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Sechs Jahre alt ist der Erzähler, als ihn seine Eltern aus dem wilden Berlin der 1970er-Jahre ins dörfliche Gümse des niedersächsischen Wendlands verpflanzen. Nicht nur ist sein imposanter Vater ein erfolgreicher Künstler, auch wird ihr Zuhause ein regelmäßiger Treffpunkt für die Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik. Mit dem intellektuellen, politisch links stehenden Milieu der Eltern und dem ländlich-provinziellen Leben des Dorfes im »Zonenrandgebiet« prallen Welten aufeinander, zwischen denen der Junge Orientierung sucht - und schließlich im Schreiben findet.
In einer großen
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Produktbeschreibung
Sechs Jahre alt ist der Erzähler, als ihn seine Eltern aus dem wilden Berlin der 1970er-Jahre ins dörfliche Gümse des niedersächsischen Wendlands verpflanzen. Nicht nur ist sein imposanter Vater ein erfolgreicher Künstler, auch wird ihr Zuhause ein regelmäßiger Treffpunkt für die Kunst- und Kulturszene der alten Bundesrepublik. Mit dem intellektuellen, politisch links stehenden Milieu der Eltern und dem ländlich-provinziellen Leben des Dorfes im »Zonenrandgebiet« prallen Welten aufeinander, zwischen denen der Junge Orientierung sucht - und schließlich im Schreiben findet.

In einer großen Erinnerungsbewegung schildert Jan Peter Bremer eine Kindheit auf dem Land, seine literarisch meisterhaft erzählte, tragikomisch-berührende Geschichte.

»Jan Peter Bremer erzählt, wie ein kindliches Bewusstsein sich bildet, nämlich sein eigenes, und weil er ein so kluger, eleganter Erzähler ist, ist das unendlich traurig und furchtbar lustig zugleich.« Thomas Hettche

»Mein Kosmos von Jan Peter Bremer ist um ein weiteres Buch bereichert worden: Nachhausekommen. Tragikomisch, berührend, grandios.« Angelika Klüssendorf
Autorenporträt
Jan Peter Bremer, 1965 in Berlin geboren, erhielt für einen Auszug aus seinem Roman »Der Fürst spricht« 1996 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Er nahm Aufenthaltsstipendien im In- und Ausland wahr, unterrichtete am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und veröffentlichte zahlreiche weitere ausgezeichnete Romane, Hörspiele und ein Kinderbuch. Sein Roman »Der amerikanische Investor« (2011) wurde mit dem Alfred-Döblin-Preis, dem Mörike-Preis und dem Nicolas-Born-Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschien der Roman »Der junge Doktorand« (2019), der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Jan Peter Bremer lebt in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Oliver Jungen ist sehr angetan von Jan Peter Bremers neuem Roman, der starke autobiographische Züge trägt. Bremer entwirft hier ein Porträt des "revolutionären Künstlerkosmos"  in den 1970er Jahren, der trotz allen progressiven Ideen und Dünkeln von denselben patriarchalen Strukturen dominiert wird, wie der Rest der Welt. Die dominante Vaterfigur, die dem Maler Uwe Bremer nachempfunden ist, der mit Frau, Kind und Künstlerkollegen ins Wendland übersiedelte, inkarniert diese, so der Kritiker. Der Sohn leidet zunächst durch dieses linke Künstlermilieu: von der Landjugend wird er gemobbt, in der Schule versagt er. Die "dandyhaften" Künstler lehnen die ländliche Bevölkerung um sie herum ab. Der Rezensent begrüßt , dass Bremer seine Geschichte in kurzen, teils divergierenden Episonden erzählt, in denen der Ich-Erzähler rückblickend sein Leid, aber auch die schönen Momente reflektiert, die so gut zur Geltung kommen. Schließlich findet der Junge über die Literatur zum Schreiben und damit Beachtung bei den Eltern und seiner Umgebung - "ein berührendes Vergnügen", schließt Jungen.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2023

Sie verstehen nicht, wie wir hier leben
Künstler und Autoren ziehen seit den Siebzigern ins Wendland. Jan Peter Bremer erzählt von ihrem Milieu aus der Perspektive des Künstlerkindes, das er dort selbst war
Anfang der Siebzigerjahre zog es eine Gruppe junger Künstler aus dem inselhaften West-Berlin ins abgelegene Wendland, jener damals noch unbeschriebenen Provinz an der Grenze zur DDR, mit der Elbe als Fluss, der das Drüben mit Stacheldraht und Schießanlagen vorm Hüben sicherte. Einer der Ersten, die in diese Gegend zogen, war Uwe Bremer, seinerzeit ein hochgehandelter Maler, einer, der von seiner Kunst komfortabel leben konnte und der diesen ökonomischen Ausnahmestatus wohl auch mit einem gehobenen Lifestyle illustrierte. Dazu gehörte neben einem Amischlitten ein ehemaliges Raubrittergut, das Schloss Gümse in der Nähe der Kreisstadt Dannenberg.
Diese wenigen Koordinaten reichen schon aus, um den realweltlichen Bezug von Jan Peter Bremers neuem Roman „Nachhausekommen“ herzustellen. Jan Peter ist Uwe Bremers Sohn und seit vielen Jahren berühmter als sein heute fast vergessener Malervater. In schmalen, konzentrierten, mit grotesken-komischen Traum-Exkursen vergnüglich gehaltenen Kurzromanen hat Bremer das Problem des Künstlers im Berlin des strammer werdenden Kapitalismus beschrieben: „Der amerikanische Investor“ handelte vom Verkauf einer verratzten Kreuzberger Wohnung an einen Immobilienmogul, in „Der junge Doktorand“ erhofft sich ein altes Künstlerpaar eine Belebung seiner Lebensroutine durch einen jungen Kunststudenten.
Jan Peter Bremer wuchs in Gümse auf, das zusehends zum Lebensmittelpunkt von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten wurde, die sich im näheren Umkreis preiswert Land und Häuschen verschafften und von den einheimischen Bauern und Handwerkern mit Befremden, mitunter sogar mit Abscheu wahrgenommen wurden. Fünfzig Jahre nach dem Umzug in den Landkreis Lüchow-Dannenberg hat Jan Peter Bremer, der seit den Achtzigerjahren in Berlin lebt, einen kleinen Roman über seine Kindheit im Spannungsfeld jener Künstlergruppe geschrieben, deren Protagonisten nicht namentlich vorkommen, sondern anhand der Schilderung ihrer Eigenschaften personalisiert werden, ein paar von ihnen treten mit ihren Initialen auf. Die Verführung wäre groß gewesen, ein Buch mit klangvollen Namen zu füllen und in ihm die Kabale, Rangkämpfe und Eifersüchteleien der westdeutschen Bohème abzubilden, denn das Wendland war Sommerfrische und Atelier, Dichterhain und später vor allem: Protestredenland – gegen das im Wald bei Gorleben geplante Endlager für Atommüll erhoben viele damals ihre Stimme.
Bremer erzählt aber eine andere Geschichte, nämlich die eines verträumten, im Kokon des Elternhauses geborgenen, von der bäuerlichen und schulischen Außenwelt wiederum verängstigten und mitunter geschundenen kleinen Jungen, für den, da ist der kleine Jan Peter dem kleinen Marcel in Prousts Recherche verwandt, die Fantasie rührende und sehnsuchtsvolle Vorstellungen von Verlassenheit und unverhofftem Trost bereithält. Zum Beispiel, wenn er sich ausmalt, selbst das Kind einer der kargen, schweigsamen Bauernfamilien zu sein, in denen der vor Suff rotgesichtige Vater jederzeit austicken kann. Und als dann, in der Fantasie des Jungen, die Mutter als Erlöserin erscheint, weiß er wieder, dass er es schöner hat als die anderen Kinder im Dorf, „weil ich nämlich ganz anders aufwuchs als sie, frei und gleichzeitig geschützt“.
Aber es gibt für das Kind eben auch ein Leben außerhalb des Schlosses, und das findet hauptsächlich in der Schule statt. Sie ist ein Ort des Versagens, der Qual und der Scham vor der nicht erbrachten Leistung. Es ist bewegend und – für ehemals miserable Schüler – identitätsstiftend, wie Jan Peter Bremer von der Angst erzählt, indem er den Jungen jene Stunden und Tage feiern lässt, in denen die Klassenarbeit noch in der Aktentasche des Lehrers liegen bleibt und Scham und Schande für kostbare Stunden aufgeschoben sind.
Zumal da der Junge auch unter seinen Schulkameraden zur Genüge leiden muss. Schon im Schulbus wird er gehänselt und bespuckt, seine lockigen Haare sind dem Zugriff der anderen Jungen ausgeliefert. Die Künstlerfamilie sei für Willy Brandt, vermutlich auch für die DDR, und es gehe bei ihnen sexuell promiskuitiv zu, lauten die Dorfgerüchte. In Wahrheit ist das Zuhause, in das der Junge immer wieder flüchtet, auch ein Ort, an dem, womöglich etwas differenzierter als in den Bauernstuben, die alte patriarchalische Ordnung so fest steht wie die Pfeifen im Pfeifenregal des Malerfürsten. Der Vater verteilt das Geld, er lässt sich zum Bau eines Spielhäuschens herab, er, der Vater, duldet keinen Zweifel daran, wer das schöne Landleben finanziert, er selbst nämlich. „Das Gewicht der Worte meines Vaters war entschieden größer als das Gewicht der Worte meiner Mutter“, heißt es einmal. Und die Mutter markiert den gesellschaftlichen Unterschied der Bremers zu den Landleuten mit klassenbewusstem Distinktionsstolz: „Die verstehen gar nicht, wie wir hier leben.“
Fabelhaft, wie Bremer die Abende vor der „Tagesschau“ beschreibt, wenn die Intellektuellen im Wohnzimmer hinter jedem Satz des Sprechers eine vermeintliche Lüge ausmachen. Somit ist Bremers kleiner Roman, den ein tastender, klarer und heiterer Erzählton vorantreibt, auch eine Parabel auf die Männerwelt jener Siebzigerjahre, die wohl jeder, der sie als Kind erlebt hat, als eine von Grundlangeweile und seltsamer Farblosigkeit geprägte Epoche in Erinnerung behalten wird.
Jan Peter Bremer hat den Roman mit einer schmerzhaften und zugleich provokanten Verlierergeschichte unterlegt. Während in der Künstlerfamilie alles auf Erfolg und Ruhm getrimmt ist, wird das Schulversagen des kleinen Jungen als Kränkung begriffen, als ärgerliche Unterwanderung der Bildungselite, die ihre Enttäuschung nur mühsam vor dem kleinen Vollversager verbergen kann. Dass er nicht aufs Gymnasium gehen kann, sei ja kein Beinbruch, aber der Junge liest aus ihren Gesichtern, er hört aus ihren Worten heraus, „was für eine Kacke das alles in Wahrheit war“.
Jan Peter Bremer hat einen Künstlerroman aus der Perspektive des Künstlerkindes geschrieben. Angst und Stolz des kleinen Schlossbewohners, Geheimnis und Angebertum der Eltern und Freunde, Rohheit und raue Zutraulichkeit der Bauernkinder – all dies verwebt Jan Peter Bremer zu einer poetischen und bewegenden Erzählung des mühsamen Heranwachsens.
Die Berliner Szene aus Künstlern, Journalisten und Schriftstellern wird nicht sympathischer gezeichnet, als sie war, aber sie wird auch nicht denunziert. Zwei von ihnen hat Bremer vorsichtig kenntlich gemacht. Hinter dem Akronym H.C.A. steht der österreichische Dichter Hans Carl Artmann, und der „Schriftsteller B.“ ist der damals wohl bedeutendste Wendland-Bewohner Nicolas Born. Der Junge darf mit den beiden nach Wien reisen, wo diese repräsentative Verpflichtungen haben. Als sie auf dem Stephansdom stehen, gesteht B. dem Jungen, „dass es ihn auf solchen Plattformen immer hinabziehe, so als wäre dort unten auf dem Pflaster ein Magnet, der auf ihn gerichtet wäre“. Das ist ein verstörendes Bild der Todessehnsucht. Aber wenn man es umdreht, gibt es eine schöne Allegorie auf die Art von Schreiben her, derer sich Jan Peter Bremer seit einiger Zeit angenommen hat. Irgendwann wird ein frühes Leben erkennbar, zu dem man sich hingezogen fühlt, auch wenn die Berührung mit diesem Leben schmerzhaft sein kann.
HILMAR KLUTE
So ist der Roman auch
eine Parabel auf die
Männerwelt dieser Zeit
Der Schriftsteller Jan Peter Bremer, geboren 1965, ist der Sohn des Malers und Grafikers Uwe Bremer.
Foto: Hornoff/Piper
Jan Peter Bremer: Nachhausekommen. Roman. Berlin Verlag, Berlin 2023. 207 Seiten,
22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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»Einer der feinsten Stilisten deutscher Sprache... Dieser Berliner Schriftsteller ist ein Crack!« Joachim Scholl Deutschlandfunk Kultur "Lesart" 20231106

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.01.2024

Stolpern, um gesehen zu werden

Verloren im Zonenrandgebiet:

Jan Peter Bremer hat einen anrührend tragikomischen Roman über eine schwierige Jugend im ländlichen Künstlerexil verfasst.

Nachhausekommen, das kann Rückkehr ins Vertraute bedeuten. Es kann aber auch die Gegenrichtung gemeint sein, der Versuch eines sich fremd, ungenügend und einsam fühlenden Kindes, überhaupt erst anzukommen in der eigenen Kindheit, der eigenen Familie, dem Freundeskreis. Diese nach vorn gerichtete Sehnsucht durchzieht das neue Buch von Jan Peter Bremer, dessen sensibler Icherzähler mit dem Autor so viele Lebensumstände teilt, dass man wohl vorsichtig von einer autofiktionalen, freilich stark überformten Erzählhaltung sprechen kann. Es geht um eine dislozierte Kindheit im Schatten eines übermächtigen, erfolgreichen, dazu als progressiver Künstler auch noch beängstigend unkonventionellen Vaters in den Siebzigerjahren. In dieser selbstgewissen Vaterfigur spiegelt sich der Maler Uwe Bremer, der mit seiner Familie und einigen Künstlerkollegen - der Werkstatt Rixdorfer Drucke - 1971 nach Gümse im Wendland zog und den man schon in Jan Peter Bremers herrlich abgründiger Künstlergroteske "Der junge Doktorand" liebevoll karikiert sehen konnte.

Die an Thomas Bernhard erinnernden Satzkaskaden gibt es auch diesmal wieder, nur weniger deutlich ins Komische verschoben. "Nachhausekommen" erzählt die Geschichte des sich für den Nabel der Welt haltenden Künstlerkollektivs noch einmal neu als unscheinbare Tragödie, wobei im Unscheinbaren schon der Kern der Tragik liegt. Was von außen wie eine Idylle wirken mag, das Landleben einer linken Künstlerfamilie im stattlichen Anwesen, nimmt das von dieser Lebenssituation doppelt überforderte Kind - als Anhängsel der zumindest vermeintlichen Terroristenfreunde von der Landjugend abgelehnt, ja, gemobbt; den Ansprüchen der tatsächlich das System ablehnenden Eltern nie genügend und so immer unsicherer werdend - wie ein unabänderliches Unglück wahr, einen Alltagshorror zwischen Versagensangst und Selbstablehnung. Dass er von seinen Eltern trotz schulischer Probleme und gänzlicher Talentfreiheit im Malerischen - so eindrucksvoll wie amüsant die Passage, in der das Kind ein Fahrrad zeichnen soll und der Vater am Ergebnis verzweifelt - dennoch geliebt und unterstützt wird, macht die Sache nicht besser, sondern den Druck nur größer. Die tägliche Schultortur behält der Gemobbte für sich: "gut war ja auch jeden Tag die Antwort, wenn mich meine Mutter fragte, wie denn mein Tag in der Schule gewesen sei".

Der zurückblickende Erzähler erinnert sich, wie er sich an kleine soziale Erfolge klammerte, an andeutungshafte Freundschaften, auch wenn die Freunde meist wegzogen, an die seltene Erlaubnis der Landkinder, mitspielen zu dürfen. Ebenso rührend sind die Glücksmomente im Familienkreis: Einkaufstouren mit der schönen Mutter, liebevolle Geschenke wie ein zutrauliches Meerschweinchen, das bald vom Nachbarhund totgebissen wurde, wilde Feiern mit den Künstlerfreunden und den Großmüttern, gemeinsame Fernseherlebnisse mit dem Vater, allem voran die oft nächtlichen Boxkämpfe Muhammad Alis, wobei der Junge als Underdog heimlich zum Gegner hielt. Bremer versteht es, mit wenigen, einfachen Sätzen diese jugendliche Notsituation im Alternativ-Luxus von innen heraus zu skizzieren. Oft schimmern die scheinbar internalisierten, auf diese Weise subtil kritisierten Stimmen der alle Fehler beim Kind sehenden Eltern durch: "Nicht nur, dass ich mich mit Veränderungen schwertat, ich war dazu auch noch ein richtiger Spätzünder." "Vielleicht bestand eines meiner Probleme aber auch einfach darin, dass ich das alles viel zu ernst nahm."

Als besonders geschickt erweist sich Bremers formale Entscheidung, diesmal keine klassische Geschichte zu erzählen, sondern viele konkrete, teils auch divergierende Erinnerungen, schließlich liegt nichts der kindlichen Perspektive ferner als die Idee, die Kindheit sei ein Kontinuum mit dem Ziel, irgendwann kein Kind mehr zu sein. So kann hier der Verzweiflung am einen Tag eine ungebrochen glückliche Erfahrung folgen, ohne dass dies inkonsistent wirkte. Insgesamt dominiert aber der sich auswachsende Minderwertigkeitskomplex die Darstellung. Auf dem Schulweg versucht der Held die meiste Zeit, unsichtbar zu sein. Zu Hause buhlt er, weil kaum bemerkt, mit traurigen Mitteln um Aufmerksamkeit. Er gewöhnt sich das Stolpern an, nur um wahrgenommen zu werden.

Über eine bedrückende psychologische Studie oder eine sehr persönliche autobiographische Miniatur geht Bremers Buch weit hinaus, weil es en passant ein erhellendes Porträt des bis heute häufig glorifizierten Aufbruchsmilieus der Siebzigerjahre zeichnet, das entgegen der eigenen Wahrnehmung und aller Nacktbadeideologie von derselben eisernen patriarchalen Ordnung geprägt war wie der Rest der Gesellschaft. Das zeigt sich nicht allein an der Zentralgestirnstellung des Vaters im Familienkreis ("So wie der Mond um die Erde kreist, so kreiste ich um meine Mutter, und meine Mutter kreiste mit mir um meinen Vater"), sondern auch in einer diesen gesamten revolutionären Künstlerkosmos strukturierenden Hierarchie, für die der Junge als stiller Beobachter ein feines Gespür entwickelt. Überall, selbst in der Körpergröße der väterlichen Freunde, sieht er Macht- und Bedeutsamkeitsordnungen am Werk: "Es gab die wichtigen und die weniger wichtigen Menschen." Die Hierarchie der Eltern ist derjenigen, die im Dorf herrscht ("An der Spitze standen die Bauern"), lediglich entgegengesetzt. Den dummen Bauern ohne jedes ästhetische Gefühl fühlten sich die Kunstdandys natürlich überlegen. Aber auch innerhalb der Boheme gab es Abstufungen. Neben den Malern nahmen die Schriftsteller den Spitzenrang ein, wobei auch hier wieder einige wichtiger als andere erschienen. Am höchsten im Kurs standen Naturgenies, die nicht "allzu klug" waren.

In dieser Hinsicht, dem Nichtklug-sein, kann der Erzähler einiges bieten. Und so ist es, mit Schwung erzählt, die Literatur, die ihm, der vor der quälenden Nichtbeachtung zunehmend in die Lektüre flüchtet, einen Ausweg bietet. Besonders faszinieren ihn die starken Stoffe, Westernfilme oder Horrorgeschichten. Ein Buch Edgar Allan Poes wird erwähnt, das ihm zu imponieren scheint, auch wenn er sich - eine Prise selbstbezüglichen Humors des Autors - "in den langen, wortreichen Sätzen" verliert. Die Rezeption all der Abenteuer zwischen Buchdeckeln animiert den Helden zu eigenen, gern grotesk gewalttätigen literarischen Ideen, etwa der über einen sterbenden Mann, der mit aus dem Leib hängendem Gedärm einen anderen erwürgt. Mit solchen Geschichten erntet er erstmals leise Anerkennung im Elternmilieu. Das Misstrauen gegen sich selbst scheint abzuebben, der Weg ans Gymnasium ist wieder offen, und sogar die Hoffnung auf ein Leben mit Freunden und Mädchen keimt auf. Anders als in Poes "Untergang des Hauses Usher" bildet also nicht die Verdammnis den Horizont dieser Familiendekonstruktion von unten. Der Erzähler ist vielmehr doch noch angekommen in der eigenen Kindheit und Familie, findet seinen Platz im Kollektiv - und letztlich in der Kunst. Ihn auf diesem nie larmoyanten Weg zu begleiten, ist ein berührendes Vergnügen. OLIVER JUNGEN

Jan Peter Bremer:

"Nachhausekommen".

Roman.

Berlin Verlag,

Berlin/München 2023.

208 S., geb., 22,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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