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Wie funktioniert eigentlich die Soziologie? Vor welchem Publikum bewährt sie sich? Wie konstruiert sie ihren Gegenstand? Und welche Probleme löst sie, die wir ohne sie nicht hätten? Nassehis Antworten ergeben weder eine Geschichte noch eine systematische Darstellung der Soziologie. Es geht ihm vielmehr um eine Kritik der soziologischen Vernunft. Das zentrale Verfahren ist daher das der klassischen (Erkenntnis-)Kritik - einer Kritik, die die Bedingungen auslotet, durch die soziologisches Denken möglich wird. Neben einer Kritik der reinen Soziologie geht es auch um eine Kritik der handelnden,…mehr

Produktbeschreibung
Wie funktioniert eigentlich die Soziologie? Vor welchem Publikum bewährt sie sich? Wie konstruiert sie ihren Gegenstand? Und welche Probleme löst sie, die wir ohne sie nicht hätten? Nassehis Antworten ergeben weder eine Geschichte noch eine systematische Darstellung der Soziologie. Es geht ihm vielmehr um eine Kritik der soziologischen Vernunft. Das zentrale Verfahren ist daher das der klassischen (Erkenntnis-)Kritik - einer Kritik, die die Bedingungen auslotet, durch die soziologisches Denken möglich wird. Neben einer Kritik der reinen Soziologie geht es auch um eine Kritik der handelnden, der authentischen, der operativen und der gesellschaftlichen Vernunft. Diese Rekonstruktion führt zu einem Konzept einer Gesellschaft der Gegenwarten, das den veränderten Bedingungen einer Gesellschaft Rechnung tragen soll, die selbst nicht mehr an die Konstruktionen ihrer soziologischen Vernunft glaubt.
Autorenporträt
Armin Nassehi, geboren 1960, ist Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.06.2006

Wie es ist, wenn ein Buch immer dicker wird
Irgendwie muß man das Zeug ja einordnen: Armin Nassehi dreht Sozialtheorien durch den Wolf

Durkheim. Durkheim auf Parsons. Der zurück auf Weber. Dewey steht völlig frei, aber kommt nicht ins Spiel. Jetzt Habermas, immer anspielbereit. Habermas müßte abgeben, bleibt an Foucault hängen. Habermas kämpft, erobert das Leder zurück, nimmt Parsons und Mead mit und schickt steil auf . . . Nassehi!

Es mag in diesen Tagen erlaubt sein, den Zusammenhang der großen Gesellschaftstheorien so zu beschreiben: Bedeutende Soziologen und Philosophen, seit mehr als einhundert Jahren auf demselben Feld, gruppieren sich zu wechselnden Mannschaften, spielen einander Ideen zu, verpassen Vorlagen, gehen in Zweikämpfe und verfolgen dabei kompetitiv dasselbe Ziel, nämlich eine angemessene Beschreibung der modernen Gesellschaft.

Auch Armin Nassehi, der Münchner Soziologe, beschreibt das, was er den soziologischen Diskurs der Moderne nennt und in welchen er sich mit dem vorliegenden Wälzer gewissermaßen selbst eingewechselt hat (knapp fünfzig Selbsteinträge im Register, mehr als Max Weber, Pierre Bourdieu oder Karl Marx) - auch Nassehi beschreibt diesen Diskurs der Moderne so: als konfliktreiche Arbeit ganzer Klassikerteams am selben Thema. Nur, daß Nassehi vom Ziel des Spiels eine eigene Meinung hat. Dem Anschein nach geht es um Erkenntnis. Der nichtnaive Soziologiesoziologe Nassehi weiß indes, daß die Soziologie das Erbe der Philosophie als Zentrum gesellschaftlicher Selbstbeschreibung antritt. Wo zuvor "das Subjekt", Vernunft, Moral oder Geist zum höheren Lob der Welt, Gegen- oder Hinterwelt thematisch waren, sind es inzwischen die Gesellschaft, soziale Ordnung, Handlungsrationalität oder kulturelle Praktiken.

Theorie als Besenkammer

Mit der Philosophie teilt die Soziologie für den Autor dabei die Haltung, ihrem Gegenstand die Daumen zu drücken. Die Gesellschaft soll auch geordnet sein, das Individuum verständliche Motive haben, Herrschaft sich als legitim ausweisen und der Bürger in seiner Lebensführung sich sehen lassen können. Wenn die Soziologie also irgendeinen Sachverhalt durch seine sozialen Umstände zu erklären versucht, dann schwingt dabei immer das Bemühen mit, ihn in ein stimmiges Ganzes einzufügen. Die Welt als Gesellschaft zu beschreiben heiße, alles, was in ihr an Sozialem vorkomme, als einen Beitrag zu dieser Gesellschaft und als beobachtet durch andere, nach Rechtfertigung fragende Instanzen zu deuten. "Zu wollen, was man soll, das ist das Programm, das die Welt zur Gesellschaft werden läßt" - und zwar ganz gleich, ob man mit Max Weber die asketischen Ansprüche bürgerlicher Erwerbsarbeit erfüllen wollen soll oder als Insasse der zweiten Moderne mit Ulrich Beck der Maxime "Complicate your life!" folgt.

Für den Betrachters des Spiels "Gesellschaftstheorie" heißt das, seine Güte nicht länger an der Angemessenheit ihrer Beschreibungen beurteilen zu können, sondern nur kontemplativ - Nassehi liebt das Wort "theorieästhetisch" - den entsprechenden "Kampf um Sprecherpositionen" vor einem Publikum nachzuvollziehen, das mal Bürgertum, mal aufgeklärte Öffentlichkeit oder auch solidarische Nation heißt.

Diese Sicht der Dinge ist natürlich die des Autors, seine Klassiker wissen nichts davon, sie dachten vermutlich, es gehe um Erkenntnis und ihr Publikum seien die Kollegen. Zugleich spielten sie aber auch nicht auf demselben Feld, betrieben verschiedene Disziplinen, hatten ganz eigene Gegenstände und wußten mitunter nicht einmal voneinander. Durkheim hat nie einen Paß auf Weber geschlagen, Bourdieu hat Luhmann verachtet und jedenfalls nicht gelesen, jener Habermas nur aus Pflichtgefühl, und inwiefern George Herbert Mead oder Foucault überhaupt am Spiel "Gesellschaftstheorie" beteiligt waren, müßte eigens untersucht werden. Das große Turnier der soziologischen Philosophen ist eine Erzählung und der Theorievergleich eine eigene Literaturgattung, mit der man sich im Fach vor allem eine Achtung erwirbt, die auf Nichtlektüre beruht und von der jede anspruchslosere Soziologie - die mit den Erkenntnisabsichten diesseits der Suche nach normativ gestimmten Arenen und Sprecherpositionen - nichts hat. Nassehi dürfte zumindest das erstere nichts ausmachen, als er ohnehin betont, die Gesellschaft sei eine Konstruktion ihrer Theoretiker, eine Geschichte, die immer aufgehe, nicht weil sie stimme, sondern weil sie stimmen müsse.

Seine eigene Geschichte handelt zunächst vom Individuum, das sich sowohl Rationalitätszumutungen und soziologischen Rekonstruktionen seiner Motive ausgesetzt sieht, wie dem gegenläufigen Anspruch, als modernes echt individuell (frei, besonders, ineffabel) zu sein. Einer Gesellschaftstheorie, in der darum sowohl "gute Gründe" als auch "authentische Sprecher" das Wort haben sollen, kann man - gewissermaßen zwischen Werner Höfer und Sarah Kuttner als repräsentativem Diskursgastgeber hin- und hergerissen - nur viel Vergnügen wünschen. Wenn der Soziologiesoziologe hinschaut, lösen sich die einen wie die anderen in "gesellschaftliche Praxiszusammenhänge" auf, ohne daß allerdings im gesamten Text deutlich würde, was das meistverwendete Wort, "Praxis", hier genau bedeuten soll. Wir vermuten: daß alles, was geschieht, eben geschieht und noch die schönste Norm, das legitimste Motiv, die geordnetste Ordnung nur ein Geschehnis im geistigen Tierreich sozialer Evolution ist. Weder "Gesellschaftsvertrag" noch "Organismus" sind darum mehr als unzureichende Metaphern für das soziale Ganze. Es läßt sich nicht auf Regeln bringen, denen es folgte, noch auf Symbole.

Nassehi dreht aber nicht nur eine ganze Menge älterer Sozialtheorien freundlich durch den Wolf. Es gibt auch kaum einen lebenden Anwärter aufs Pantheon der soziologischen Paradigmen, der nicht zumindest auf ein, zwei Seiten Erwähnung fände, irgendwie aufgerufen und irgendwie eingeordnet wird. Irgendwie. Denn je mehr das Buch fortschreitet, genauer: je dicker es wird, desto unbestimmter werden die Aussichten auf das, was sich der Autor denn nun seinerseits als Publikum und als Gegenstand seiner Einlassungen vorstellt. Schallplattenauflegen oder -zerstören ist zwar inzwischen auch zu einer Art von Musizieren promoviert worden.

Verlag, walte deines Amtes!

Aber von großen Spielen erzählen, ist doch noch etwas anderes als selber mitkämpfen. Nassehi versorgt den Leser stattdessen mit Befunden wie dem, sie lebten in einer "Gesellschaft der Gegenwarten", für die eine "postsoziale Theorieform" geboten sei. Diese Theorie, die nicht alles in der Gesellschaftsbeschreibung zuletzt auf normative Fragen des sozialen Zusammenhalts und des guten Lebens zurückführt, beschreibt der Autor so, daß das Gesamtwerk Niklas Luhmanns ihr recht gut entspricht. Aber ebendieses Werk liegt ja schon vor - inwiefern muß uns eine solche Theorie also in Aussicht gestellt werden?

Zuletzt noch eine praktische, besser: technische Bemerkung. Wäre es nicht gut, wenn es Verlage und Lektoren gäbe, die zu einem offenen Wort gegenüber ihrem Autor fähig wären? Die ihnen beispielsweise rieten, nicht jeder Abschweifung, die sich nächstens am Computer anbieten mochte, auch seitenlang in einem Idiolekt zu folgen, den Soziologendeutsch zu schmähen, die reine Untertreibung wäre? Leser also, die ihm ausreden könnten, hier kapitelweise eine Kritik erst - so die Überschriften - "der handelnden Vernunft", dann der authentischen, operativen, gesellschaftlichen und soziologischen vorzulegen, um den Autor vor der Mitteilung derart aufgeblasener Ansprüche zu schützen? Es könnten auch Lektoren sein, die noch einmal das Vergleichsbuch, Jürgen Habermas' "Der philosophische Diskurs der Moderne", aus demselben Verlag in die Hand nähmen, um dem Autor zu zeigen, was Ökonomie der Gedankenführung und Klarheit in den Thesen sein kann? Denn es ist ja schade, wenn jemand eine These hat, über die sich reden ließe, mit der sich aber kaum jemand befassen wird, weil sie in einer so wenig einladenden Form dargereicht wird.

JÜRGEN KAUBE

Armin Nassehi: "Der soziologische Diskurs der Moderne". Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 503 S., geb., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Respektabel, aber nicht wirklich überzeugend, erscheint Jürgen Kaube dieser umfängliche Band über Sozialtheorien der Moderne, den der Soziologe Armin Nassehi vorgelegt hat. Er unterstreicht, dass Nassehi große Namen wie Durkheim, Weber, Dewey, Habermas, Luhmann, Bourdieu und Foucault ebenso ins Spiel bringt wie weithin Unbekannte, u.a. sich selbst. Der "soziologische Diskurs der Moderne" stellt sich für Kaube dabei dar als eine Art Wettkampf, den Soziologen und Philosophen in unterschiedlichen Konstellationen um die angemessenste Beschreibung der modernen Gesellschaft ausfechten. Dass Klarheit und Verständlichkeit hier nicht unbedingt als Sieger hervorgehen, erweist sich schnell. Kaube moniert etwa, dass unklar bleibt, was der zentrale und am häufigsten genannte Begriff der Praxis genau bedeuten soll. Auch Nassehis Versuch, die einzelnen Soziologen einzuordnen, kommt ihm zunehmend diffus vor. Besonders stört sich Kaube außerdem am unschönen, schwer verständlichen Soziologenjargon des Autors.

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