Jochen Schimmang
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Laborschläfer
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Rainer Roloff führt ein zurückgezogenes Leben. Fragte man ihn nach seiner »Erwerbsbiografie«, so würde er sich als »Privatgelehrter« bezeichnen. Struktur bekommt sein Leben dank einer Langzeitstudie zum Einfluss des Schlafs auf das Gedächtnis, an der er als Proband teilnimmt. Dafür reist er regelmäßig von Köln nach Düsseldorf, selbst in Zeiten der Pandemie, um im Labor seine an das Aufwachen anschließenden Gedanken zu Protokoll zu geben.Roloff, ein Jahr älter als die Bundesrepublik, ist ein idealer und ergiebiger Proband, mit einem Elefantengedächtnis und Aufmerksamkeit für de...
Rainer Roloff führt ein zurückgezogenes Leben. Fragte man ihn nach seiner »Erwerbsbiografie«, so würde er sich als »Privatgelehrter« bezeichnen. Struktur bekommt sein Leben dank einer Langzeitstudie zum Einfluss des Schlafs auf das Gedächtnis, an der er als Proband teilnimmt. Dafür reist er regelmäßig von Köln nach Düsseldorf, selbst in Zeiten der Pandemie, um im Labor seine an das Aufwachen anschließenden Gedanken zu Protokoll zu geben.Roloff, ein Jahr älter als die Bundesrepublik, ist ein idealer und ergiebiger Proband, mit einem Elefantengedächtnis und Aufmerksamkeit für den Zusammenhang zwischen dem kollektivem Unbewussten und der individuellen Erinnerung. Dr. Meissner, der die Studie leitet, findet überwiegend »sehr gelungen«, was sein Proband ihm in einer Mischung aus zeitgeschichtlicher und persönlicher Erinnerung und spielerisch-absurder Noch-Traum-Logik erzählt. Doch dann gerät das Gedächtnis des Schlafforschers selbst aus dem Gleichgewicht...Einmal mehr erweist sich Jochen Schimmang als Meister einer nonchalanten Melancholie, als hintersinniger Chronist der Geschichte, deren teilnehmender Beobachter er ist.
Jochen Schimmang, geboren 1948, studierte Politische Wissenschaften und Philosophie an der FU Berlin und lehrte an Universitäten und in der Erwachsenenbildung. Er ist freier Schriftsteller und Übersetzer und lebt in Oldenburg. 2010 erhielt er für seinen Roman 'Das Beste, was wir hatten' den Rheingau Literatur Preis und 2012 den Phantastik-Preis der Stadt Wetzlar für 'Neue Mitte'. 2017 erschien sein Roman 'Altes Zollhaus, Staatsgrenze West', 2019 die Erzählungen 'Adorno wohnt hier nicht mehr'. 2019 wurde Jochen Schimmang mit dem erstmals verliehenen Walter Kempowski Preis für biografische Literatur des Landes Niedersachsen ausgezeichnet, 2021 erhielt er den Italo-Svevo-Preis für sein Lebenswerk.
Produktdetails
- Verlag: Edition Nautilus
- Seitenzahl: 327
- Erscheinungstermin: 7. März 2022
- Deutsch
- Abmessung: 212mm x 131mm x 34mm
- Gewicht: 481g
- ISBN-13: 9783960542780
- ISBN-10: 396054278X
- Artikelnr.: 62945038
Herstellerkennzeichnung
Edition Nautilus GmbH
Schützenstr. 49a
22761 Hamburg
www.edition-nautilus.de
+49 (040) 7213536
Das Fenster zum Bahnhof
Farbloses Lokalkolorit signalisiert eine Störung im Betriebsablauf der Erinnerungskultur: Jochen Schimmangs Köln-Roman.
Von Patrick Bahners
Man kennt das. Wer mit dem Zug nach Köln kommt, muss darauf gefasst sein, dass er vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof noch einmal außerplanmäßig zum Halten kommt. Es kommt einem fast planmäßig vor. Und wenn es nicht bei der Einfahrt von Westen geschieht, über dem Rhein, sondern bei der Einfahrt von Norden, mag es sein, dass man in die Wohnungen der Leute hineinsehen kann, die so nah am Bahnhof leben. Einer von ihnen ist der Icherzähler des Romans "Laborschläfer" von Jochen Schimmang,. Dieser Rainer Roloff hat ein Soziologiestudium abgeschlossen
Farbloses Lokalkolorit signalisiert eine Störung im Betriebsablauf der Erinnerungskultur: Jochen Schimmangs Köln-Roman.
Von Patrick Bahners
Man kennt das. Wer mit dem Zug nach Köln kommt, muss darauf gefasst sein, dass er vor der Einfahrt in den Hauptbahnhof noch einmal außerplanmäßig zum Halten kommt. Es kommt einem fast planmäßig vor. Und wenn es nicht bei der Einfahrt von Westen geschieht, über dem Rhein, sondern bei der Einfahrt von Norden, mag es sein, dass man in die Wohnungen der Leute hineinsehen kann, die so nah am Bahnhof leben. Einer von ihnen ist der Icherzähler des Romans "Laborschläfer" von Jochen Schimmang,. Dieser Rainer Roloff hat ein Soziologiestudium abgeschlossen
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und gibt als Beruf Privatgelehrter an. Er teilt mit dem Autor das Geburtsjahr 1948 und ist in Köln geboren und aufgewachsen, wo Schimmang lange gelebt hat.
Roloffs Beschreibung seiner Wohnung ist eine soziologische Selbstauskunft: Der nur sporadisch und prekär Beschäftigte zahlt Miete für "ein Zweizimmerloch mit Kochnische und Nasszelle in der Nähe des Hansarings". Für Durchfahrer kann man hinzusetzen: Das ist direkt beim Saturn-Hochhaus. Der Roman erwähnt das kommerzielle Gegenstück zum Dom nicht, von dem er auch nichts Gutes zu sagen hat ("hässlich genug", blieb im Krieg nur stehen, damit die alliierten Flieger den Weg fanden). Er lässt den Straßennamen für sich sprechen, setzt ihn in dem Sinne als bekannt voraus, dass man entlang der Kölner Ringstraßen keine Sehenswürdigkeiten erwartet. Die Topographie des Romans ist exakt auch ohne die Details aus Postkartenpanoramen; aus allen Formen und Surrogaten der Nostalgie macht er sich nichts. So entsteht das paradoxe Phänomen eines farblosen Lokalkolorits.
Roloff erwähnt gleich bei der anfänglichen Offenlegung seiner Verhältnisse, dass ihm die Züge die Nachtruhe rauben und manchmal auf der Höhe seiner Fenster stehen bleiben. Später malt er diese Situation in der Manier von Edward Hopper aus. Er ist gerade von einem Ausflug in die Niederlande zurückgekommen, macht aber nicht den Eindruck eines Heimkehrers. "Zu Hause stehe ich lange am Küchenfenster und beobachte einen Zug, der auf seine Einfahrt in den Hauptbahnhof wartet. Ein ICE kann es nicht sein, denn mühelos kann ich durch die Fensterscheiben die Schemen der Reisenden erkennen, kleine, aber nicht winzige Figuren, wie bei einer Modelleisenbahn." Man möchte hier vielleicht bemerken, dass der Soziologe das Klassifizieren studiert hat. Aber die Zugtypen könnte jedermann unterscheiden. "Bei den Regionalzügen, in denen sich die Fenster noch öffnen lassen, kann man die einzelnen Personen, die auf die Weiterfahrt warten, noch deutlicher erkennen."
Schimmangs Erzähler ist Proustianer, las die "Recherche" schon in der Pubertät. Man kann an die Laterna magica des Kindes Marcel denken, wenn das Stehenbleiben des Zuges bewirkt, dass die Schemen hinter den Scheiben sich in Bewegung setzen. "Manche stehen auf und schauen direkt aus dem Fenster und in mein Küchenfenster." Es fehlt dem stummen Lichtspiel im Heimkino nur jeder legendäre Schimmer, als hätten die Flieger in Köln auch die Erinnerung an allen Goldgrund ausradiert. "Einige Male habe ich bei solchen Gelegenheiten gewinkt, und zweimal hat das Gegenüber zurückgewinkt: im Juni vor zwei Jahren ein Mann, ein paar Wochen später eine Frau." Roloff führt Buch, ein inneres Tagebuch. Der gesamte Roman hat Tagebuchform.
Die Szene am Küchenfenster markiert einen Aufbruch. Das ist ihr nicht abzulesen. Aber Roloff ist kurz davor, eine neue, ruhiger gelegene Wohnung in Augenschein und Besitz zu nehmen, die ihm seine als Ärztin arrivierte Schwester vermittelt hat. "White Cube ist das Erste, was ich denke, als wir das Apartment betreten." Und das Erste, was wir denken, ist: Du fändest Ruhe auch dort nicht, "an der Spichernstraße, gegenüber dem Stadtgarten und nicht weit von der Venloer". Schöner zu wohnen im Museumsambiente ist eine Illusion; jeden von uns müsste es überfordern, sein Leben zu kuratieren.
Allgemein gilt für die Welt dieses Romans: Ortswechsel machen die Lage nicht besser. Es wird viel gereist, Roloff nimmt durchaus häufig selbst den Zug. So begibt er sich an den Bodensee, um an eine jahrzehntealte Kneipenfreundschaft anzuknüpfen. Aber er macht nach einer Übernachtung kehrt, ohne dass die Luftveränderung die Wiederentdeckerfreude stimuliert hätte. Die Devise, die solche Ernüchterung klassisch fixiert und damit ein für allemal vorweggenommen hat, wird im Roman zitiert, Gottfried Benns rhetorische Frage nach Zürich. Vom akademischen Habitus ist dem gescheiterten Soziologen eine Routine des Belegens geblieben, die auch das Nächstliegende nicht ausspart. Inhaltlich wie formal strebt der Roman nach Rätsellosigkeit. Man kann ihn geradezu der Trivialliteratur zuschlagen, insofern er die Anmutung des Erlesenen und Gewählten vermeidet; das ist Schimmangs Version von Prousts Poetik der unwillkürlichen Erinnerung.
Methodisch hervorkitzeln möchte die Erinnerungen das Projekt, das dem Roman den Titel gibt. Roloff verdient seine Miete als Proband eines Schlaflabors in Düsseldorf und wird dort im Pensionsalter sogar zum wissenschaftlichen Mitarbeiter befördert, obwohl sich das Unternehmen, aus den Erinnerungsfetzen von Aufwachenden das von Gelehrten wie Jan und Aleida Assmann postulierte kollektive Gedächtnis zusammenzusetzen, als sinnlos darstellt. Auch diese Sinnlosigkeit wird uns keineswegs als Lösung eines Rätsels präsentiert; sie liegt von Beginn an zutage. Auch die Reise ans Ende der Nacht führt nicht in eine andere Welt. Auch inwendig gibt es keine tiefere Stadt.
Der Direktor des Labors schreibt mit Füller in eine grüne Kladde. Roloff spekuliert, dass daraus ein Roman entstehe. Als er das Manuskript schließlich lesen kann, sind es Tagebuchaufzeichnungen, wie er selbst sie fabriziert, ein Nicht-Roman im Roman. Eine Notiz des Direktors hat die Modelleisenbahn seiner Kindheit zum Gegenstand. "Wie leicht ich wechseln konnte zwischen dem Blickwinkel der Zugreisenden und dem der Leute, die in den Häusern wohnten." Das ist das Programm für einen Roman - den Jochen Schimmang nicht geschrieben hat.
Roloff reiht Anekdoten und Aphorismen einer Lebenszeit aneinander, die mit der Geschichte der Bundesrepublik zusammenfällt. Je nach Alter wird der Leser viel bis sehr viel wiedererkennen, und gleichzeitig wird er davon abgehalten, mit ihm tauschen zu wollen: Der Erzähler bleibt so etwas wie ein Kneipenbekannter.
Was soll das Ganze? Vielleicht kommt man der literarischen Absicht des Romans mit einem Vergleich auf die Spur. Wie W. G. Sebald betreibt Schimmang unverhohlene autobiographische Camouflage, collagiert Lesefrüchte vor dem täuschend weißen Hintergrund des Wiederaufbaus eines völlig zerstörten Landes. Aber wo Sebalds Erzähler-Autor als Kollektivsubjekt auftritt, da ist Schimmang diese Identitätsfiktion suspekt, die Einheit von Ich und Wir, auch schon die Einheit des Wir und sogar die Einheit des Ich.
In Roloffs Jahren am Hansaring winkte das Gegenüber zweimal zurück. Wäre es nur einmal passiert, hätten wir eine Urszene romantischer Wunscherfüllung vor uns. So hat Schimmang eine gesellschaftliche Konstellation entworfen. Man schlägt das Buch auf, und ein Mann in einem Rahmen wird sichtbar. Kein Spiegelbild. Das Buch bleibt zurück, die Reise geht weiter, und fast ist man traurig.
Jochen Schimmang: "Laborschläfer". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2022. 328 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Roloffs Beschreibung seiner Wohnung ist eine soziologische Selbstauskunft: Der nur sporadisch und prekär Beschäftigte zahlt Miete für "ein Zweizimmerloch mit Kochnische und Nasszelle in der Nähe des Hansarings". Für Durchfahrer kann man hinzusetzen: Das ist direkt beim Saturn-Hochhaus. Der Roman erwähnt das kommerzielle Gegenstück zum Dom nicht, von dem er auch nichts Gutes zu sagen hat ("hässlich genug", blieb im Krieg nur stehen, damit die alliierten Flieger den Weg fanden). Er lässt den Straßennamen für sich sprechen, setzt ihn in dem Sinne als bekannt voraus, dass man entlang der Kölner Ringstraßen keine Sehenswürdigkeiten erwartet. Die Topographie des Romans ist exakt auch ohne die Details aus Postkartenpanoramen; aus allen Formen und Surrogaten der Nostalgie macht er sich nichts. So entsteht das paradoxe Phänomen eines farblosen Lokalkolorits.
Roloff erwähnt gleich bei der anfänglichen Offenlegung seiner Verhältnisse, dass ihm die Züge die Nachtruhe rauben und manchmal auf der Höhe seiner Fenster stehen bleiben. Später malt er diese Situation in der Manier von Edward Hopper aus. Er ist gerade von einem Ausflug in die Niederlande zurückgekommen, macht aber nicht den Eindruck eines Heimkehrers. "Zu Hause stehe ich lange am Küchenfenster und beobachte einen Zug, der auf seine Einfahrt in den Hauptbahnhof wartet. Ein ICE kann es nicht sein, denn mühelos kann ich durch die Fensterscheiben die Schemen der Reisenden erkennen, kleine, aber nicht winzige Figuren, wie bei einer Modelleisenbahn." Man möchte hier vielleicht bemerken, dass der Soziologe das Klassifizieren studiert hat. Aber die Zugtypen könnte jedermann unterscheiden. "Bei den Regionalzügen, in denen sich die Fenster noch öffnen lassen, kann man die einzelnen Personen, die auf die Weiterfahrt warten, noch deutlicher erkennen."
Schimmangs Erzähler ist Proustianer, las die "Recherche" schon in der Pubertät. Man kann an die Laterna magica des Kindes Marcel denken, wenn das Stehenbleiben des Zuges bewirkt, dass die Schemen hinter den Scheiben sich in Bewegung setzen. "Manche stehen auf und schauen direkt aus dem Fenster und in mein Küchenfenster." Es fehlt dem stummen Lichtspiel im Heimkino nur jeder legendäre Schimmer, als hätten die Flieger in Köln auch die Erinnerung an allen Goldgrund ausradiert. "Einige Male habe ich bei solchen Gelegenheiten gewinkt, und zweimal hat das Gegenüber zurückgewinkt: im Juni vor zwei Jahren ein Mann, ein paar Wochen später eine Frau." Roloff führt Buch, ein inneres Tagebuch. Der gesamte Roman hat Tagebuchform.
Die Szene am Küchenfenster markiert einen Aufbruch. Das ist ihr nicht abzulesen. Aber Roloff ist kurz davor, eine neue, ruhiger gelegene Wohnung in Augenschein und Besitz zu nehmen, die ihm seine als Ärztin arrivierte Schwester vermittelt hat. "White Cube ist das Erste, was ich denke, als wir das Apartment betreten." Und das Erste, was wir denken, ist: Du fändest Ruhe auch dort nicht, "an der Spichernstraße, gegenüber dem Stadtgarten und nicht weit von der Venloer". Schöner zu wohnen im Museumsambiente ist eine Illusion; jeden von uns müsste es überfordern, sein Leben zu kuratieren.
Allgemein gilt für die Welt dieses Romans: Ortswechsel machen die Lage nicht besser. Es wird viel gereist, Roloff nimmt durchaus häufig selbst den Zug. So begibt er sich an den Bodensee, um an eine jahrzehntealte Kneipenfreundschaft anzuknüpfen. Aber er macht nach einer Übernachtung kehrt, ohne dass die Luftveränderung die Wiederentdeckerfreude stimuliert hätte. Die Devise, die solche Ernüchterung klassisch fixiert und damit ein für allemal vorweggenommen hat, wird im Roman zitiert, Gottfried Benns rhetorische Frage nach Zürich. Vom akademischen Habitus ist dem gescheiterten Soziologen eine Routine des Belegens geblieben, die auch das Nächstliegende nicht ausspart. Inhaltlich wie formal strebt der Roman nach Rätsellosigkeit. Man kann ihn geradezu der Trivialliteratur zuschlagen, insofern er die Anmutung des Erlesenen und Gewählten vermeidet; das ist Schimmangs Version von Prousts Poetik der unwillkürlichen Erinnerung.
Methodisch hervorkitzeln möchte die Erinnerungen das Projekt, das dem Roman den Titel gibt. Roloff verdient seine Miete als Proband eines Schlaflabors in Düsseldorf und wird dort im Pensionsalter sogar zum wissenschaftlichen Mitarbeiter befördert, obwohl sich das Unternehmen, aus den Erinnerungsfetzen von Aufwachenden das von Gelehrten wie Jan und Aleida Assmann postulierte kollektive Gedächtnis zusammenzusetzen, als sinnlos darstellt. Auch diese Sinnlosigkeit wird uns keineswegs als Lösung eines Rätsels präsentiert; sie liegt von Beginn an zutage. Auch die Reise ans Ende der Nacht führt nicht in eine andere Welt. Auch inwendig gibt es keine tiefere Stadt.
Der Direktor des Labors schreibt mit Füller in eine grüne Kladde. Roloff spekuliert, dass daraus ein Roman entstehe. Als er das Manuskript schließlich lesen kann, sind es Tagebuchaufzeichnungen, wie er selbst sie fabriziert, ein Nicht-Roman im Roman. Eine Notiz des Direktors hat die Modelleisenbahn seiner Kindheit zum Gegenstand. "Wie leicht ich wechseln konnte zwischen dem Blickwinkel der Zugreisenden und dem der Leute, die in den Häusern wohnten." Das ist das Programm für einen Roman - den Jochen Schimmang nicht geschrieben hat.
Roloff reiht Anekdoten und Aphorismen einer Lebenszeit aneinander, die mit der Geschichte der Bundesrepublik zusammenfällt. Je nach Alter wird der Leser viel bis sehr viel wiedererkennen, und gleichzeitig wird er davon abgehalten, mit ihm tauschen zu wollen: Der Erzähler bleibt so etwas wie ein Kneipenbekannter.
Was soll das Ganze? Vielleicht kommt man der literarischen Absicht des Romans mit einem Vergleich auf die Spur. Wie W. G. Sebald betreibt Schimmang unverhohlene autobiographische Camouflage, collagiert Lesefrüchte vor dem täuschend weißen Hintergrund des Wiederaufbaus eines völlig zerstörten Landes. Aber wo Sebalds Erzähler-Autor als Kollektivsubjekt auftritt, da ist Schimmang diese Identitätsfiktion suspekt, die Einheit von Ich und Wir, auch schon die Einheit des Wir und sogar die Einheit des Ich.
In Roloffs Jahren am Hansaring winkte das Gegenüber zweimal zurück. Wäre es nur einmal passiert, hätten wir eine Urszene romantischer Wunscherfüllung vor uns. So hat Schimmang eine gesellschaftliche Konstellation entworfen. Man schlägt das Buch auf, und ein Mann in einem Rahmen wird sichtbar. Kein Spiegelbild. Das Buch bleibt zurück, die Reise geht weiter, und fast ist man traurig.
Jochen Schimmang: "Laborschläfer". Roman.
Edition Nautilus, Hamburg 2022. 328 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Rezensent Helmut Böttiger feiert Jochen Schimmangs Roman als melancholische wie humorvoll gelassene Zeitreise in die alte Bundesrepublik. Der Kniff, mit dem der Autor loslegt (Langzeitstudie im Schlaflabor triggert biografische Splitter aus "bundesdeutschen Gefühlslandschaften"), und der schillernde Protagonist ziehen Böttiger ins Geschehen. Die Barschel-Affäre, die Talking Heads, Schauspielerinnen und Schriftsteller tauchen auf und kreieren laut Böttiger die Atmo jüngerer Zeitgeschichte. Die ironische Distanz des Autors zu seinem lustvoll und sinnlich ausgebreiteten Stoff gefällt dem Rezensenten gut. Schimmangs Held, ein Proust der Gegenwart?
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Ob Roman oder autobiografischer Essay: In Jochen Schimmangs Büchern sind wir im Reich der doppelten Böden. Mit heimlichem Vergnügen zieht der Autor die Fäden, an denen wir zappeln.« - Sieglinde Geisel, Laudatio zum Italo-Svevo-Preis 2021
Jochen Schimmang wirft in seinem zeitgenössischen Roman Laborschläfer einen Blick auf die Zeit der Bundesrepublik Deutschland.
Das sollte man jetzt nicht so verstehen, dass alle möglichen Ereignisse dieser Zeit erwähnt werden. es ist vielmehr eine eigenwillige Sichtweise der …
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Jochen Schimmang wirft in seinem zeitgenössischen Roman Laborschläfer einen Blick auf die Zeit der Bundesrepublik Deutschland.
Das sollte man jetzt nicht so verstehen, dass alle möglichen Ereignisse dieser Zeit erwähnt werden. es ist vielmehr eine eigenwillige Sichtweise der Hauptfigur.
Der Protagonist Rainer Roloff ist wie der Autor ein Jahr älter als die Bundesrepublik. Früher war er Lehrer und Privatgelehrter.
Während seiner Zeit als Proband in einem Schlaglabor in einer Langzeitstudie erzählt er dem Arzt Dr. Meissner von diversen Ereignissen dieser Zeit.
Einige Merkmale aus Zeitgeschehen, Musik und Literatur benennt er. So ganz finde ich mich bis auf ein paar Ausnahmen darin nicht wieder, da mich
anderes prägte. Aber eine Identifizierung mit der Hauptfigur ist auch nicht unbedingt erforderlich, um der Handlung mit Interesse zu folgen.
Der Stil ist ruhig, relativ locker und leicht ironisch.
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Rainer Roloff, Jahrgang 1948, hat ein bewegtes Leben: Als promovierter Soziologe an einer Wissenschaftskarriere gescheitert, zeitlebens von Gelegenheitsjobs lebend, nächtigt er nun als Proband im Schlaflabor, um seine Rente aufzubessern. Dort ist er Teil einer Studie zu Traum und Erinnerungen. …
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Rainer Roloff, Jahrgang 1948, hat ein bewegtes Leben: Als promovierter Soziologe an einer Wissenschaftskarriere gescheitert, zeitlebens von Gelegenheitsjobs lebend, nächtigt er nun als Proband im Schlaflabor, um seine Rente aufzubessern. Dort ist er Teil einer Studie zu Traum und Erinnerungen.
Von diesen hat der spleenige Privatgelehrte genug, blickt er doch auf ein ereignisreiches Leben in der sich findenden Bundesrepublik zurück. Die Erinnerungen nehmen einen großen Teil des Romans ein und liefern einen spannenden Einblick in Roloffs Wahrnehmung der gesellschaftlichen Stimmung der 1960er und 1970er und seine teils wehmütigen Rückblicke auf eine Biografie, die wohl viele als gescheitert betrachten würden. Zugleich zeigt sich nach und nach, dass der wissenschaftliche Leiter der Schlafstudie nicht ganz mit offenen Karten spielt – zu Roloffs selbstkommentierter Erinnerung gesellt sich daher ein Plot, der zugleich absurd, melancholisch, traurig und amüsant ist.
Garniert wird alles mit einer im positiven Sinn eigenwilligen Sprache, wenn mal eben vergessene lokale Punkbands wie selbstverständlich erwähnt oder mir bisher gänzlich unbekannte bundesdeutsche Autor*innen der damaligen Zeit zitiert werden, wenn Beobachtungen der Gegenwart - der Plot spielt zu Beginn der Coronapandemie - von Roloff in ausschweifenden inneren Monologen kommentiert werden. Dass seine Erinnerungen eng mit Köln verbunden sind, machte den Roman für mich noch unmittelbarer - nicht nur einmal las ich im Buch etwas über einen Ort, an dem ich am gleichen Tag selbst noch war.
Jochen Schimmang bietet also mit "Laborschläfer" nicht nur zeitlich detaillierte Einblicke, sondern auch einiges an Lokalkolorit. "Laborschläfer" hat mich ob der Sprache und des großartig ausgearbeiteten Protagonisten sehr beeindruckt. Statt schnell und actionreich entfaltet es gemächlich seine Wirkung auf die Leser*innen und belohnt aufmerksame Geduld mit einem vielschichtigen Plot.
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