber auch wenn das Leben aus heutiger Wahrnehmung verlangsamt abläuft, die Mechanismen der Macht funktionieren wie zu allen Zeiten. Ein kleiner Zirkel von Geschäftsleuten und dem Bürgermeister - Gorskis Schwiegervater - bestimmen den Kurs, Dünkel regiert über den Stillstand einer Kleinstadt, die Jugendlichen nichts bietet. Raymond und seine Freunde haben keine Vorstellung, was wohl mit ihrer Zukunft anzufangen sei. Man liest Balzac, Zola, Baudelaire und eben Sartre - und langweilt sich ansonsten durch die Pubertät.
Immerhin: Gorski, als örtlicher Polizeichef nicht gerade an Überarbeitung leidend, entwickelt eine Verbindung zu einem Mord an einer Edelprostituierten, der sich im benachbarten Mühlhausen zugetragen hat. Dorthin zieht es auch den zweiten Ermittler der Geschichte, den Jungen Raymond. Er stößt im Schreibtisch seines Vaters auf eine Adresse und mit dieser auf des Vaters, klappentextlich gesprochen, "dunkles Geheimnis". Nicht zufällig lautet die Anschrift 13 Rue Saint-Fiacre: Georges Simenon veröffentlichte 1932 den Roman "Maigret und die Affäre Saint-Fiacre".
Wir haben es mit einem literarisch beschlagenen Autor zu tun. Der 1967 geborene schottische Schriftsteller betrat die Bühne mit einem Tusch: "Sein blutiges Projekt" (2016) ist ein Roman, der auf angeblich historischen Gutachten und Protokollen beruht, die einen Dreifachmord in den Highlands im späten neunzehnten Jahrhundert dokumentieren. Erst danach folgte in deutscher Übersetzung Burnets im Original vor vier Jahren erschienenes Debüt, "Das Verschwinden der Adèle Bedeau" (F.A.Z. vom 2. Oktober 2017), das ebenfalls in Saint-Louis angesiedelt war.
"Der Unfall auf der A35" ist nun der zweite von voraussichtlich drei Bänden, den Burnet erneut in eine aufwendige Metafiktion verpackt. Als Übersetzer und Herausgeber agiert er quasi als Nachlassverwalter für einen längst durch Selbstmord aus dem Leben geschiedenen französischen Autor namens Raymond Brunet. Wortspiele, Anagramme und Anspielungen - unter anderem auf den amerikanischen Postmodernisten Donald Barthelme - sind Teil der Inszenierung, die Burnet vor dem Vorhang spielen lässt, während dahinter gleichzeitig Simenon gegeben wird.
Da der Autor sein Handwerk beherrscht, gelingt die Übung. Burnet evoziert geschickt die Atmosphäre jener Jahre - Telefonhörer liegen noch auf Gabeln, man zündet sich Zigaretten an, wann und wo man will, man trinkt mittags Wein und abends sowieso, und man bezahlt mit Francs. Im Lichte heutiger Pageturnereien ereignet sich auf der Oberfläche der Handlung wenig, darunter brodelt es. So fällt der Roman auf eine eigensinnige, aber angenehme Weise aus dem Einerlei der Konfektionsware heraus. Der "Guardian" hat Burnet sogar das Lob angeheftet, er habe eine neue Gattung erfunden - das "false true crime". In jedem Fall haben Totgeglaubte manchmal doch eine längere Haltbarkeit: Die Postmoderne lebt, und im vorliegenden Fall ist das ein Grund zur Freude.
HANNES HINTERMEIER
Graeme Macrae Burnet: "Der Unfall auf der A35". Kriminalroman.
Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Europa Verlag, München 2018. 320 S., br., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Platz 10. Graeme Macrae Burnet: Der Unfall auf der A 35
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.2018
"...nimmt den Leser duch die Präzision und die Einfühlsamkeit gefangen..." "kunstvolles und höchst unterhaltsames Buch" "an dem alle Fans von Georges Simenon ihre finstere Freude haben werden."
Wolfgang Höbel, Literatur-Spiegel, S.12, 16.06.2018
Die zehn besten Krimis im Mai
10 (-) Graeme Macrae Burnet: Der Unfall auf der A 35
Deutschlandfunk Kultur, 06.05.2018
"Es sind dieses provinzielle Sittenbild und die genaue, nüchterne Prosa, die an Simenon erinnern [..]"
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2018
"Gewohnt raffiniert und voller schwarzem Humor blickt er in Der Unfall auf der A35 erneut tief in die Psyche seiner Charaktere und spürt den dunklen Seiten des elsässischen Kleinstadtlebens nach."
Mediennerd, März/April 2018
"Graeme Macrae Burnet, das ist die größte literarische Sensation, die Schottland in den letzten Jahren hervorgebracht hat." Marcus Müntefering, Der Freitag#"Große Klasse ist das!" Rose-Maria Gropp, FAZ
"Gewohnt raffiniert und voller schwarzem Humor ... spürt den dunklen Seiten des elsässischen Kleinstadtlebens nach."
BUCH-MAGAZIN 4/2018
"... provinzielles Sittenbild und genaue nüchterne Prosa, die an Simenon erinnern.."
FAS 15.4.18