Produktdetails
  • Verlag: Bange, C
  • ISBN-13: 9783804417571
  • ISBN-10: 3804417574
  • Artikelnr.: 00193632
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.08.2018

Der rote Mantel
Vor fünfzig Jahren, im August 1968, erschien der Roman „Deutschstunde“ von Siegfried Lenz.
Er wurde ein Bestseller, über den die Kritiker lästerten – und ist besser als sein Ruf
VON THOMAS STEINFELD
Als Siegfried Lenz im Jahr 1955 die Erzählungen „So zärtlich war Suleyken“ veröffentlichte, die scheinbar lauter Reminiszenzen an das volkstümliche Masuren enthielten, stellte er einen kurzen Kommentar an das Ende des Bandes. Darin steht der Satz: „Meine Heimat lag im Rücken der Geschichte.“ Aus dieser Region Ostpreußens, legte er weiter dar, stammten keine bedeutenden Menschen, keine „Rollschuhmeister“ und keine berühmten Physiker. Siegfried Lenz selber, glaubt der Leser zu verstehen, zähle sich auch nicht zur Prominenz. Dann wären mit „Geschichte“ die Ereignisse und Auftritte gemeint, deretwegen sich die Öffentlichkeit einer Gegend zuwendet.
Man kann den Satz indessen auch programmatisch verstehen, als Auskunft eines Schriftstellers über sich selbst. Dann würde sich hinter dem Wort „Geschichte“ auch die „Erzählung“ verbergen. Und wenn man jenen Satz in seiner ersten Bedeutung noch für kokett halten könnte, so gilt das nicht für seine zweite Bedeutung. Er wäre dann nämlich schlicht wahr und besagte: Siegfried Lenz war, allem Anschein und den meisten kritischen Urteilen zum Trotz, nie ein wirklich realistischer Erzähler. Sein Schreiben findet „im Rücken der Geschichte“ statt, und erst dort entfaltet es seine eigentliche Qualität.
Vor fünfzig Jahren, im August 1968, erschien „Deutschstunde“, der mit Abstand erfolgreichste Roman des Schriftstellers. Er spielt in Hamburg sowie in einem Dorf im Norden Schleswig-Holsteins und enthält die Geschichte eines Jünglings namens Siggi Jepsen, der, einer langen Reihe von Bilderdiebstählen wegen, in einer Anstalt für schwer erziehbare Jugendliche einsitzt und die lange Kette der Verhängnisse niederschriebt, die endlich zu seinem Vergehen führte. Doch sind die Diebstähle im Grunde genommen Rettungsversuche: Sie gelten dem Werk des expressionistischen Malers Max Ludwig Nansen, gegen den im Jahr 1943 ein Malverbot verhängt wird, das der Dorfpolizist, Siggi Jepsens Vater und ein Mann der bedingungslosen Pflichterfüllung, zu überwachen hat. Der Sohn aber steht dem Maler nahe. Er verbirgt die Bilder.
Doch als der Polizist die einmal ausgesprochene Verfügung selbst dann noch zu exekutieren trachtet, als es offiziell gar keine Nationalsozialisten mehr gibt, wird er, in einem wahnhaften Aufbegehren gegen den Maler wie den Vater, zum Dieb: „Keiner, keiner würde dieses Bild zu Gesicht bekommen, das war beschlossen, und auch die anderen Bilder waren nur noch für mich da, ich hatte da etwas gelernt, hatte an mir selbst erfahren, was ich brauchte, um mit mir auszukommen.“ Eine Pflicht meint der Vater gegenüber Max Ludwig Nansen erfüllen zu müssen, eine Pflicht erkennt der Sohn zuerst gegenüber dem Maler, dann gegenüber dem Werk und sich selbst. Eine Pflicht schließlich ist die Strafarbeit, die Siggi Jepsen über die „Freuden der Pflicht“ zu verfassen hat. Und sind nicht die unzähligen „Besinnungsaufsätze“ (sie heißen meist nicht mehr so, haben ihren Charakter aber nicht verloren), die an deutschen Gymnasien über die „Deutschstunde“ zu verfassen waren und womöglich immer noch sind, über die Zwiespältigkeit der Pflicht, über Fanatismus, Mitläufertum und Widerstand, nicht selbst lauter Übungen in der Erfüllung von Pflicht?
Siegfried Lenz war ein beliebter Autor, als die „Deutschstunde“ erschien, seine Werke wurden von der Kritik wohlwollend behandelt, mit der Einschränkung, sie seien eher konventionell. Angesichts der „Deutschstunde“ steigerte sich der Vorbehalt indessen zu einem Vorwurf, der Autor habe sich in der Erzähltechnik geirrt: Ein so junger Mensch sei doch weder der Einsichten noch der Sprache fähig, die dessen angebliche „Strafarbeit“ auszeichne. „Das vorgespiegelte Erleben und die tatsächliche Erlebnisfähigkeit ... stehen in einem beinahe grotesken Missverhältnis“, befand Hans-Albert Walter in dieser Zeitung. Im Spiegel erklärte Peter Härtling, Siegfried Lenz habe seinen Roman „ruiniert“. Es sei „unbegreiflich“, warum er „den aufbegehrenden Sohn“ habe „derart früh reifen“ lassen. Und in der Zeit fragte Marcel Reich-Ranicki, nachdem das Buch sieben Monate die Bestsellerliste angeführt hatte, den Autor in bewährt boshafter Manier: „Wäre es also möglich, dass der Publikumserfolg Ihres Romans eher mit seinen schwachen als mit seinen starken Seiten zusammenhängt?“
Der Leser, antwortete Siegfried Lenz, sei „ein unbekanntes Wesen, unberechenbar, unkalkulierbar“. In diesem Fall war der Leser indessen auch klüger als die Kritiker, die dem Ideal einer gemäßigten Moderne anzuhängen schienen, eines sinnlich geläuterten Expressionismus womöglich, und mit dem Ineinander von scheinbar realistischem Erzählen und erzähl- und bildkritischer Konstruktion wenig anzufangen wussten.
In Siegfried Lenz steckte ein Landschaftsmaler, oder genauer: ein Autor, der Landschaften mit einer Geduld und Genauigkeit zu beschreiben wusste, wie sie ansonsten dem Maler von Landschaften zukommt: „Ich rolle einfach das flache Land aus, schneide ein paar Gräben und dunkle Kanäle hinein, die ich mit holländischen Schleusen bestücke, setze auf künstlichen Hügeln die fünf Mühlen hin, die ich von unserem Schuppen aus sehen konnte ...“ So weit ist der Himmel, und so flach ist dieses Land, dass die Menschen darin alle gleich unmittelbar in der Welt stehen – und nicht, wie in den Städten oder in den hügeligen oder gar gebirgigen Landschaften, in vielfach gegliedertem, stark differenziertem Gelände.
Man kann sie betrachten, wie man will, unter dem hohen Himmel, unter den dahinziehenden Wolken und im klaren Licht: Immer stehen sie da, als hätte man sie dort abgesetzt, mehr oder minder willkürlich, ein jeder für sich allein. Wenn der Autor von ihnen erzählt, geht er mit ihnen um wie Max Ludwig Nansen mit einem Modell, das einen roten Mantel trägt: „Er verkürzte seine koboldhaften Füße, die aus dem Mantel herausragten. Er verstärkte die blaue Grundierung, um das Rot des Mantels daran zu brechen. Und der Mantel leuchtete über dem verlassenen Strand vor einer schwarzen, winterlichen Nordsee – leuchtete und widersprach zugleich aller Schwerkraft.“ So, bewusst im „Rücken der Geschichte“, schreibt auch der Jüngling von Erfahrungen, die er nicht gemacht haben kann, und er tut es in einer Sprache, über die er nicht verfügen kann.
Nicht nur die Landschaften sind deswegen von großer Bedeutung für dieses Buch, die Elbinsel, auf der sich die Anstalt befindet, oder die kleine Welt hinter dem Deich, in der Max Ludwig Nansen wie die Familie des Polizisten zu Hause sind. Neben ihnen stehen die Gemälde: Denn diese, von „Plötzlich am Strand“, dem Bild mit dem roten Mantel, bis zur „Wellenreiterin“, dem Werk, an dem sich Siggi Jepsens Leben zur „Besserungsanstalt“ wendet, besitzen ein eigenes Leben. Sie sind Kunstwerke, unverfügbar und ihrer Übersetzung in Botschaften entzogen.
„Jeder historischen Selbstinszenierung im Bild“, schrieb der Zürcher Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn über die „Deutschstunde“, „ist der Zerfall schon eingeschrieben – man muss nur genau hinsehen.“ Der Satz fiel in einer überflüssigen Debatte darüber, ob und in welchem Maße der moralisch zweifelhafte Charakter Emil Noldes, des offensichtlichen Vorbilds für die Figur Max Ludwig Nansens, die literarische Figur und damit den ganzen Roman kompromittiert. Wie aber, wenn das Buch in seinem Kern von versteckten Bildern handelte? Davon also, dass die in ihnen niedergelegte Geschichte vor ihren Vollstreckern bewahrt werden muss – und zu denen gehört letztlich auch Siggi Jepsen selber, der Jüngling, der sich die Werke aneignet, weil er sie zu brauchen meint, um mit sich selber „auszukommen“.
Und was ist mit der Pflicht, die, in ihrer ganzen Zwiespältigkeit, das zentrale Motiv dieses Romans darstellen soll? Mit dem ganzen Apparat aus Fanatismus und Mitläufertum, kleinbürgerlichem Gehorsam und ideologischem Wahn, Vatermacht und jugendlicher Selbstfindung, der seit fast fünfzig Jahren durch die Deutschstunden der Republik geistert?
Dieser Roman, erklärte Siegfried Lenz selbst, sei „ein Versuch, die Welt zu entblößen, dass niemand sich unschuldig oder unbetroffen fühlen kann“. Gewiss, es gibt die Möglichkeit, diesen Satz im Sinne eines schlichten Moralismus zu verstehen. Er kann aber auch etwas anderes heißen: Denn so, wie es neben den gemalten die „ungemalten“, verborgenen und versteckten Bilder Max Nansens gibt, steht neben dem geschriebenen Roman ein „ungeschriebener“. In diesem „ungeschriebenen“ Buch wäre die Pflicht ein Gegenstand von ähnlicher Art wie der rote Mantel. Es taugt nicht zur literaturpädogischen Aufbereitung.
An entscheidender Stelle fällt ein Satz, den Siegfried Lenz dem Maler in den Mund legt: „Sehen: das ist doch nicht: zu den Akten nehmen. Man muss doch bereit sein zum Widerruf.“ Man muss diesen Satz ernst nehmen. Die „Deutschstunde“ ist ein anderes Buch, als die Kritiker der frühen Stunde, in ihrer Suche nach maßgeblichen Kriegs- und Nachkriegsromanen, glauben machen wollten. Es ist auch ein anderes Buch, als der Deutschunterricht bei seiner ewigen Suche nach handlichen Botschaften behauptet. Zum fünfzigsten Jubiläum des Romans ist nun eine ästhetisch ansprechende, sorgfältig gestaltete Neuausgabe erschienen: eine Gelegenheit, das Buch wiederzulesen, mit offenen Augen und offenem Verstand.
Siegfried Lenz: Deutschstunde. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2018. 592 Seiten, 25 Euro.
Der Dorfpolizist, Siggi Jepsens
Vater, muss das Malverbot für
Max Ludwig Nansen überwachen
Wider die Aufbereitung für den
Schulunterricht: In diesem
Roman steckt ein fremdes Buch
Zwischen Schule und Atelier: Wolfgang Büttner als Maler Nansen und Andreas Poliza als Siggi Jepsen im Fernsehspiel „Deutschstunde“ von 1971.
Foto: Ullstein Bild
Siegfried Lenz 1976.
Foto: Getty Images
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2017

Die Lesbarkeit dieser Landschaft
Das Land, der Himmel, ein Künstler und die Macht: Siegfried Lenz' "Deutschstunde" in der Hamburger Ausgabe

Der enorme Erfolg von Siegfried Lenz' nachgelassenem Roman "Der Überläufer" (F.A.Z. vom 3. März 2016) bei Kritikern und Lesern gibt zu denken. Das erstaunliche Interesse an der Geschichte des eigentlich pflichtgetreuen deutschen Soldaten im zweiten Weltkrieg, der angesichts der Sinnlosigkeit seines Kommandos zum ukrainischen Widerstand desertiert, scheint zu zeigen, dass die Nachkriegszeit noch immer nicht vorüber ist, dass viele, nicht nur ältere Leser, wissen wollen, was Menschen in den Schrecken des Zwanzigsten Jahrhunderts taten und erlitten.

Die Begeisterung der heutigen Leser für den 1952 geschriebenen Roman deutet wohl auch darauf hin, dass ein Autor wie Lenz im gegenwärtigen Spektrum der deutschen Literatur fehlt. Einer, der populär schreibt, ohne trivial zu sein, politisch bewusst ohne Parteilichkeit, einer, der seine Leser anspricht, ohne sich anzubiedern, so wie er trotz leiser Ironie immer auf der Seite der Menschen steht, die er beschreibt. Schließlich auch einer, der sich als öffentliche Person in seiner Bescheidenheit und höflichen Festigkeit allseitige Wertschätzung erwarb.

Als neuester Band der jüngst begonnenen Hamburger Ausgabe der Werke erscheint nun Lenz' 1968 veröffentlichter umfangreichster Roman "Deutschstunde", der den Autor durch Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen weltberühmt machte. Dabei erscheint die Handlung alles andere als weltbewegend. In der 1954 spielenden Rahmenhandlung soll Siggi Jepsen, Insasse einer Jugendstrafanstalt, einen Aufsatz über die "Freuden der Pflicht" schreiben. Das Thema aber löst bei ihm eine solche Flut von Erinnerungen aus, dass er nicht imstande ist, etwas zu Papier zu bringen. Unter verschärftem Arrest muss er den Aufsatz als Strafarbeit nachholen.

Die entfaltet nun die Haupthandlung des Romans, die bis ins Jahr 1943 zurückreicht. Den Begriff der Pflicht verbindet Siggi vor allem mit seinem Vater Ole Jepsen, der als nördlichster Polizeiposten Deutschlands in dem schleswig-holsteinischen Dorf Rugbüll seinen Dienst versieht. Zunehmend wahnhaft geht er dem ominösen Befehl nach, das dem Künstler Max Ludwig Nansen von den Nationalsozialisten auferlegte Malverbot zu überwachen. Siggi aber stellt sich in seiner Interpretation der Pflicht gegen die obrigkeitshörigen Eltern auf die Seite des Malers, warnt ihn und versteckt dessen Bilder. Nach dem Krieg können weder Siggi noch der Vater von ihrer Passion lassen. Obwohl seines Postens enthoben, hört der Vater nicht auf, den Maler zu verfolgen, während Siggi immer noch glaubt, Nansen schützen zu müssen, indem er dessen Werke aus einer Ausstellung entfernt, wofür er wegen Diebstahls zu einer Jugendstrafe verurteilt wird.

In den frühen Kritiken ist angemerkt worden, dass der Roman durch die ausgreifenden Landschaftsbeschreibungen und die Fülle von teils anekdotisch eingeführten Nebenfiguren Gefahr laufe, das eigentliche Thema zu zerfasern. Das zeugte von mangelndem Verständnis dessen, was Lenz zu erzählen hat. Landschaftsbeschreibungen spielten schon in den früheren Romanen die Rolle eines tragenden Grundes der Begebenheiten; in "Deutschstunde" werden sie in der Korrespondenz der Sicht des Malers und des Erzählers auf meisterliche Weise integraler Bestandteil einer Rückführung des modernen Romans auf Urformen des Epischen. Menschliche Begebenheiten spielen sich unter einem bestimmten Himmel in einer bestimmten Landschaft ab, die das Verhalten, die Befindlichkeit und die Wahrnehmung der handelnden Personen prägt. Davon wird in großer Klarheit und in schöner Einfachheit erzählt, was des Erzählens wert erscheint, ohne Unterscheidung in Haupt- und Nebensachen. Gerade die Emil Nolde nachgebildeten Bildbeschreibungen in der Spiegelung mit den erzählten Landschaften rücken das Thema von Kunst und Macht auf einzigartige Weise ins Licht, bringen es zur Sichtbarkeit.

Das hat beim Wiederlesen nichts von seiner eingängigen Überzeugungskraft verloren. Im Gegensatz zu Vielem aus dem Umkreis der Gruppe 47, zu der sich Lenz allerdings in freundlicher Distanz hielt, wirkt in "Deutschstunde" nichts verstaubt, veraltet oder modernistisch überanstrengt. Das hat zweifellos seinen Grund in einer Beschreibungsfähigkeit, einer den Leser einnehmenden erzählerischen Ruhe und Genauigkeit, die auf alles Sensationelle verzichten kann.

Marcel Reich-Ranicki hat nach dem überwältigenden Publikumserfolg der "Deutschstunde" auf sonderbare Weise versucht, Lenz zu dem Geständnis zu bewegen, der Roman werde vielleicht für seine Schwächen von den Lesern besonders geliebt. Ob er denn nicht einem "eher fragwürdigen Publikumsgeschmack" entgegenkäme, vielleicht ohne es zu wissen. Lenz antwortete in der ihm eigenen Noblesse, zuletzt aber mit einer listigen Wendung. Sollte es denn "darauf hinauslaufen, mich selbst einen spezifischen Makel für mein Werk finden zu lassen, nun, es hat den Makel der Lesbarkeit". Siegfried Lenz aber war als Erzähler selbst ein Leser: der Landschaft, der Menschen, der Welt. Lesbarkeit eignet seinem Schreiben als Qualität seiner Beobachtungsgabe, nicht als Anpassung an vermeintliche Erwartungen. Denn bei aller Eingängigkeit werden dem Leser der "Deutschstunde" das Denken und die Beurteilung der Folgen der deutschen Geschichte nicht abgenommen.

Für eine über den Text hinausgehende Reflexion findet der Leser in der Edition der Hamburger Ausgabe mannigfaltige Materialien. Der konzise Kommentar von Günter Berg berichtet zunächst über die Entstehung. Lenz wollte die Handlung wie in vorherigen Romanen und Erzählungen ursprünglich im Masurischen spielen lassen, fühlte dann aber seine Phantasie "in einem stilisierten Land" gefangen und entschloss sich, "bei steifem Nordwind, knackendem Öfchen und gutem Rum", sie in den Landstrich zu verlegen, in den Emil Noldes Werke eingebunden waren und in dem Lenz selbst schon länger lebte: "dies Land, dieser Himmel, ein Künstler und die Macht". Erst im Laufe der mehrjährigen Arbeit erwuchs ihm der Ehrgeiz, in dem Roman die Höhe und "die Summe seines Könnens" vorzuzeigen. Die im Band dokumentierte zeitgenössische Rezeption kam überwiegend zu dem Schluss, dass Lenz das gelungen war. Er selbst aber war bei aller Bescheidenheit ebenfalls damit zufrieden. Siegfried Lenz war schon in jungen Jahren kein Naiver, für den ihn manch einer, so der Lektor von "Der Überläufer", hielt; er wusste, was er tat, und war sich auch im zeitweiligen Irrweg seiner Mittel bewusst.

In einem eigenen Kapitel zu den nicht unproblematischen Beziehungen des Romans zu Leben und Werk Emil Noldes wird deutlicher als bisher, dass Lenz bei Abfassung der "Deutschstunde" über differenzierte Kenntnisse Noldes und auch über dessen nationalsozialistische Verstrickungen verfügte. Als Quellen sind eine Rede von Walter Jens und die Nolde-Monographie von Werner Haftmann besonders aufschlussreich, aber Lenz wusste offenbar noch mehr. Im Roman aber wird der Maler weder entschuldigt noch verurteilt, ebenso wenig wie der Polizist. Richten gehörte für Lenz nicht zum Amt des Erzählers: "Ich wende mich an einen unabhängigen Leser, der seine eigenen Schlüsse zieht."

Der knappe Stellenkommentar beschränkt sich weitgehend auf historische und kunstgeschichtliche Sacherklärungen sowie auf einzelne Wendungen norddeutschen Sprachgebrauchs. So zeigt sich auch daran, dass wenig Anstalten nötig sind, um die Lesbarkeit des Romans für heutige Leser zu sichern. Vorsichtshalber wird für handwerklich Unbedarfte aber doch erläutert, was eine Lötlampe ist. Im Anhang findet sich die Dokumentation gestrichener Passagen und verworfener Entwürfe sowie eine ausführliche, wenngleich nicht vollständige Bibliographie.

Mit diesem Band kann sich der Leser nun eine Vorstellung von der auf fünfundzwanzig Bände angelegten Hamburger Ausgabe machen, die von Heinrich Detering und Günter Berg in Zusammenarbeit mit der Siegfried Lenz Stiftung und dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach verantwortet wird. Das Ganze wird kein Editionsexzess, sondern eine auf interessierte Leser ausgerichtete Ausgabe, ist also dem bei allem Erfolg immer bescheiden gebliebenen Autor Siegfried Lenz angemessen. Dass Hoffmann und Campe diese Schatztruhe der deutschen Literatur ins Verlagsprogramm aufgenommen hat, ist ein Glück und ein Zeugnis der lebenslangen Verbundenheit mit einem Autor, der zeitweiligen widrigen Umständen und übrigens auch Frankfurter Lockrufen entgegen seinem Verlag treu geblieben ist.

FRIEDMAR APEL.

Siegfried Lenz: "Deutschstunde". Roman.

Hrsg. von Günter Berg. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2017. 758 S., geb., 44,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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