Produktdetails
  • suhrkamp taschenbuch 2617
  • Verlag: Suhrkamp
  • 1996.
  • Deutsch
  • Abmessung: 16mm x 108mm x 176mm
  • Gewicht: 248g
  • ISBN-13: 9783518391174
  • ISBN-10: 3518391178
  • Artikelnr.: 06375476
Autorenporträt
Wolfgang Hildesheimer, geb. am 9.12.1916 als Sohn jüdischer Eltern in Hamburg, verlebte seine Kindheit in Hamburg, Berlin, Cleve, Njimegen und Mannheim. Nach der Machtergreifung Hitlers musste er 1933 mit seinen Eltern über England nach Palästina emigrieren. In Israel absolvierte er von 1934-37 eine Tischlerlehre und wurde in Möbeldesign und Innenarchitektur unterrichtet. 1937-39 studierte Hildesheimer in London Malerei und Bühnenbildnerei an der Central School of Arts and Crafts. Während dieser Zeit hielt er sich auch in Cornwall auf; nach seiner Rückkehr nach Palästina 1939-42 als Englischlehrer am British Council in Tel Aviv und bis 1946 als Informationsoffizier in Jerusalem tätig. Bei den Nürnberger Prozessen arbeitete Hildesheimer als Simultandolmetscher (1946-49), nach 1948 als Redakteur ihrer gesamten Protokolle. Danach zog er sich für vier Jahre an den Starnberger See zurück, wo er zu schreiben anfing und als Maler seinen Lebensunterhalt bestritt. 1957 siedelte Hildesheimer ins schweizerische Poschiavo/Graubünden über, wo er am 21.8.1991 verstarb. Bereits 1983 hatte der Autor bewusst aufgehört, literarische Texte zu schreiben. Danach widmete er sich vorwiegend seinen Grafiken und Collagen. 1966 erhielt Hildesheimer den Georg-Büchner-Preis. Zu den weiteren Literaturpreisen gehören der Hörspielpreis der Kriegsblinden (1954), der Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste (1982) und der Literaturpreis der Stadt Weilheim (1991). Außerdem wurde er 1982 Ehrendoktor der Universität Gießen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.12.2007

Die Wirklichkeit erfinden
Wolfgang Hildesheimer: „Marbot. Eine Biographie”
Wie es von gewissen klugen Leuten heißt, dass sie nie geistvoller argumentieren, als wenn sie im Unrecht sind, so hat Wolfgang Hildesheimer nie brillanter, reaktionssicherer, spannungsvoll origineller geschrieben als in „Marbot”, wo er etwas eigentlich Unmögliches versuchte.
Er wollte nämlich eine Biographie erfinden, die den Anspruch erfüllt, „Wirklichkeit” zu sein. Er selbst war erstaunlich überzeugt davon, sein 1801 als privilegierter, reicher englischer Großgrundbesitzersohn geborener Held Andrew Marbot habe tatsächlich gelebt, sei vom Kaplan der Familie, dem holländischen Jesuitenpater Gerardus van Rolsum vielsprachig und vielseitig erzogen worden und dann auf seinen Reisen mit Goethe, Schopenhauer, Leopardi mit zahlreichen zeitgenössischen Künstlern und Malern zusammengetroffen. Hildesheimer lässt bei alledem nicht die geringste historische Unwahrscheinlichkeit zu. Jede Begebenheit könnte genauso passiert sein.
Marbot gewinnt blutjung ein leidenschaftliches Interesse vor allem an bildender Kunst und Künstlern. Da er zu seinem Kummer feststellen muss, selbst kein kreatives Talent zu besitzen, wird er zum umso sensibleren Kunst-Betrachter, Bild-Interpreten, Ästhetik-Theoretiker. Seine Kunst-Schriften machen Marbot unter Kennern berühmt - 1888 erscheint über ihn die erste Biographie.
Da ist er allerdings längst tot. In eine unselige, skandalschwangere Inzestaffäre mit seiner schönen Mutter verstrickt, nahm er sich 29-jährig das Leben.
Die heitere, nie im mindesten parodistische Originalität, mit welcher Hildesheimer hier Reaktionen Goethes, Thomas de Quincey’s, Schopenhauers, Byrons und vieler anderer erfindet, die Interpretationen berühmter Gemälde zwischen Giorgione, Tintoretto, Rembrandt, Delacroix – alle diese genialen Kunst-Stücke machen verständlich, dass Hildesheimer, auf seine fiktive „Biographie” angesprochen, ernsthaft glaubte, damit das Wirkliche bereichert zu haben. Es war alles andere als ein „Scherz” für ihn – nie schrieb er besser, reicher, und dichter. Und das will wahrlich etwas heißen bei einem Autor, der bereits in seinem Erstling, den „Lieblosen Legenden”, meisterhaft mit der Sprache zu spielen und doch zurechtzukommen wusste, der nie stehen blieb bei dem, was er perfekt konnte, sondern immer neue Herausforderungen suchte in „Tynset”, „Masante” und einer Mozart-Biographie, welche ihm die Schwierigkeit hinreichender Durchdringung eines genialen Lebens derart eindringlich vor Augen führte, dass er sich als Antwort darauf eben „Marbot” erwählte. Und zwar mit der Begründung, es sei leichter, einem Talent gerecht zu werden als einem Genie.
Zu den Köstlichkeiten gehören auch mannigfache (fiktive) englische Zitate, die mitgeteilt sowie vom Autor hilfreich übersetzt werden. Sie machen fühlbar, dass Hildesheimer nicht nur wunderbares Deutsch zu schreiben vermochte, sondern auch ein faszinierend anmutiges Englisch. JOACHIM KAISER
Wolfgang Hildesheimer Foto: Brigitte Friedrich
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