Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
"Brennende Fragen", so der Titel: Margaret Atwoods Essays stammen von einer Frau, die Lösungen noch für möglich hält.
Von Katharina Teutsch
Von Katharina Teutsch
Jedes Kind, das in den Vierzigerjahren in Kanada aufwuchs, als es noch keinerlei Impfstoffe gegen eine ganze Heerschar tödlicher Krankheiten gab, kannte Quarantäneschilder", schreibt Margaret Atwood in einem Essay für die kanadische Tageszeitung "Globe and Mail". Wir befinden uns im Quarantänejahr 2020. Und Atwood, die siebzehn Jahre zuvor den ersten Teil einer verstörend hellsichtigen Seuchenromantrilogie ("MaddAddam") geschrieben hatte, setzt in aufgebrachten Majuskeln fort: "DIPHTERIE, stand darauf, SCHARLACH oder KEUCHHUSTEN. Der Milchmann (den gab es damals nämlich noch, und manchmal kam er sogar mit dem Pferdewagen) musste genau wie der Brotmann, der Eisenmann und der Postmann (ja, sie waren wirklich alle Männer) seine Ware auf der Schwelle lassen. Und wir Kinder standen im Schnee (Städte hießen für mich damals immer Winter, den Rest des Jahres verbrachte meine Familie draußen in den Wäldern), beäugten die rätselhaften Schilder und fragten uns, was hinter jenen Türen wohl für unheimliche Dinge vorgingen."
Vier ihrer Cousins seien an Diphterie gestorben, erzählt die 1939 in Ottawa geborene Bestsellerautorin spekulativer und darin immer politischer Romane. Und ab und zu sei von einem Tag auf den anderen ein Klassenkamerad verschwunden. Beide Eltern der inzwischen Dreiundachtzigjährigen wiederum hatten 1919 die Spanische Grippe überlebt. Atwood war das Pandemiethema also vertrauter als so manchem Zeitgenossen, dem Corona überhaupt erst die Gefahr mutierter Kleinstlebewesen ins Bewusstsein gebracht hat. Dass nun aufgeklärte Menschen in großen Mengen anfingen, sowohl die Existenz als auch die Gefährlichkeit des mutierten Virus infrage zu stellen, löste sofort den Widerspruch der Autorin aus. Die Virusleugnung nämlich kam Hand in Hand mit einem ganz anderen Virus. Fake News heißt es. Sein Wirtstier ist der faule Mensch. Seine Verbreitungswege sind bekannt.
"Im Zeitalter von Fake News und Internet-Bots ist Wahrheit manchmal nicht so leicht zu haben", stellt Atwood 2019 anlässlich der Verleihung einer Ehrenmedaille des Dubliner Trinity College fest. Und sie hat - das wird nach der Lektüre dieses in fünf Teile gegliederten Konvoluts von Vorworten, Festreden, Dankesreden, Laudationes und Zeitungsartikeln deutlich - ihr Lebenswerk in den Dienst ebenjener epistemologischen Kategorie gestellt, die uns immer mehr abhandenzukommen scheint: Die Wahrheit ist das Ziel aller in diesem Band versammelten Beiträge. Die Wahrheit ist eine Übung im Wahrnehmen und im Leben, wie Atwood seit mehr als sechzig Jahren nicht müde wird zu sagen. Die Wahrheit ist überhaupt das einzige Lebensmittel, mit dem sich menschengemachte Sackgassen im Sozialen und massive Eingriffe in die Natur auflösen oder zumindest bearbeiten lassen.
Atwood widmete schon zu Beginn des Jahrtausends etliche Texte dem Klimawandel, der damals noch nicht jedem unter diesem Schlagwort bekannt war. Ähnlich wie ihr Wissen um pandemische Gefahren war ihres über die Natur und deren Gefährdungen bereits zu einem Zeitpunkt ausgeprägt, als der öffentliche Diskurs dazu noch eher dürftig ausfiel. Atwood, ländlich aufgewachsen, städtisch sozialisiert, mit einem Ornithologen verheiratet und Tochter eines Entomologen, weiß eine Menge über Bäume, Biotope, natürliche Lebensräume im Allgemeinen. "Andere Familien machten Zwischenstopps, um Eis zu essen", erinnert sie sich an ihre Kindheit: "Wir hielten für Schädlingsplagen."
Spannend in diesem Buch sind weniger die Erkenntnisse der einzelnen Texte, die sich oft an ein allgemeines Publikum richten, den Charakter von Appellen haben und selten komplexe Gedanken bieten. Interessant wird Atwoods essayistisches Werk erst durch die schiere Menge an Themen und Erfahrungen, die sie als politische Akteurin verarbeitet. "Brennende Fragen" ist der dritte Essayband der Autorin. Der erste setzte im Jahr 1960 ein, der zweite 1983. Der dritte beginnt im Jahr 2004. Legt man alles, was die Autorin veröffentlicht hat, nebeneinander, ergibt sich eine faszinierende Chronik der westlichen Kultur- und Naturgeschichte.
Die frühen Sechzigerjahre sind dabei noch sehr den Nachkriegslogiken der Systemkonkurrenz von Kommunismus und Kapitalismus sowie zeittypischen Spießigkeiten der Gesellschaft unterworfen. Ende der Sechziger geht es dann los mit jenen Themen, die Atwood berühmt gemacht haben: zweite Frauenbewegung, Bürgerrechtsbewegung, kulturelle Revolution von 68, neues Umweltbewusstsein. Alles, wovon der erste Essayband handelte, wurde schon im zweiten überschrieben, um nun im dritten Band noch einmal evaluiert zu werden. Die Phase des kulturellen Aufbruchs wurde abgelöst von der kurzen Illusion, die Geschichte wäre vollendet und leergelaufen. Doch auch diese friedliche (oder zynische) Vorstellung wurde mit den Anschlägen auf das World Trade Center und den immer virulenteren Erkenntnissen des Weltklimarats schnell diskreditiert.
Atwoods Schreiben, das immer das einer Optimistin bleibt, bekommt dadurch dringlichere Züge. Die Probleme, denen sie sich als öffentliche Persona gegenübersieht, sind too big to fail. "2012 wurde bei meinem Lebensgefährten Graeme Gibson beginnende Demenz diagnostiziert", erklärt sie im Vorwort. Auf die Frage, welche Prognose man geben könne, hieß es: "Es kann langsam voranschreiten, es kann schnell voranschreiten oder stagnieren, wir wissen es nicht." Ganz ähnlich, so Atwood, habe es damals um die Welt gestanden. "Es war eine unruhige, von Ungewissheit, jedoch nicht von irgendeiner herausragenden Katastrophe geprägte Phase. Die Menschen fürchteten sich, doch ihre Furcht blieb verschwommen. Wir hielten den Atem an. Machten weiter. Taten, als wäre alles im Lot. Und doch lag schon der Hauch eines Wandels zum Schlimmeren in der Luft."
Sie lag immer richtig mit ihren Diagnosen und vorsichtigen Prognosen zu den Diagnosen. Diese Autorin dystopischer Romane bleibt als Essayistin stets konstruktiv. "Kopf hoch!", ruft sie uns zu: "Die Menschheit macht das nicht zum ersten Mal durch. Früher oder später wird das andere Ufer erreicht sein. Wir müssen nur irgendwie den Teil zwischen vorher und nachher überstehen. Romanautoren wissen, der Mittelteil ist immer am kniffligsten." Als Leserin dieses Buchs ist man immer mittendrin im Kniffeligen, mit der Lösung beauftragt von Atwoods sanfter Autorität.
Margaret Atwood: "Brennende Fragen". Essays.
Berlin Verlag, Berlin 2023. 704 S., geb. 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Auch mit Mitte achtzig kämpft Margaret
Atwood gegen die Zerstörung der Welt.
Mitte Oktober wurde Margaret Atwood mal wieder für tot erklärt. Sie sei doch, schrieb die kanadische Schriftstellerin in ihrem Blog, nur im Krankenhaus, um einen Herzschrittmacher zu bekommen. Gleich nach der Operation wolle sie einen Stepptanz vorführen – das tat sie dann auch: Man sah sie auf Instagram im Krankenhaushemdchen im St. Michaels Krankenhaus in Toronto tanzen.
Quietschfidel blickt die Autorin auch vom Cover ihres neuen Buchs „Brennende Fragen“, dem dritten Sammelband ihrer Essays, Reden, Rezensionen, diesmal der zwischen 2004 und 2021 erschienenen. Mehr als 50 Texte auf 700 Seiten spiegeln wider, was im Laufe dieser Jahre alles in der Welt passiert ist: Finanzkrise, Populismus, Pandemie, Klimakrise. Das klingt nach schwerer Lektüre, doch wie immer gelingt es ihr mit sorgfältiger Recherche und eindringlichen Appellen, ihre Gedanken so aufzuschreiben, dass man ihr Buch auch dann nicht zur Seite legen will, wenn es vom Grauen handelt. Schon als Kind hatte sie gelernt, wie wichtig es ist, genau zu sein: Ihr Vater war Insektenforscher. Die Tochter, geboren 1939, durfte nicht einfach vom Klettern auf einen „Baum“ erzählen, die Eltern wollten wissen: Ist es eine schwarzfichte oder eine Birke?
Die Familie lebte die meiste Zeit des Jahres in der Wildnis Kanadas und so verwundert es nicht, dass sich die Autorin seit Jahrzehnten intensiv mit der Klimakrise beschäftigt. 2006 sagte sie über die Erderwärmung: „Würde ein Asteroid auf die Erde zurasen und ein kolossaler Einschlag drohen, mit riesigen, klimaverändernden Staubwolken, Feuern, Hochwassern und dem ganzen verheerenden Programm, und wir wüssten, wie er sich stoppen ließe, und das stünde auch in unserer Macht, würden wir doch alles tun, was dazu nötig ist. Was da heute auf uns zurast, wird viele dieser Schrecken auslösen.“ Für Atwood ist die Erhaltung einer intakten Umwelt gar Voraussetzung für Literatur überhaupt und damit zwingendes Thema für jeden Schriftsteller.
Aber auch private Tragödien finden ihren Platz in dieser Textsammlung. Etwa die Demenz-Erkrankung ihres Mannes, des Schriftstellers Graeme Gibson, der 2019 starb. Ein Jahr später schreibt Atwood in dem Essay „Im Strom der Zeit gefangen“ über seine Diagnose: „Wir sprachen oft darüber. Versuchten, nicht zu viel Zeit unter einem Grabtuch der Schwermut zu verbringen. Wir schafften viel von dem, was wir uns vornahmen, und pressten jeder Stunde so viel Glück ab, wie wir kriegen konnten“.
Ob schmelzende Polkappen oder schwindender Geist: Bei Atwood kann man sich darauf verlassen, dass bei aller Ernsthaftigkeit ihr kluger Witz durchblitzt, was einem gereckten Zeigefinger allemal vorzuziehen ist. Ihre Essays handeln aber nicht nur von Dramen. So sinniert sie etwa zum 100. Jahrestag des Erscheinens von „Anne auf Green Gables“ darüber, warum das sommersprossige Waisenmädchen aus dem Kinderbuch in Japan so beliebt ist. Oder sie schwärmt von Stephen Kings „Doctor Sleep“ und dreht dafür eine Runde zu Sibylle von Cumae, der babylonischen Priesterin.
Im Essay „Polonia“ erzählt sie wiederum, in was für ein Dilemma sie immer wieder die Frage „Welchen Rat würden Sie jungen Menschen geben?“ bringt, und wie sie – obwohl sie sich das Gegenteil vorgenommen hat – ihre eigene Regel, jungen Menschen nicht ungefragt Ratschläge zu erteilen, permanent bricht. Mit Lehren wie: Tritt nicht in das Kanu, das am Strand liegt. Oder: Ruf ihn nicht an, soll er dich doch anrufen. Oder: In jedem Haushalt sollte es eine Taschenlampe mit Handkurbelantrieb geben. Spannend ist ihr Blick auf den eigenen, 1985 erschienenen Welterfolg „Der Report der Magd“, mittlerweile in mehr als 40 Sprachen übersetzt und als Film, Fernsehserie, Graphic Novel, Theaterstück, Oper und Ballett verewigt.
Margaret Atwood erinnert sich, wie der Roman zunächst verrissen wurde, und wie sie sich beim Schreiben an den Grausamkeiten orientierte, die Menschen schon einmal begangen hatten. Dann denkt sie darüber nach, wie seltsam es ist, dass sich zu Halloween nun Menschen das Gewand der Mägde, also ein rotes Kleid und weiße Haube,überwerfen. Viele Menschen seien überrascht, dass sie noch da sei, schrieb Atwood bereits 2015. „Jeder Autor, dessen Werk man in der Schule liest, ist schon per definitionem tot.“ An diesem Samstag feiert die oft schon Totgesagte ihren 84. Geburtstag.
JULIA ROTHHAAS
Für sie ist die Erhaltung
der Umwelt Voraussetzung
für Literatur überhaupt
Margaret Atwood:
Brennende Fragen. Essays. Übersetzt von Eva Regul, Jan Schönherr, Martina Tichy. Berlin Verlag,
Berlin 2023. 701 Seiten, 32 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de