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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Filme schreiben“
In seinem neuen Roman wacht die
Hauptfigur als ein anderer auf – oder doch
nicht? Der Schriftsteller Mohsin Hamid
über Identität, das Konstrukt Rasse
und die Privatsphäre der Imagination
INTERVIEW: TOBIAS MATERN
Eines Morgens wachte Anders, ein weißer Mann, auf und stellte fest, dass seine Haut sich unleugbar tiefbraun gefärbt hatte.“ Mohsin Hamids neuer Roman „Der letzte weiße Mann“ beginnt ähnlich wie Kafkas „Verwandlung“, der pakistanisch-britische Schriftsteller behandelt darin zentrale Themen unserer Zeit: das Konstrukt Rasse, Identität, Rassismus. Hamid, geboren 1971 in Lahore, studierte an den US-Eliteuniversitäten Princeton und Harvard, arbeitete in New York, lebte in London. Zur Frankfurter Buchmesse ist er nun aus Lahore eingeflogen, wo er mit seiner Frau und den beiden Kindern wohnt. Ein Gespräch am Rande des Trubels mit einem Schriftsteller, der in mehreren Welten zu Hause ist.
SZ: Ein Gedankenexperiment: Eines Morgens wacht Mohsin Hamid, ein braunhäutiger Mann auf und stellt fest, dass sich seine Haut unleugbar weiß gefärbt hat. Was passiert?
Mohsin Hamid: Das ist mir auf eine gewisse Art und Weise schon passiert. Als ich drei Jahre alt war, sind meine Eltern mit mir von Pakistan nach Kalifornien gezogen, mein Vater schrieb an der Stanford-Universität seine Doktorarbeit. Wir lebten auf dem Campus und die Townhäuser dort sahen alle gleich aus. Eines Tages spielte ich vor einem dieser Häuser, meine Mutter hörte mich weinen, kam rausgerannt und sah, dass ich etwas verwirrt nebenan stand. Der Nachbar dachte wohl, ich sei zurückgeblieben und fragte sie: Warum kann der noch nicht reden? Meine Mutter erwiderte: Kann er, aber eben noch kein Englisch.
Und dann?
Sind wir reingegangen, ich habe einen Monat gar nichts gesagt, und danach in ganzen Sätzen mit amerikanischem Akzent gesprochen. Wurde ich als Dreijähriger in Kalifornien also zum weißen Mann? Ich weiß es nicht genau, aber in meinem Leben gab es immer wieder diese Übergänge, in denen ich etwas war, und ich musste erst lernen, etwas anderes zu sein. Sechs Jahre später sind wir nach Pakistan zurückgegangen, und ich habe kein Wort Urdu mehr gesprochen, da musste ich auch erst wieder lernen, ein Pakistaner zu sein und mich entsprechend zu verhalten.
Später, da waren Sie längst erwachsen, haben Sie mal beschrieben, wie Ihnen der „Teilweise-Weiß-Faktor“ abhandengekommen sei.
Das war nach 9/11. Ich lebte in New York, hatte einen gut bezahlten Job und war in einer uneindeutigen Lage: Ich war weder schwarz noch weiß, sondern braun, und passte nicht in das amerikanische binäre System. Diskriminierung oder Rassismus waren bis dahin kein großer Faktor, dann war plötzlich alles anders: Grenzen, Flughäfen, Leute. Etwas verschwand, und ich dachte, vielleicht habe ich das Teilweiseweißsein verloren, wenn Weißsein an einem Ort wie Amerika bedeutet: ein menschliches Wesen zu sein.
Wollten Sie zu diesem Zustand zurückkehren?
Interessante Frage. Erst wollte ich es zurückhaben, dann aber ging es weniger um den Wunsch, weiß zu sein, sondern mehr um die Privilegien, die man bekommt, wenn man zur Mehrheit gehört. Dann habe ich gemerkt, dass das eine Komplizenschaft mit sich bringt, dass man das System so am Laufen hält.
Sie sind Brite und Pakistaner. Erleben Sie noch immer, sich für Letzteres rechtfertigen zu müssen?
Manchmal werde ich gefragt: Was ist die pakistanische Perspektive? Ich sage dann: Die gibt es nicht. Es gibt 220 Millionen Pakistaner mit unterschiedlichen Sichtweisen. Aber es gibt auch die Kritik innerhalb Pakistans, ich würde mich als Repräsentant Pakistans darstellen. Wenn ich das täte, hätte es natürlich etwas Ausnutzendes und wäre wenig authentisch, aber die Kritik ist auch einer der Gründe, warum ich, seit ich 2009 nach Pakistan zurückgezogen bin, die Wörter Pakistan und Islam in meinen fiktionalen Texten nicht mehr verwende. Pakistan, Islam und Lahore sind wie Markenbegriffe, die eine Bedeutung bekommen, weil andere sie ihnen zuschreiben. Meine Entscheidung, auf solche Begriffe zu verzichten, war also zum Teil davon getrieben, nicht in diese repräsentative Rolle zu rutschen.
Die Charaktere in Ihrem neuen Buch reagieren zunächst radikal auf die Veränderung, die sie durchleben: Der junge, nun nicht mehr weiße Protagonist fühlt sich als Opfer, der sich seiner Identität beraubt fühlt, sein weißer Boss sagt einfach nur: Ich hätte mich an deiner Stelle umgebracht.
Das ist für mich eine persönliche Frage, der sich der Protagonist in dem Buch ausgesetzt sieht – er verliert etwas, will es zurück, fragt sich, wer er wirklich ist. Es ist zwar kein autobiografischer Roman in dem Sinne, dass mir so etwas passiert ist, aber enthalten ist eine emotionale Komponente, die in mir ansässig ist.
Wenn Sie sich die aktuellen gesellschaftlichen Debatten über Rassismus und Diversität anschauen...
...fällt mir auf, dass jüngere Leute leichter mit dieser eher vieldeutigen, weniger binären Welt zurechtkommen. Älteren Menschen fällt das schwerer. In Teilen ist es also eine Generationenfrage. Im Laufe der Zeit wird das die Möglichkeiten für die Zukunft erweitern. Die Schwierigkeit besteht darin, durch den Moment zu kommen. Vor allem im Westen, weil ein Blick auf die Demografie zeigt, dass die ältere Bevölkerung einen großen Anteil darstellt.
In Ihrem Buch ersparen Sie uns die Apokalypse, öffnen den Raum für Optimismus. Sprechen Sie da persönlich und kommentieren die aktuelle Situation?
Es gibt zwei Grundlagen, auf denen Optimismus aufbauen kann. Die erste ist: Einfach zu sagen, „alles wird gut“, das ist gefährlich, weil wir dann nichts tun müssten. Der andere Optimismus, für den ich mich interessiere, sieht so aus: Es ist möglich, optimistisch in die Zukunft zu blicken, und wenn wir uns das schon vorstellen können, ist es auch möglich, dass wir uns in diese Richtung bewegen. Wenn wir die Zukunft den Pessimisten überlassen, werden wir zu nostalgischer Politik verdammt sein. Wenn wir von vornherein sagen, die Zukunft läuft in die falsche Richtung, ist der Impuls der Menschen, sich von der Zukunft abzuwenden, der Vergangenheit zuzuwenden und diese zu idealisieren.
Ihre Leserinnen und Leser können sich in Ihren Büchern nie zurücklehnen. Sie sind Urteilende, werden zu Charakteren oder passiv Mitwirkenden gemacht. Warum involvieren Sie uns so viel?
Anders als beim Fernsehen oder Kino sieht der Leser ja nur eine weiße Seite mit Buchstaben, Satz- und Leerzeichen, die Menschen und Dinge entstehen erst in der Imagination. Der Leser eines Buches ist kein Zuschauer, der Leser ist ein Erschaffer. Ich möchte keine Filme schreiben, ich habe mich ganz bewusst auch dazu entschieden, mich in meinen Büchern von Dialogen zu verabschieden. Dahinter steckt die Frage: Was kann ein Roman noch Sinnvolles leisten? Aus meiner Sicht: Vor allem sind Romane abgeschiedene Orte für Leser, um kreative, imaginäre Erfahrungen zu machen.
In „Der letzte weiße Mann“ ist es der Ort, an dem man sich mit dem Konstrukt Rasse beschäftigt.
Es liegt nahe, dass einer der fruchtbarsten Orte, um über das Konstrukt Rasse nachzudenken, in der Privatsphäre unserer Vorstellungskraft liegt, also wenn wir nicht für jemand anderen performen und wir nur selbst sehen können, was wir uns vorstellen. Sie lesen ein Buch allein und erschaffen sich die Charaktere und Situationen an der Seite eines Schriftstellers. Dann sehen Sie, wie Sie sich dabei fühlen, und Sie fragen sich: Warum stelle ich mir das jetzt auf diese Art und Weise vor, wie beurteile ich diese Charaktere und wie beurteile ich mich dafür, wie ich diese Charaktere beurteile? So wird es vielleicht möglich, bei dem konstruierten Thema Rasse eine ehrlichere Begegnung mit uns selbst zu haben – auf eine Art, die nahezu unmöglich ist mit jemand anderem.
Was genau meinen Sie damit?
Was wir als Rasse bezeichnen, ist etwas, dass wir uns in die Existenz imaginiert haben, es existiert außerhalb unserer Vorstellungskraft nicht. Einmal erschaffen, hat es reale und manchmal furchtbare Folgen. Das Konstrukt Rasse gibt es seit ein paar Hundert Jahren und wird wahrscheinlich in ein paar Hundert Jahren nicht mehr existieren. Für mich steht diese Idee, dass wir es uns in die Existenz imaginiert haben, und dass es nicht daher kommt, wie die Identität von Menschen in Wahrheit ist, im Zentrum des Buches. Das versuche ich zu erkunden.
Als Sie als Kind aus Amerika nach Pakistan zurückkamen, begannen Sie, sich eine eigene Welt zu erschaffen, Städte auf Atlanten einzuzeichnen, Rollenspiele wie „Dungeons and Dragons“ zu spielen...
Ich habe bei „Dungeons and Dragons“ vor allem die Rolle des Dungeon-Masters (des kreativen Spielleiters, der Verf.) übernommen – aber es kam nie jemand zum Spielen. Das hat mich aber nicht gestört. Es war der Anfang meines Schriftstellerlebens. Ein Schriftsteller ist der Spielleiter eines Rollenspiels, der die Welten für andere erschafft, damit sie spielen können.
Wie Sie Ihre Begegnungen mit Lesern schildern, erschaffen Sie jedem tatsächlich eine eigene Welt: Ein junger Mann, der sein Leben als Wall-Street-Broker hinter sich gelassen hat, meinte zu Ihnen: Dieser Protagonist bin ich! Und ein pakistanischer Leser forderte im Namen seines Lesezirkels: Schreiben Sie mehr Sex-Szenen, damit können wir wirklich etwas anfangen!
So wie ich aufgewachsen bin, dachte ich immer: Ich bin anders als die anderen Leute. Ich habe das gut kaschieren können und kam weniger anders rüber, aber mein Wunsch, mit anderen in Kontakt zu kommen, wurde immer nur teilweise befriedigt. Also, dass ich Schriftsteller geworden bin, war ein Weg, damit mein Leben funktioniert. Einerseits, um verstanden zu werden, andererseits, um mit anderen in Kontakt zu treten. Wenn nun also Leser verschiedene Dinge in meinen Büchern sehen oder besonders ansprechend finden, entspricht das genau meinem Schreiben. Es ist unmöglich, wirklich von einer anderen Person verstanden zu werden, es ist auch unmöglich, so umfassend in Kontakt zu treten, wie wir es vielleicht wollen, aber das Verlangen danach ist für mich sehr groß. Also sitze ich ein Viertel meines Lebens alleine für mich in einem Zimmer, und dieser Wunsch beschäftigt mich. Die Bücher sind dann das, was dabei herauskommt.
„Was kann ein
Roman noch
Sinnvolles leisten?“
„Ein Schriftsteller ist der Spielleiter eines Rollenspiels, der die Welten für andere erschafft, damit sie spielen können“: In Mohsin Hamids neuem Roman sollen die Leser herausfinden, wie sie über andere urteilen.
Foto: Jillian Edelstein
Mohsin Hamid: Der
letzte weiße Mann,
Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner. Dumont Verlag, Köln 2022. 160 Seiten,
22 Euro.
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