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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Bei Filiz Penzkofer überwinden drei junge Menschen Vorurteile und Ängste. Und das mit Schmackes.
Für junge Leserinnen und Leser, die eine Pause von bedrückend dramatischen Identitätssuchen brauchen oder sich einfach nur der eigenen Angst vor maximal überdrehten Plots im Rahmen einer Expositionstherapie stellen möchten, für sie alle ist das ungestüme, anregend inkorrekte Flucht-in-Ketten-Buch "Alles im Grünen" der studierten Germanistin und Turkologin Filiz Penzkofer goldrichtig. Identitätssuche ist auch das, aber eine rebellisch verwegene.
Es wirkt, als hätten Astrid Lindgren, Helge Schneider und Ronja von Rönne gemeinsam einen Roman verfasst: unbestechlich selbstbestimmt, fröhlich grotesk, trotzig pointiert bis in die kleinsten sprachlichen Winkel. Die Handlung nimmt aus dem Stand solche Fahrt auf, dass sie sich schon nach wenigen Seiten das erste Mal überschlägt (und dann wieder und wieder), was bei allen erstaunlichen Zufällen aber nicht flapsig wirkt - mit der ganz kleinen Ausnahme einer volkstheaterhaften Verwechslungsklamotte rund um einen Einbrecher -, weil die immer mitlaufende Tiefenhandlung, die Bewältigung von Lebensängsten, alles Überdrehte auffängt. Das gelingt nur, weil Penzkofer in ihrem am 30. Januar erschienenen Roman, der das Geschehen ganz aus dem Blickwinkel der angstgestörten Teenagerprotagonistin Rabea schildert, immer den passenden, charmant-frechen, aber nie belehrenden Ton trifft.
Im Zentrum stehen drei traumatisierte Bewohner einer WG des "Betreuten Wohnens" am Berliner Hermannplatz, was schon der erste gute Witz ist, denn betreut sind sie das gesamte Buch absolut nicht, im Gegenteil, sie müssen mit einer eskalierenden Situation allein klarkommen - woran sie natürlich wachsen und zusammenwachsen. Damit ist zu Beginn nicht zu rechnen, denn die einsame Rabea, die nicht einmal Kontakt mit ihrer Mutter hat (das hat der Stiefvater verboten), gesteht in den Aufzeichnungen ihre himmelschreiende Angst vor den beiden anderen.
Da ist Musti, ein syrischer Flüchtling, der seine Mutter im Krieg verloren hat und sich nach dem in Aleppo gebliebenen Vater sehnt. Er verwendet aufgrund eines antiquierten Deutschbuchs durchweg angestaubte Formulierungen, und das meist auch noch falsch: "Du kannst keine Äffchen mit Birnen vergleichen." Rabea aber sieht nur seinen "Salafistenbart" und die "auffällig unauffälligen" Simpsons-T-Shirts: eindeutig ein Islamist mit Anschlagsplänen. Für noch gefährlicher hält sie die selbst ernannte, in Kajal gebadete "Voodoo-Priesterin" Queen Tiger, die zwar nicht Meerschweinchen die Köpfe abreißt, wie Rabea unterstellt, aber als bei Ebay für Verfluchungen zu buchende Hexe in der Tat ständig Hühner abkocht, um mit Knochenwürfen allerlei Okkultes zu treiben. "Wie gesagt, ich will einfach nur in eine Einrichtung mit ganz NORMALEN psychisch Kranken." Wie normal es ist, bei Panikattacken Vogelstimmen zu imitieren wie Rabea, sei dahingestellt. So geht es weiter mit der neurotischen Ausstellung der eigenen Neurosen.
Schon nach kurzer Zeit allerdings liegt die garstige Vermieterin, die Rabea und ihre Mitbewohner gern auf die Straße setzen möchte, "mausetot" auf dem Boden. Die Unbetreuten, die nicht einmal wissen, ob sie "die Alte" nicht versehentlich um die Ecke gebracht haben, ahnen, dass sie als Hauptverdächtige gelten dürften, zumal, nachdem Queen Tigers schwer gescheiterter Rückholzauber - mit einem weiteren Opfer - massenhaft Spuren an der Toten hinterlassen hat. Doch Panik hilft nicht weiter. Es bleibt nur eins: Sie müssen gemeinsam einen Plan schmieden, wie man aus dieser Situation herauskommt. Die Betreuerin anzurufen gehört nicht dazu. Es geht vielmehr - und hier nur angedeutet - um das nicht ganz legale Besorgen eines Fahrzeugs, um die Leichen zu entsorgen.
Dass alles ganz anders kommt und Queen Tiger Musti und Rabea bei aller Skepsis als doch halbwegs ernst zu nehmende Zauberin erscheint, heißt nicht, dass alle Probleme gelöst wären. Aber plötzlich zeigt sich ein Weg. Der hat, das merken alle drei, nichts mit den Problemen oder mit Schamanismus zu tun, sondern mit ihrem Zusammenhalt, einer immer stärker werdenden Freundschaft, was sie zum selbstbewussten, likörbeschwipsten Schwur führt, die "Kette der Beschissenheit" zu zerreißen. Sie gehen nun ihre Traumata gemeinsam an, und das ebenso unkonventionell und rabiat und lustig wie zuvor. Manchmal tut auch Rache gut.
Natürlich siegen letztlich Selbstbewusstsein und Lebensmut, wobei das Finale etwas unmotiviert Angeflanschtes hat. Nicht ganz erklärlich ist auch, warum Penzkofer bei sozialen Netzwerken nicht mit der Zeit geht: Die Plattform X heißt hier noch Twitter; und welche Hexe inseriert noch bei Ebay? Aber angesichts der stilistisch souveränen, wie eine Lawine über die Leserschaft hinwegdonnernden Handlung, deren Energie überspringt, wirken solche Kritteleien fast ketzerisch. Nicht dass man sich noch einen Hühner-Fluch der Voodoo-Priesterin zuzieht. OLIVER JUNGEN
Filiz Penzkofer: "Alles im Grünen oder Wie ich die Kette der Beschissenheit durchbrach." Roman.
Rotfuchs, Hamburg 2024. 224 S., geb., 20 Euro. Ab 14 J.
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