zieht alle Register eines spätromantischen Briefstils und nimmt dabei die Position ein, die von Arnim selbst in ihrem Goethe-Buch gegenüber dem verehrten Dichter eingenommen hatte: "Begnadete, gebenedeite hätt ich beinah geschrieben", so hebt das Schreiben an, nur um sich selbst ins Wort zu fallen und eine reizende Geschichte zu erzählen, in der ihn der eigene Verstand, "dieser uralte Philister", wegen seines schwärmerischen Briefanfangs verspottet und vor Lachen darüber, dass er wirklich an die berühmte Bettine von Arnim schreibe, schier in Atemnot geraten sei.
Am Ende bittet der Autor um ein winziges Zeichen, dass der Brief angekommen sei, und unterzeichnet poetisch mit "Ingurd", dem Namen eines damals populären Helden der nordischen Sagenwelt. Seinen echten Namen teilt der Jurastudent Julius Döring, geboren 1817, aber auch mit, schließlich käme ein Antwortbrief sonst nicht an. Im Januar 1839 ist er 21 Jahre alt, von Arnim 53.
Der Briefwechsel, der sich nun entspinnt, währt etwa zehn Jahre lang, wobei das Hauptgewicht auf der ersten Zeit liegt - allein 60 der 97 erhaltenen Briefe fallen ins Jahr 1839, weitere 18 ins Folgejahr, etwa so viel also, wie dann insgesamt in den acht weiteren Jahren der Korrespondenz noch hin und her gehen.
Die eine Seite dieses Briefwechsels ist seit 1963 zumindest in der Welt, wenn auch nicht sonderlich bekannt: Damals erschien im "Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts", herausgegeben von dem Germanisten Werner Vordtriede, ein Konvolut von 36 Briefen, die von Arnim an Döring schrieb.
Andere fehlten, etwa der allererste, mit dem die Dichterin sichtlich geschmeichelt, vor allem aber auch zum Spiel mit den Konventionen bereit, die einen solchen Kontakt eigentlich nicht vorsahen, den von Döring angeschlagenen Ton aufnahm, der ja ihr eigener war. Döring hatte seine kleinbürgerliche Herkunft mit den Adelskreisen verglichen, in denen sie sich bewege und wo man ihr "gewiß viel Schönes, viel Kluges über ihre Briefe" sage - er selbst sei aber "weder hochwohl- noch wohlerzogen" und könne "fürchterlich unhöflich sein". Darauf antwortete von Arnim: "Auch ich bin auf Erziehung nicht angewiesen sondern auf Natur, von der ich jedoch nicht wie Sie mit Der Waffe Der Unhöflichkeit begabt, mich genöthigt fühle mit Höflichkeit um den Sieg zu ringen." Das leitet eine ausführliche Antwort auf Dörings langes Schreiben ein, die alles diskutiert, was er angesprochen hatte - das Spektrum reicht von der Philosophie über die Religion bis hin zu den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen in Preußen.
Dass man sich nun einen Eindruck von diesen Briefen verschaffen kann, vor allem: dass man nun erstmals auch Dörings Schreiben liest, ist Wolfgang Bunzel zu verdanken, der im Freien Deutschen Hochstift als Experte für die literarische Romantik arbeitet und seit vielen Jahren mit Leben und Werk der Bettine von Arnim befasst ist. Was bereits Werner Vordtriede angekündigt hatte, ohne es umsetzen zu können, die Edition des kompletten Briefwechsels zwischen von Arnim und Döring, ist Bunzel nun gelungen, und dies in einer Form, die in ihrer editorischen Sorgfalt, reichen Bebilderung und dem bestechend präzisen Kommentar keinen Wunsch offenlässt, den man an eine solche Ausgabe sinnvollerweise richten kann.
So verfolgt man die rasante Entwicklung eines Verhältnisses, das zwischen Schwärmerei, Liebe und Befremden changiert, zeitversetzt und in unterschiedlicher Intensität auf beiden Seiten, denn auch von Arnim geizt zu Zeiten nicht mit Zärtlichkeit: "Lieber Blonder! - zu Füssen wolltest Du mir fallen und dann ans Herz? - Ach! - frühere Gelübde verhindern dies. - Wie gern wollt ich sonst!", schreibt sie am 18. März 1839 nach knapp zwei Monaten Bekanntschaft.
Dass die Briefe von Anfang an nicht nur literarischen Mustern folgen, sondern auch auf ein tatsächliches oder erträumtes gemeinsames Leben in der Literatur zielen - in Abgrenzung zu einer bürgerlichen Karriere, ebendem Dasein als "Philister" -, untermauert Döring am 20. März: "Die Musen seien zwischen dir und mir. Jedes Wort, das sie nicht hören können, sei Lüge und Sünde, wie denn alle Sünde nichts ist als Lüge. - In wenig Tagen nimmt mich ein erbärmliches, beschränktes Philisterleben auf in seinen Familienschooß. Da gilt es Ausdauer zeigen, und mit Muth die Wasserprobe bestehen." Etwas später beteuert er: "Wächst mir ja der Philister über den Kopf: so geb ich dir das Recht, nein, ich bitte dich, mich zu vergessen. - Auch der Philister wird dann froh sein, zu vergessen, was er gedacht und gefühlt hat, seit er dich kannte."
Das ist das zentrale Problem, das zwischen Döring und von Arnim verhandelt wird, im März 1839, als der Student zurück nach Wolmirstedt kehren musste, um seine juristische Ausbildung abzuschließen, wie auch in den folgenden Monaten, als von Arnim ihm eine philologische Arbeit anvertrauen will und Döring dies zugunsten seines Brotberufs ausschlägt. Ob man daher aus der Rückschau, wie der Herausgeber Bunzel, Dörings Überlegungen als bloße "Ausbruchsphantasien" einstufen will, die dem Konformitätsdruck seitens des Vaters wie der Gesellschaft insgesamt geschuldet seien, ist schwer zu entscheiden.
Langfristig wurzelt jedenfalls wohl hier die Enttäuschung von Arnims über ihren Zögling und Geliebten, dem sie dann viel später, als er sie tatsächlich um Hilfe in der beruflichen Laufbahn bittet, nicht einmal mehr antwortet. Und wenn es noch eines Grundes bedarf, diesen Briefwechsel neben allem anderen auch für äußerst gegenwärtig zu halten, dann liegt er in der intensiven Darstellung dieses Konflikts zwischen dem Wunsch, ein anderes Leben zu führen als die Eltern, und der Ahnung, dass es am Ende auf genau so ein Leben hinauslaufen wird.
Kurzfristig aber scheint die Diskussion über das "Philistertum" eine zauberhafte Herbstreise motiviert zu haben, für die von Arnim eigens nach Magdeburg fährt, ihren Studenten mit in die Kutsche nimmt und für einige Tage über den Harz bis nach Kassel reist, wo der staunende Döring die Brüder Grimm kennenlernt. Von Arnim macht manchmal ein Geheimnis aus der Identität ihres Begleiters und lässt diejenigen, die dem Paar begegnen, im Unklaren über das genaue Verhältnis der beiden, dann wieder stellt sie ihn vor und küsst ihn öffentlich.
Diese Intensität lässt sich offenbar nicht bewahren, die Sache kühlt sich ab, und als von Arnim auf den Gedanken kommt, den Briefwechsel mit Döring zusammen mit den zwischen ihr und dem ebenfalls jungen Fabrikantenerben Philipp Nathusius bearbeitet herauszugeben, lässt Döring - der ihr ihre Briefe wie verlangt zurückschickt - durchblicken, dass ihm eine solche Publikation wegen seiner freimütigen politischen Äußerungen in seiner Laufbahn schaden könnte. Von Arnim versteht das und beschränkt sich auf den Briefwechsel mit Nathusius.
Trotzdem betätigt sich Döring, von dem nicht einmal ein Bild überdauert hat und über dessen Lebensumstände vieles unklar ist, 1848 politisch, liebäugelt mit der Revolution und wird danach strafversetzt. Ganz so philisterhaft wie befürchtet verläuft sein Leben nicht - eine späte Folge womöglich dieser Liebesverbindung.
TILMAN SPRECKELSEN.
Bettine von Arnim: "Letzte Liebe".
Herausgegeben und kommentiert von Wolfgang Bunzel. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. 576 S., geb., 42,- [Euro].
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