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Produktdetails
  • Verlag: Fourier
  • ISBN-13: 9783932412509
  • Artikelnr.: 25669095
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.11.1996

Ein braunes Kätzchen huscht durch die Seiten
Manfred Frank und Véronique Zanetti edieren Kants Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie

Kants Philosophie ist ein Kontinent, der von allen besucht wird und den niemand bewohnt. Im Gegensatz zu Hegel erlebt Kant zur Zeit eine wahrhafte Renaissance, ohne daß sich eine Kant-Schule ausmachen ließe. Tatsächlich läßt sich das Unternehmen eines systematischen Gesamtanschlusses an Kant, wie es die Marburger und die Südwestdeutsche Schule mit größtem Erfolg im letzten Drittel des letzten Jahrhunderts bis hin zum Ersten Weltkrieg vollzogen, nicht erneuern. Die zentralen Lehrstücke der Kritiken halten der Kritik, die seit ihrem Erscheinen an ihnen geübt wurde, nicht stand. Schon Hermann Cohen meinte, man müsse die Philosophie des Königsbergers bis auf die Grundmauern abtragen; er akzeptierte so wenig wie ein anderer bedeutender Philosoph (wenn man Schopenhauer vergißt) die Raum-Zeit-Lehre und strich damit die Grundlage der Differenz von Ding an sich und Erscheinung.

In der Ethik ist der Rigorismus in der Kantischen Variante nicht haltbar; es müßte die Rettung von Juden in "Schindlers Liste" von allen sittlich denkenden Menschen verurteilt werden, weil Schindler lügt und betrügt, der kategorische Imperativ jedoch ebendies kategorisch verbietet. Hier widerlegt das Faktum des sittlichen Bewußtseins, das sich auf die Seite des Menschenretters stellt, die rigoristisch-formale Ethik. Die ästhetische Theorie der "Kritik der Urteilskraft" scheitert unter anderem daran, daß sie keine Grundlage für ein negatives ästhetisches Urteil (nicht-schön; häßlich) bietet und das Verhältnis des Schönen und Erhabenen der Natur nicht geklärt ist. Und dann Kants Ansicht, daß Frauen zum wissenschaftlichen Denken und zum sittlichen Handeln nach Grundsätzen nicht in der Lage sind; sie können entsprechend auch kein Gefühl des Erhabenen empfinden.

Urteilskraft für Mußestunden

Der Abbau von Lehrstücken und Meinungen (wie im letzten Fall) ist seltsamerweise dem heute noch auszubeutenden Reichtum der Kantischen Philosophie nicht abträglich. In den zentralen Disziplinen gehört der Königsberger Philosoph zu den meistzitierten Autoren der systematischen Auseinandersetzung; der Rückbezug ist zu einem festen Topos in der Behandlung der philosophischen Logik, der Erkenntnisbegründung, der Grenzbestimmung menschlichen Wissens, der Selbstidentität, der Ethik und der Rechtsphilosophie und der Ästhetik geworden. Die Schrift "Zum ewigen Frieden", 1795 publiziert, feierte im Jahr 1995 ein Jubiläum, wie es sich 1895 niemand vorstellen konnte. 1997 wird die "Metaphysik der Sitten" (1797) zelebriert werden und ihre systematisch wichtigen Impulse aussenden, 1798 folgte die "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", die durch die dann vorliegende kritische Ausgabe der Vorlesungsnachschriften (1772 bis 1796) neue Forschungsimpulse erhält; in Frankreich wird man das Anthropologie-Bild von Michel Foucault (der die Schrift von 1798 übersetzte) revidieren müssen.

Eine neue Präsentation Kantischer Texte mit Einleitungen und Kommentaren ist schon vorweg zu begrüßen. Das Unternehmen der "Bibliothek der Philosophie" ist zwiespältig; auf der einen Seite gehört die Edition in das Genus der Anthologie, die ein breites Lesepublikum erreichen will; schon die äußere Aufmachung kündigt keinen Studientext an, sondern lädt zur Lektüre in Mußestunden ein. Tatsächlich jedoch stellt die Edition wissenschaftliche Ansprüche - Manfred Frank und Véronique Zanetti haben nicht leichter Hand einige Textstücke gebündelt und auf den Markt gebracht, sondern präsentieren Schriften und Reflexionen mit philologischem Apparat und ausführlichen, in die Forschungsliteratur eingreifenden Einleitungen und Kommentaren. Die Edition nimmt teil an der historisch-systematischen Auseinandersetzung mit Einzeltheoremen der Kantischen Philosophie.

Das Zentrum ist die "Kritik der Urteilskraft"; ihre Zweiteilung: Ästhetik und Naturteleologie, dient als Fundament der beiden großen Teilbereiche, die im Untertitel des Bandes erscheinen: "Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie". Am Anfang stehen Überlegungen Kants zur Ästhetik, herausgenommen aus den einschlägigen Reflexionen zur Logik und Anthropologie, aber auch aus der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht"; dann folgen die "Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" und Schriften zur Geschichtsphilosophie, zum Begriff der Menschenrasse, zum Teleologieproblem; danach die "Kritik der Urteilskraft" inklusive der "Ersten Einleitung" und abschließend die Abhandlung "Über das Organ der Seele". Den Texten liegt vernünftigerweise die Akademie-Ausgabe zugrunde.

Die Auswahl entbehrt nicht der Künstlichkeit. Nimmt man die Vorstellung der Zweckmäßigkeit, die die beiden Teile der "Kritik der Urteilskraft" vereint, als Leitbegriff, dann gehören die "Metaphysischen Anfangsgründe" nicht in die Schriftensammlung, weil sie sich an der Kategorientafel orientieren und die Zweckrelation, die causa finalis, nicht zu den Kategorien gehört. Die "Metaphysischen Anfangsgründe" betreiben Naturphilosophie im eigentlichen Wortsinn der Newtonischen "philosophia naturalis". Es wird auch niemand die geschichtsphilosophischen Schriften in der Sammlung vermuten; der Leitbegriff der "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" ist der des Rechts, den man zwar in die Naturgeschichte integrieren kann, der seine Explikation aber in der praktischen Philosophie ("Metaphysik der Sitten") findet, die in die Anthologie nicht aufgenommen ist.

Die Texte werden mit einem Referat ihrer philologischen Grundlage, einer Skizze ihrer Entstehungsgeschichte und einer als "Deutung" oder "Deutungshilfe" bezeichneten Einführung in die entscheidenden philosophischen Probleme versehen. Sodann folgt ein kurzer Stellenkommentar, der sich auf die Übersetzung fremdsprachlicher Zitate und die elementarsten Sacherläuterungen beschränkt. Die Stärke der Edition liegt in den sorgfältigen und ausführlichen Deutungen der einzelnen Schriften, die Schwäche in der Zusammenstellung im ganzen und in den ausführlichen Erläuterungen zum philologischen Textbestand. Der Verlag kündigt an, es handle sich um "kritisch geprüfte Texte", also um eine textkritische Edition. Die vielen Darlegungen und Erläuterungen jedoch sind bestimmten vorliegenden Editionen entnommen; eine textkritische Arbeit ist aber dort, wo sie an Handschriften möglich ist, nicht geleistet worden. Die Reflexionen zur Ästhetik, die dem Handexemplar der Baumgartenschen "Metaphysik" entstammen, sind nicht an Kants Exemplar, das noch in Göttingen liegt, überprüft worden; auch für den Teilabdruck der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" wurde nicht das Kantische Manuskript in Rostock herangezogen.

Das Inhaltsverzeichnis der "Anthropologie", das im Band als Leitfaden abgedruckt wird, kann schon wegen der vielen Fehler nicht von Kant stammen; aus einem schwer ersichtlichen Grund fügen die Herausgeber der "Charakteristik" (die nicht "Von dem Beobachten seiner selbst", sondern von der Fremdbeobachtung handelt) einen auch im nichtkantischen Inhaltsverzeichnis nicht vorhandenen neuen Punkt "F. Der Charakter des Alters" hinzu (59). Innerhalb der auf Textprobleme bezogenen Sekundärliteratur, auf die sich die Herausgeber beziehen, gibt es darüber hinaus gravierende Lücken; man gewinnt den Eindruck, daß die Tübinger Landkarten die Ortseinträge "Trier" und "Marburg" nicht enthalten. Die vielen Publikationen Norbert Hinskes (Trier) zu den Kantischen Reflexionen und Vorlesungen, seine kritische Bearbeitung der "Ersten Einleitung" der "Kritik der Urteilskraft" werden ignoriert. Der Band lag offenbar lange auf der Halde, so daß externe Veröffentlichungen nach 1992 nur noch in Ausnahmen integriert wurden; aber Hinskes Arbeiten sind wesentlich älter. Es ist müßig, hier die kleinen und größeren Irrtümer in der Textkonstitution aufzuzählen. Die Arbeit, die die Herausgeber in die Textaufbereitung investiert haben, hat jedoch trotzdem ein großes Verdienst: Dem Leser der Ausgabe bleibt bewußt, daß die Textgrundlage der Interpretation ihrerseits häufig problematisch und ungesichert ist. Frank und Zanetti dringen auf eine Lektüre, die sich nicht in hermeneutischen Lesarten verliert, sondern unter der Idee der Objektivität steht.

Selbständigkeit der Natur

Der Schwerpunkt und die geistige Energie der Ausgabe liegen in den Deutungen der einzelnen Schriften, die kenntnisreich und akribisch in die Gedanken Kants einführen. Hier findet eine Auseinandersetzung mit der (meist schon etwas älteren) Forschung statt; eigene Gesichtspunkte werden kompetent entwickelt. So bei der Frage, ob der kantische Begriff von Zwecken in der Natur nicht notwendig aus einem bloß subjektiven Reflexionsbegriff der Urteilskraft umschlägt in eine objektive Gegenstandsbestimmung, denn der Zweck werde im Organismus selbst bestimmt und nicht an ihn herangetragen. Die idealistische Herkunft Franks führt ihn im weiteren dazu, die Selbständigkeit der Naturseite einzufordern und den Kantischen Dualismus, der in der subjektivistischen Wende begründet ist, im Sinne der Kant-Epigonen aufzuheben.

Die Genese der Doppelstruktur der "Kritik der Urteilskraft" wird mit vielen Nuancen entwickelt, lehrreich auch für den, der hierin anderer Meinung ist. Auch für die ausführliche Nachzeichnung der Gedankenstruktur der "Metaphysischen Anfangsgründe" bildet einen die Forschung ordnenden Beitrag, versteckt darin eine intensive Erörterung dessen, was eigentlich "Metaphysik" beim kritischen Philosophen heißen kann. Die Erläuterungen zu Kants kurzer Abhandlung "Über das Organ der Seele" spannen den Bogen von Descartes zur neueren Diskussion des mind-body-Problems und sind zugleich vorzüglich über die historischen Details der Situation informiert, aus der heraus Kants Schrift konzipiert wurde.

Eine kleine Verzeichnung dagegen findet sich in einer Rückblende auf die Kategorien und Grundsätze der "Kritik der reinen Vernunft". Da soll sich der konkrete Begriff eines Objekts ergeben, zum Beispiel der "eines braunen Kätzchens". Dieses Kätzchen huscht auch durch die nachfolgenden Seiten, bei Kant jedoch hat es keine Chance, in der "Transzendentalen Analytik" als solches erkannt zu werden - es gibt im Raster der kategorialen Bestimmung der Gegenstände, also der Quantität, Qualität und Relation, weder Katzen noch Kätzchen, und wenn man genauer hinblickt, auch keine Schiffe und Häuser und Flüsse. Die genannten Dinge sind nicht ohne Funktionsbestimmungen denkbar, die jedoch aus den Kompetenzen der Kategorien und Grundsätze gänzlich herausfallen. Übrig bleibt die atomare Welt Epikurs; die stoischen Zweckgebilde dagegen sind keine Objekte der zu begründenden Physik. REINHARD BRANDT

Immanuel Kant: "Kritik der Urteilskraft". Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Herausgegeben von Manfred Frank und Véronique Zanetti. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main 1996. 1387 S., geb., 178,- DM.

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