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Die von Anthony Giddens nahegelegte Blickrichtung auf die Unterschiede zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften läßt erkennen, daß die Moderne eine Dynamik aufweist, die vor dem 17. Jahrhundert in vergleichbarer Form nicht existiert hat. Diese Dynamik sieht Giddens als Folge dreier Hauptfaktoren. Der erste Faktor ist das Auseinandertreten von Raum und Zeit: In engem Zusammenhang damit steht der zweite Faktor: die Entwicklung sozialer Mechanismen, durch die bestimmte gesellschaftliche Tätigkeiten aus dem früher ortsgebundenen »Bett« ihres Geschehens herausgehoben und über große…mehr

Produktbeschreibung
Die von Anthony Giddens nahegelegte Blickrichtung auf die Unterschiede zwischen modernen und vormodernen Gesellschaften läßt erkennen, daß die Moderne eine Dynamik aufweist, die vor dem 17. Jahrhundert in vergleichbarer Form nicht existiert hat. Diese Dynamik sieht Giddens als Folge dreier Hauptfaktoren. Der erste Faktor ist das Auseinandertreten von Raum und Zeit: In engem Zusammenhang damit steht der zweite Faktor: die Entwicklung sozialer Mechanismen, durch die bestimmte gesellschaftliche Tätigkeiten aus dem früher ortsgebundenen »Bett« ihres Geschehens herausgehoben und über große raum-zeitliche Distanzen hinweg neu strukturiert werden. Der dritte Faktor: die reflexive Aneignung von Wissen über die Gesellschaft in den Sozialwissenschaften. Giddens zeigt an Beispielen auf, zu welchen Extremen die Dynamik der Moderne führt.
Autorenporträt
Anthony Giddens, geboren am 18 Januar 1938 in Edmonton, war bis 2003 Direktor der London School of Economics and Political Science und zuvor Professor der Soziologie an der University of Cambridge. Joachim Schulte ist Autor mehrerer Bücher über Ludwig Wittgenstein und Mitherausgeber der Kritischen Editionen von Wittgensteins Hauptwerken.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.1995

Die Moderne, ein Dschagannath-Wagen
Anthony Giddens fährt auf dem unheimlichen Vehikel mit, aber er kennt die Richtung nicht

Im alten Indien war es üblich, einmal im Jahr ein Bild Krischnas auf einem riesigen Vehikel, dem Dschagannath-Wagen, durch die Straßen zu fahren. Das Gefährt war lenkbar, geriet aber manchmal außer Kontrolle. Dabei zermalmte es alles, was sich ihm in den Weg stellte - bisweilen auch Gläubige, die sich freiwillig unter die Räder warfen.

Für Anthony Giddens ist das Bild dieses Wagens geeignet, das Wesen der Moderne zu symbolisieren. Die Fahrt darauf sei keineswegs ganz unangenehm, sondern oft belebend und erfreulich. Seine Größe und Leistungsfähigkeit wirke beruhigend, sei aber auch ein Quell der Irritationen, weil niemand genau sagen könne, welche Richtung der Wagen nehme und welche Risiken auf dem eingeschlagenen Weg lägen. So repräsentiere der Dschagannath-Wagen beides zugleich: den "Herrn der Welt" und die Ohnmacht dieses "Herrn".

Daß die Moderne eine solche Dynamik entfaltet hat, ist auf eine eigentümliche, nur im Okzident vorzufindende Trennung und Rekombination von Raum und Zeit zurückzuführen. War die Zeit in vormodernen Kulturen an den Raum (und an einen Ort) gebunden, so kam es an der Schwelle zur Moderne zu einer "Ent-Ortung" des Raums und einer Entleerung der Zeit, die eine "Entbettung" sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre Umstrukturierung auf Grundlage einer raumzeitlichen Abstandsvergrößerung ermöglichten.

Diese Dekontextualisierung schuf wiederum die Voraussetzung für jene vier institutionellen Dimensionen, die die Moderne bis heute charakterisieren: den Kapitalismus als System der Akkumulation von Geld/Kapital; den Industrialismus als den Einsatz materieller Energien zur Gütererzeugung; die Supervisionsapparate zur Informationskontrolle und sozialen Beaufsichtigung; die Monopolbetriebe der Kontrolle über die Mittel der Gewaltanwendung.

Was Giddens in diesem Buch jedoch hauptsächlich interessiert, sind nicht diese institutionellen Dimensionen, gewissermaßen der Bauplan des "Wagens", sondern die Frage, wie Menschen, also Wesen des Hier und Jetzt, mit derart entbetteten, abstrakten und zugleich globalisierten sozialen Beziehungen überhaupt leben können. Sein Schlüsselbegriff, dem der dritte und vierte Teil gewidmet sind, ist derjenige des Vertrauens. Während in vormodernen Kulturen Vertrauen auf lokal fundierten Kontexten beruht, insbesondere dem Verwandtschaftssystem, der lokalen Gemeinschaft, der Religion und der Tradition, erhält es in der Moderne eine neue, abstraktere Basis, deren Bedingung der Möglichkeit eine Transformation der Intimität ist.

Das moderne städtische Leben, so behauptet Giddens, sei weit davon entfernt, nur gemeinschaftsauflösend und -zerstörend zu wirken. Es stelle vielmehr Mittel bereit, um neue, in vormodernen Kontexten kaum verfügbare Formen von Gemeinschaftsleben hervorzubringen: von Treue und Authentizität geprägte persönliche Beziehungen, Formen der Geselligkeit, der wechselseitigen Selbstoffenbarung (speziell in eroticis), der reflexiven, auf der bewußten Auswahl von Möglichkeiten beruhenden Identität. All dies schaffe eine ontologische Grundsicherheit, ein Vertrauen in die Wiederkehr des Abwesenden, an das abstraktere Formen von Systemvertrauen anknüpfen könnten. Das persönliche Leben und die hineinspielenden sozialen Beziehungen stehen deshalb nach Giddens keineswegs im Gegensatz zu den abstrakten Systemen, sondern gehören geradezu zu deren Bestandsbedingungen. Systemvertrauen setzt Personenvertrauen voraus.

Das mag so sein. Bei der naheliegenden Frage indes, ob die Moderne nun durch ein hohes oder niedriges Maß an Vertrauen in beiden Dimensionen charakterisiert sei, läßt uns das Buch leider im Stich. Sein unausgesprochener Gedanke: "Es gibt die Moderne, also muß es Systemvertrauen, also auch Personalvertrauen geben", ist alles andere als vertrauenswürdig, zumal Giddens auf jede argumentative Auseinandersetzung mit der von vielen modernen Sozialpsychologen ventilierten Gegenthese verzichtet, nach der das Selbst heute eher durch Instabilität und eine Tendenz zu Fragmentierung und Dissoziation, ja zur Multiphrenie gekennzeichnet sei.

Die Lücke wird mit allerlei Tröstungen und Goodwill-Bekundungen gestopft. Man müsse als kritischer Theoretiker Modelle der guten Gesellschaft entwerfen, eine Verbindung herstellen zwischen emanzipatorischer Politik und Lebenspolitik, einen "utopischen Realismus" entwickeln und dergleichen mehr. So endet, was durchaus verheißungsvoll begann, mit Fragen im Stil der Comics der fünfziger Jahre: Wird Tony Giddens uns das so dringend benötigte Modell des guten Lebens liefern? Wird es ihm gelingen, den Verzagenden Hoffnung und den Hungernden Speise zu geben? Oder wird auch er von den Rädern des schrecklichen Dschagannath-Wagens erfaßt werden? STEFAN BREUER

Anthony Giddens: "Konsequenzen der Moderne". Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995. 224 S., geb., 40,- DM.

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