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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Allen, die sich wünschen, endlich mal so richtig abzuschalten, erfüllt Jonathan Lethem mit dem Roman „Der Stillstand“ einen Traum.
In jeder postapokalyptischen Fantasie steckt eine Pastorale, die eine Sehnsucht nach der Reinheit des Urzustands und der Befreiung vom Stress der Tech-Moderne bedient. Das ist die autodestruktive Seite der Nachhaltigkeitsmoral, die bei den meisten Linken und Progressiven beim Erwachsenwerden die Identitätspolitik ablöst. Wer wäre geeigneter, daraus einen Roman zu machen, als Jonathan Lethem, Meister des ironischen Subtexts und vor allem lange Jahre Bürger jenes Teils von Brooklyn, in dem diese Lebenshaltung ihr Zentrum hat.
Auch in seinem aktuellen Roman hat er wieder eine Figur gefunden, die nicht zum Helden taugt und gerade deswegen so glaubwürdig in eine Welt passt, die man sonst aus dem Kino kennt. Sein Tourette-geplagter Detektiv Lionel Essrog aus „Motherless Brooklyn“ war so einer oder der tödlich erkrankte Backgammon-Hustler Alexander Bruno aus „Anatomie eines Spielers“. Diesmal ist es Alexander Duplessis, den alle „Journeyman“ nennen, ein Skript Doctor aus Hollywood. Den hat der „Stillstand“ des Zusammenbruchs der Zivilisation beim Besuch seiner Schwester Madeleine auf einer Selbstversorgerfarm in einem Nordostküstendorf ganz gut erwischt.
Es ist keine Zombie- und auch keine Katastrophen-Apokalypse. Aus ungeklärten Gründen gaben zuerst sämtliche Elektrogeräte ihren Geist auf, dann alle Benzin-getriebenen Maschinen und schließlich die Schusswaffen. Niemand weiß, warum. Es ist einfach so. Und weil Alexander „Journeyman“ Duplessis nichts besonders gut kann, ein deutliches Defizit an Zivilcourage hat und auch nicht lernfähig ist, was die Fertigkeiten angeht, die man in diesem mit einem Male wieder prä-industriellen Amerika brauchen könnte, verdingt er sich in der Dorfgemeinschaft als Botenjunge und Gehilfe des Schlachters.
Lethem hat in einem Interview mal beschrieben, wie er selbst sich seine Rolle als Schriftsteller in der Postapokalypse vorstellen würde: „Das ist dann erst einmal so: ‚Du baust das Essen an, du machst das Feuer, du räumst die Straße, und ich schreibe die Romane!‘ Ich glaube, es würde nicht lange dauern, bis mir jemand sagen würde: ‚Wir brauchen heute eigentlich keinen Roman, aber wir könnten Hilfe beim Aufräumen gebrauchen.‘“
Auch Journeyman hat das Schreiben aufgegeben. Zu Beginn führt er ein etwas fades, aber zufriedenes Leben, wie es sich so viele aus dem Moralbürgertum jener Vergangenheit erträumten, die die Gegenwart der Leserschaft ist und für die Figuren des Buchs eine blasse Erinnerung. Es mag rau sein, das Leben in dieser Enklave im Nordosten Amerikas, aber alle werden satt und es geht ihnen eigentlich ganz gut. Die Verteidigung hat eine Horde Bewaffneter übernommen, die in jeden „Mad Max“-Film passen würde, sich aber nur selten blicken lässt. Die Dörfler nennen sie die Kordonisten und bezahlen sie mit Lebensmitteln dafür, dass sie die Gewalt der postapokalyptischen Welt an sie auslagern dürfen. So haben sie ihre Ruhe und nicht einmal eine Ahnung, was für Kämpfe da draußen toben.
Bis zu jenem Tag, der alles und auch Journeymans Leben verändert, weil es seine Vergangenheit ist, die die Dorfgemeinschaft da in Form eines Monsters von Wagen mit Atomantrieb und Chromhülle ereilt. Obendrauf in einer Kuppel aus Glas sitzt Peter Todbaum am Steuer, die Schlüsselfigur aus Journeymans früherer Existenz in Hollywood. Und so wird alles anders. Was nicht verraten werden soll, weil Jonathan Lethem nicht nur die Ironie und die Parabel beherrscht, sondern auch eine Erzählform, die die Handlung mit einem Tempo in immer größeren Trubel treibt, was oft an dicke Comicbände oder dreistündige Blockbusterfilme erinnert. Zu viel Exegese würde den Spaß nur verderben.
Eines kann man trotzdem noch verraten. Es gibt eine zweite Handlungsebene, in der Lethem die Dynamik zwischen Journeyman, seiner Schwester Madeleine und Todbaum im Hollywood der jüngeren, aber unwiederbringlich verlorenen Vergangenheit auf Touren bringt. Todbaum und Journeyman leben da zu Beginn eine Zeit lang in den Starlet-Apartments, einem jener flachen motelhaften Komplexe rund um einen Swimmingpool, in dem im echten Los Angeles so viele von einer Karriere im Filmgeschäft träumen. Sie schreiben Drehbücher, die niemand dreht. Aber bald schon heben sie ab. Todbaum steigt sogar in die höchsten Sphären der Stadt auf, mit Macht und Reichtum, die er auf dem Ruhm der anderen aufbaut. Journeyman verdient in seinem Kielwasser als Skript Doctor gutes Geld. Madeleine kommt da in ihrer Anfangszeit als wunderschöne Erinnerung daran vor, in der Hollywood auch ohne Apokalypse eine bunte Blase der weltfremden Dauereuphorien ist.
Die Handlungsebene Hollywood dient Lethem nicht nur als Grundlage für die Verwicklungen der Hauptfiguren. Sie bleibt für die Lesenden eine Erinnerung daran, wie flüchtig eine Zivilisation ist, deren Erlebniswelt vor allem aus Popkultur und Technologie besteht. Immer wieder spickt Lethem den Roman mit Referenzen an all die Dinge, die nun nichts mehr bedeuten. Im fünften Kapitel lamentiert er eine Liste der Verluste: „Benzin, Patronen und geschmolzenen Kuchen ohne Mehl konnte man in den Wind schreiben. Kaffee konnte man sich abschminken. Schluss mit Bananen und Rihanna, mit Father John Misty, mit der Cloud, mit Newsfeeds über Kernschmelzen am anderen Ende der Welt, mit Seekühen, im Meer versunkenen Städten und anderen Tragödien, die Journeyman mit schlechtem Gewissen nicht betrauert hatte.“
Solche Referenzen gehören nicht nur bei Lethem zum Kern eines Stils, der von der europäischen Literaturkritik zu Unrecht als „Popliteratur“ verniedlicht wurde. Lethem ist Teil jener Generation amerikanischer Literaten, die das Drama nicht in ihrer Epoche, sondern im Privaten und in der Popkultur fanden. Sie sind die Kinder der goldenen Jahre, denen die Kriege und Krisen erspart blieben, mit denen sich die Generationen vor und nach ihnen herumschlagen müssen. Um das ein wenig einzuordnen: Lethem war ein Studienfreund von Bret Easton Ellis.
Rund um die Jahrtausendwende war er zusammen mit Franzen und Safran Foer einer der „drei Jonathans“ der jungen Literatur, die ein enormes Textniveau mit ebenso enormen Verkaufszahlen verbinden konnten. Seit vierzehn Jahren unterrichtet Jonathan Lethem außerdem am Pomona College auf jenem Lehrstuhl, den einst David Foster Wallace innehatte, der posthum zu so etwas wie dem Säulenheiligen dieser Alterskohorte wurde, die den sechzigsten Geburtstag bald vor oder gerade hinter sich haben.
In Haltung und in den Stoffen sind sie sich nicht besonders ähnlich. Lethem ist sehr viel freundlicher und liberaler als Ellis mit seinem tiefschwarzen Humor und seinem Konservatismus. Franzen ist epischer, Safran Foer politischer, Foster Wallace komplexer. Die gemeinsamen Nenner sind ihr ironischer Blick auf die Gesellschaft, ihre Fähigkeit, einen erzählerischen Sog zu erzeugen und ihr Umgang mit der Popkultur, die in der amerikanischen Hochkultur allerdings noch nie ein Antipode der Hochkultur war, sondern immer ihre Grundlage.
Das schlägt sich nicht nur inhaltlich, sondern auch im Schreiben nieder: Lethem und seine Zeitgenossen sind mit Fernsehen und Kino aufgewachsen. Zu den Idyll-Klischees ihrer Kindheit gehörten die Samstagmorgen im Schlafanzug vor dem Fernseher, um Zeichentrickserien anzuschauen, die Ausflüge in die Shoppingmalls, in denen die Kinos den planlosen Nachmittagen einen Anker gaben, die ersten Blockbuster des rebellischen Hollywoods der Siebzigerjahre und eine Popmusik, die vom Soundtrack der Jugendkultur zum Kanon Amerikas reifte. Das schlägt sich im Schreiben nieder. Die Verwendung von Pointen und Plot-Twists, die Dramaturgie des 90-Minüters, das Rhythmusgefühl, aber auch die poetische Verdichtung einer Popmusik, die mit Bob Dylan und den Beatles eine literarische Ebene gefunden hatte.
Wenn man als Leser in solche Romane eintaucht, fühlt man sich deswegen sofort zu Hause in den Gedankenwelten dieser Autoren, selbst wenn sie einen in exotische Welten wie die Hügel von Hollywood oder die postapokalyptische Pastorale des amerikanischen Nordostens führen. Das macht die Romane dieser Schriftstellergeneration aber vor allem zu einem so unendlichen Spaß. Das war eben nicht nur der Titel von David Foster Wallace’ Schlüsselwerk, sondern auch Programm.
ANDRIAN KREYE
Man fühlt sich in
diesen Gedankenwelten
sofort zu Hause
Wir haben doch alles, was wir brauchen, auch ohne stressige Technik, oder? Jonathan Lethem denkt es zu Ende.
Foto: Imago
Jonathan Lethem:
Der Stillstand. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach. Klett Cotta, Stuttgart, 2024. 328 Seiten, 25 Euro.
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