J. M. Coetzee
Gebundenes Buch
Schande
Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 1999 und dem Commonwealth Writers Prize 2000, Best Book. Roman
Übersetzung: Böhnke, Reinhild
Versandkostenfrei!
Nicht lieferbar
J. M. Coetzee, geb. 1940 in Kapstadt, lehrte von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt und gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize. 22003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Produktdetails
- Spiegel Edition Bd.14
- Verlag: Spiegel-Verlag
- Originaltitel: Disgrace
- Seitenzahl: 279
- Erscheinungstermin: November 2006
- Deutsch
- Abmessung: 21mm x 134mm x 210mm
- Gewicht: 374g
- ISBN-13: 9783877630143
- ISBN-10: 3877630146
- Artikelnr.: 20848692
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Der Schock darüber, gehasst zu werden
Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht.
Gewalt in Südafrika: J. M. Coetzees düsterer Roman "Schande" über die Menschennatur / Von Jochen Hieber
Besonders schön ist Lucy Lurie nicht. Aber "eine nette junge Frau", eine Weiße von etwa Mitte zwanzig, die nach einigen Eskapaden Tritt gefasst hat im Leben. Mit Vaters Hilfe konnte sie eine kleine Farm in Südafrikas Kap-Provinz erwerben: "Jetzt ist sie hier, geblümtes Kleid, barfuß und so, in einem Haus, das nach gebackenem Brot riecht, kein Kind mehr, das sich als Bäuerin verkleidet, sondern eine richtige Landfrau." Zugenommen hat sie in letzter Zeit, besonders um die Hüften. Und sie ist lesbisch, lebt aber allein: Helen, ihre Gefährtin, hat sich jüngst davongemacht.
Mehr anzeigen
"Sapphische Liebe: eine Ausrede fürs Dickwerden", lautet der ironische Kommentar ihres so liberalen wie fürsorglichen Vaters, der den Kommentar deshalb für sich behält.
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auch er hat schwer wiegende Probleme. Man hat ihm seine Professur für Kommunikationswissenschaften in Kapstadt entzogen, ihn unehrenhaft aus der Universität entlassen. "Verfolgung oder Bedrohung von Studenten durch Mitglieder des Lehrkörpers": so hatte die Anzeige gelautet. David Lurie hatte sich sofort für schuldig erklärt, auf Kompromisse im Disziplinarverfahren ebenso verzichtet wie auf mögliche mildernde Umstände. Er, der Spezialist für englische Romantik, für Byron und Wordsworth zumal, wollte lieber ein Märtyrer der Liebe werden, als sich der Strenge zu unterwerfen, den die Frauenbewegung und die politische Korrektheit fordern. Das schlimme Ende der Affäre mit Melanie, seiner Studentin, ist für den melancholischen Mittfünfziger auch der bittere Beginn erotischer und sexueller Resignation: "Er sollte aufgeben, vom Feld gehen. Wie alt war Origenes, fragt er sich, als er sich kastrierte?"
Der südafrikanische Schriftsteller John Marie Coetzee, der seine Vornamen mit Vorliebe auf das Kürzel J. M. reduziert, ist vor wenigen Wochen sechzig Jahre alt geworden. David Lurie ist die Figur, die ihn im neuem Roman vertritt. Denn wie Lurie ist auch Coetzee Literaturprofessor in Kapstadt, allerdings ein erfolgreicher. Noch erfolgreicher ist er als Autor. Neben Erzähl- und Essaybänden hat er seit 1977 acht Romane veröffentlicht, dafür nicht wenige und stets renommierte Auszeichnungen erhalten. Mit dem neuen Buch, mit "Schande", ist ihm gar das Kunststück gelungen, den Booker Price, Englands begehrteste Literaturtrophäe, als erster Autor zum zweiten Mal zu gewinnen.
Wie allen erfolgreichen Dichtern gilt auch Coetzees ganze Sympathie den Zukurzgekommenen und den Scheiternden, den Trostlosen und den Schwachen, kurzum: den Verlierern. In Sachen David Lurie jedoch hat er sein Mitgefühl ein wenig zu dick aufgetragen. Die eindeutige Symphatielenkung, die er für seinen traurigen Helden in Gang setzt, erscheint deshalb etwas aufdringlich, ja kokett. Immer wieder muss Lurie, der Körper und Geist noch ganz gut beisammen hat, über die Fatalitäten des Älterwerdens lamentieren, kapitulierend die weiße Fahne schwenken, wenn die Lust am Horizont erscheint. Und selbstverständlich scheitert Lurie auch an seinem hochfliegenden Plan, über Lord Byrons gut 180 Jahre zurückliegende Leidenschaft für Teresa Guiccioli nicht etwa eine weitere wissenschaftliche Abhandlung zu verfassen, nein: Eine veritable Oper soll es sein. Die Fähigkeit, zu komponieren, aber nimmt man Lurie nicht ab, zu ungelenk schreibt sein Autor davon.
Aber dies ist schon der einzig nennenswerte Einwand gegen einen Roman, der ansonsten viele Vorzüge besitzt. Die herbe Handlung etwa, die er seinen Hauptfiguren aufbürdet, ist vollkommen plausibel, folgerichtig und, man soll das nicht verachten, spannend von der ersten bis zur letzten Seite. Auch Coetzees szenische Phantasie lässt nichts zu wünschen übrig. Ob er Lurie zu einer Edelnutte schickt, die Selbstgerechtigkeit oder den Opportunismus seiner universitären Ankläger Revue passieren lässt, ob er Lucys Verkaufstalent auf dem Wochenmarkt schildert oder ein Fest bei Petrus, dem schwarzen Verwalter und Mitbesitzer von Lucys Farm - stets sieht man nicht nur den inspirierten Geschichtenerfinder, sondern auch den professionellen Handwerker und Wortarchitekten am Werk.
Der Stil ist lapidar und lakonisch, kurze, scheinbar nur mitteilende Sätze, die indes noch die alltäglichsten Begebenheiten bedeutsam oder bedrohlich anmuten lassen. Die Dialoge sind präzis, kommen sofort zur Sache und wirken auch dann selbstverständlich, wenn eher abstrakte, politische oder psychologische Probleme erörtert werden. Als Erzählzeit hat J. M. Coetzee das Präsens gewählt. Eine heikle Entscheidung, die den Lesern die Fiktion zumutet, es geschehe alles, was geschieht, eben jetzt. Aber auch diese Zumutung erweist sich als Gewinn: Sie gibt Davids und Lucys Geschichte Tempo und Dringlichkeit. Keine Rückblenden zudem, keine Traumsequenzen und perspektivischen Verschachtelungen, die Coetzee in früheren Büchern gelegentlich virtuos, bisweilen angestrengt handhabte.
"Schande": ein gradliniger, schnörkelloser und zielstrebiger Roman, gelenkt und gesteuert von einem unsichtbaren und anonymen Erzähler, der genau so viel weiß, wie wir, die Leser, zu wissen verlangen. Realismus pur: Dieser Eindruck stimmt - und trügt zugleich. Denn hinter der klaren Fassade des Romans wächst, unmerklich zunächst, dann immer sichtbarer werdend, ein finsterer Innenraum. Eine düstere Parabel über die Menschennatur haust in ihm. "Schande" hat eine Botschaft, in der Tat: die Botschaft vom misslingenden Leben, von der Umkehrbarkeit, aber eben auch von der Unaufhebbarkeit des Verhältnisses zwischen Herr und Knecht, von Macht und Unterwerfung als Konstanten der Existenz. Nicht zuletzt wirft der Roman ein fahles Licht auf die Entwicklung Südafrikas seit dem Ende der Apartheid. Die Gewalt hat sich nun andere Täter gesucht und andere Opfer gewählt, dass sie je verschwinden könnte, scheint unmöglich. Aber ob existenzielle Botschaft oder politische Prognose: Der nicht geringe Kunstgewinn von Coetzees Roman besteht darin, alle übergeordnete Bedeutung in konkrete Geschehnisse und nicht minder konkrete Dialogpassagen aufzulösen. Ein fast naives Vertrauen liegt dem zugrunde: dass die Welt erzählbar sei, wieder erzählbar sei oder noch - und dass man sie nur begreift, wenn man sie erzählt. Und siehe da, das Vertrauen trägt in diesem Fall.
Im Fall Melanie bekommt es David Lurie auch mit einer Organisation zu tun, die sich "Frauen gegen Vergewaltigung" nennt, Women Against Rape. Die Abkürzung dieser Gruppe lautet WAR, Krieg. Und den führt sie erfolgreich bis zur bürgerlichen Erledigung des Feinds. Lurie, in Schande, zieht sich aufs Land und zur Tochter zurück, macht sich hier und da ein wenig nützlich, redet ein bisschen viel und räsonniert ein bisschen larmoyant. Tochter und Vater halten es erstaunlich gut miteinander aus, die Idylle scheint unaufhaltsam. Dann, aus heiterem Himmel, wird urplötzlich Krieg gegen Lucy geführt. Drei Männer, Farbige, kommen aufs Gelände, kommen ins Haus, misshandeln David, sperren ihn ein, vergehen sich an Lucy. Die Tochter geschändet, verwüstet die Farm.
Davids verhängnisvolles Abenteuer mit Melanie hatte der Roman ausführlich geschildert. Zwei suchende Seelen hatten sich gefunden und wieder verfehlt, Melanies Freund, Melanies Eltern und Melanies Verwirrung machten daraus den Skandal. Lucys wirkliche Vergewaltigung hingegen bleibt unerzählt, erst viel später stellt sich David vor, wie es gewesen sein könnte. Und für Lucy noch schlimmer als die Schändung ist der Hass, mit dem sie geschah: "Der Schock darüber, gehaßt zu werden, meine ich. Beim Akt." Dennoch lehnt sie den Rat des Vaters ab, die Farm zu verkaufen und wegzuziehen, die Männer zeigt sie nur wegen Diebstahls an - also wegen der Versicherungsprämie. Dass Petrus, ihr schwarzer Kompagnon, mittelbar mit dem Verbrechen zu tun hatte, wird rasch klar, dass sich Lucy fortan gleichwohl in seinen Schutz begeben wird, ist das Ergebnis ihrer lakonischen Überlebensplanung. Die Geschändete ist auch geschwängert, sie wird das Kind austragen. Es wird farbig sein.
Es ist eine sehr archaische und sehr verstörende Lösung, die Lucy wählt: Sie, die emanzipierte Weiße, unterwirft sich den neuen Herren des Landes. Das sei ganz und gar ihre Privatsache, meint sie. Der Roman lässt das stehen, also gelten. Aber er dementiert auch die Vermutung nicht, dass dieser Preis fürs Bleiben keineswegs nur für Lucy gelten könnte. Und David? Er wird Helfer in einer kleinen Tierklinik. Bald wird er sich selbst den "Hunde-Mann" nennen: Seine Aufgabe ist, die eingeschläferten Tiere in die Verbrennungsanlage zu transportieren und dort in den Ofen zu schieben. Viele werden eingeschläfert, weil es zu viele gibt. Hunde, sagt die Betreiberin der Klinik, "können Gedanken riechen". Bevor sie sie tötet, spricht sie mit ihnen und tröstet sie. "Schande" ist kein tröstliches Buch.Es ist viel mehr: ein beunruhigender Roman.
J. M. Coetzee: "Schande". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2000. 288 S., geb., 38,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schließen
»Die fortwirkende Erbschaft von Hass und Rachsucht, die das formelle Ende der Apartheid noch lange überdauern wird, beschwört J. M. Coetzee in lakonischer Sprache - und mit der Bannkraft von Weltliteratur.« (Der Spiegel)
Broschiertes Buch
David Lurie, Professor an einer südafrikanischen Universität, weiß, dass seine Chancen beim weiblichen Geschlecht sinken und nimmt sich, was er an sexuellen Erfüllungen noch braucht, von den wöchentlichen Besuche bei der Prostituierten Soraya. Seine mühsam errichtete …
Mehr
David Lurie, Professor an einer südafrikanischen Universität, weiß, dass seine Chancen beim weiblichen Geschlecht sinken und nimmt sich, was er an sexuellen Erfüllungen noch braucht, von den wöchentlichen Besuche bei der Prostituierten Soraya. Seine mühsam errichtete Scheinwelt, bekommt erste Risse, als er Soraya als ganz normale biedere Mutter entdeckt. J.M. Coetzee beschreibt in seinem Roman, das rasche Ausscheiden aus dem, was Lurie ein normales Leben nennt. Eine folgeschwere Beziehung zu einer Studentin bedeutet das endgültige aus für seine Kariere und soziale Stellung. Er flüchtet zu seiner Tochter aufs Land, wo er sich Wundheilung erhofft, aber es kommt alles anders. Brilliante Sprache, knapp und trocken, klar und intelligent, Gefühle nur gelegentlich aber deutlich, passend zu diesem Charakter. Fazit: soll man gelesen haben!
Weniger
Antworten 2 von 2 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 2 von 2 finden diese Rezension hilfreich
Broschiertes Buch
Tribut an Südafrikas Geschichte
Er sei ein Schriftsteller, «der in zahlreichen Verkleidungen die überrumpelnde Teilhabe des Außenseitertums darstellt», hat das Nobelkomitee die Preisvergabe an John Maxwell Coetzee begründet, es hat damit sehr treffend auch den …
Mehr
Tribut an Südafrikas Geschichte
Er sei ein Schriftsteller, «der in zahlreichen Verkleidungen die überrumpelnde Teilhabe des Außenseitertums darstellt», hat das Nobelkomitee die Preisvergabe an John Maxwell Coetzee begründet, es hat damit sehr treffend auch den Roman «Schande» von 1999 charakterisiert. Die Rezeption seiner Werke ist eine einzige Erfolgsgeschichte, schon sein erstes Buch wurde international positiv aufgenommen. Der Titel «Disgrace», wie der Roman im Original heißt, ist mehrdeutig, er bedeutet einerseits «Ungnade», andererseits aber auch «Schande», - für die Problematik im Roman sind beide Bedeutungen zutreffend. Südafrika ist untrennbar mit der unrühmlichen politischen Periode der Apartheid verbunden, die also auch hier die Dramatik des Plots im Wesentlichen mitbestimmt, wie bei vielen anderen Schriftstellern aus diesem Lande ja auch.
J. M. Coetzee, wie er als Autor genannt werden will, tritt hier unverkennbar als Kunstfigur in der Person seines Protagonisten David Lurie auf. Dieser 52jähriger Professor für Kommunikations-Wissenschaften in Kapstadt ist zweimal geschieden, beruflich wenig erfolgreich, er ist zudem von einem unwiderstehlich Drang zum weiblichen Geschlecht getrieben, - die Zahl seiner Affären ist beachtlich und schließt auch Studentinnen mit ein. Bis ihm die Affäre mit einer seiner Schülerinnen zum Verhängnis wird und er, jede Reue ablehnend, in «Ungnade» aus dem Dienst entlassen wird. Um Abstand zu gewinnen flüchtet er auf die kleine Farm seiner Tochter Lucy in der Provinz Ostkap und wird dort auf dem Land mit einem für ihn fast archaischen Milieu konfrontiert. Nach einigen Wochen werden sie beide am hellerlichten Tage auf der Farm von drei Männern überfallen, Prof. Lurie wird brutal in die Toilette gestoßen, mit Spiritus übergossen und angezündet, er erleidet Verbrennungen am Kopf. Das Haus wird geplündert, die Verbrecher flüchten mit seinem Auto. Die sonst so tatkräftige Lucy steht unter schwerem Schock, ist zu nichts mehr fähig, und erst nach Wochen gesteht die Lesbierin ihrem Vater, brutal, geradezu hasserfüllt vergewaltigt worden zu sein, ihr wurde eine unsägliche «Schande» angetan. Sie hatte damals aber nur den Raubüberfall der Polizei gemeldet, der Versicherung wegen, und weigert sich im Übrigen beharrlich, als alleinstehende junge Frau in diesem offensichtlich gefährlichen, abgelegenen Landstrich, ihre Farm aufzugeben und damit ihren Lebensinhalt.
Für einen europäischen Leser ist es ziemlich seltsam, dass Coetzee konsequent verschweigt, welcher Ethnie seine jeweiligen Romanfiguren angehören, nur bei dem Protagonisten holländischer Herkunft und seiner Tochter ist dies eindeutig klar. Auf dem Land aber handelt es sich mutmaßlich um Farbige, auch für die Verbrecher darf man das selbstverständlich annehmen, erwähnt wird es mit keinem Wort, - eine übertriebene, fast schon abartige Political Correctness. Auch nach Überwindung der Apartheid ist die indigene Bevölkerung zumindest ökonomisch weitgehend abgehängt und lebt in prekären Verhältnissen, aus denen heraus sich ein grenzenloser Hass entwickelt, der sich dann in solchen Gewaltexzessen entlädt. Nur so ist auch die geradezu demütige Haltung von Lucy zu verstehen, die vorher überaus selbstbewusste, emanzipierte Frau will sich resigniert dieser harten Realität beugen.
In parallelen Handlungssträngen werden neben der zentralen ethnischen Problematik auch das Verhältnis Mensch-Tier, der Geschlechterkonflikt und die der Sprache innewohnenden Probleme thematisiert. Ein köstlicher Nebenstrang ist zudem der Versuch von Prof. Lurie, als Laie eine Kammeroper über die Affäre von Lord Byron mit Teresa Guiccioli zu komponieren, - um ein besser Mensch zu werden! In einfachen Worten wird hier zielstrebig und lakonisch eine spannende Geschichte erzählt, eine düstere Parabel über die menschliche Natur, in der am Ende allerdings Lucys Resignation als Tribut an Südafrikas Geschichte doch arg konstruiert erscheint.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich