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Zeithistoriker und Politikwissenschaftler blicken auf nahezu sieben Jahrzehnte Koalitionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland zurück und zeichnen ein differenziertes Bild von der Bildung, den Krisen und dem Alltagsmanagement der verschiedenen Koalitionsregierungen - von Konrad Adenauer bis Angela Merkel. Sie gehen damit den historischen Bedingungen und den strukturellen Problemen des Regierens in Koalitionen auf den Grund. Konstanz und Wandel politischer Strukturen werden historisch langfristig eingeordnet. Ein Zeitzeugengespräch mit den früheren Ministern Klaus Kinkel, Jürgen Rüttgers…mehr

Produktbeschreibung
Zeithistoriker und Politikwissenschaftler blicken auf nahezu sieben Jahrzehnte Koalitionspolitik in der Bundesrepublik Deutschland zurück und zeichnen ein differenziertes Bild von der Bildung, den Krisen und dem Alltagsmanagement der verschiedenen Koalitionsregierungen - von Konrad Adenauer bis Angela Merkel. Sie gehen damit den historischen Bedingungen und den strukturellen Problemen des Regierens in Koalitionen auf den Grund. Konstanz und Wandel politischer Strukturen werden historisch langfristig eingeordnet. Ein Zeitzeugengespräch mit den früheren Ministern Klaus Kinkel, Jürgen Rüttgers und Michael Glos zu den Kanzlerschaften Helmut Kohls und Angela Merkels vertieft die wissenschaftlichen Beiträge in der Tradition der »Rhöndorfer Gespräche« aus der Sicht von erfahrenen Praktikern der Politik.
Autorenporträt
Hans Jörg Hennecke ist seit 2010 außerplanmäßiger Professor an der Universität Rostock.Philipp Gassert ist Professor für Zeitgeschichte an der Universität Mannheim.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.11.2017

Kollektive Richtlinienkompetenz?
Koalitionsbildungen und Koalitionsregierungen von Konrad Adenauer bis Angela Merkel

Zehn Parteien waren 1949 im ersten Deutschen Bundestag vertreten. Zwölf Jahre später, nach der Bundestagswahl 1961, waren es, wenn man die Union als eine Partei betrachtet, mit CDU/CSU, SPD und FDP nur noch drei. So blieb das mehr als zwei Jahrzehnte, bis 1983 die Grünen hinzukamen. Der Einzug der PDS in das Parlament machte 1990 aus dem Vier- ein Fünfparteiensystem. Ob sich dieses mit der AfD dauerhaft zu einer Sechserkonstellation ausweiten wird, ist derzeit noch nicht absehbar. Klar ist jedoch, dass die im Bundestag abgebildete Parteienlandschaft und eine durch das Verhältniswahlrecht bestimmte Sitzverteilung - durch die Urteile des Verfassungsgerichts zu den Überhangmandaten 2008 und 2012 noch einmal bestätigt - die Bildung von Koalitionsregierungen geradezu erzwingt.

Auf eine absolute Mehrheit der Wählerstimmen kann derzeit keine der ehedem großen Volksparteien mehr ernsthaft spekulieren, und auch dass eine Partei die absolute Mehrheit der Parlamentssitze erringt, ist ziemlich unwahrscheinlich. So ist Deutschland ein Land der Koalitionen. Das gilt nicht nur für den Bund, sondern auch für die Länder, wo selbst in Bayern die CSU in der Legislaturperiode von 2008 bis 2013 ein Bündnis mit der FDP eingehen musste und wo ganz unterschiedliche Parteiallianzen existieren und - mehr oder weniger erfolgreich - regieren. Die Bundesrepublik ist koalitionsmäßig eine "bunte Republik."

Koalitionsbildungen und Koalitionsregierungen gehören seit ihrer Gründung zur Geschichte der Bundesrepublik. Es gab keine Bundesregierung, die nicht durch Koalitionsbildung zustande gekommen wäre. Selbst als die Unionsparteien 1953 die absolute Mehrheit der Mandate und 1957 die absolute Mehrheit der Wählerstimmen gewannen, entschied sich Konrad Adenauer dafür, Regierungskoalitionen zu bilden: 1953, um wichtigen, zum Teil verfassungsändernden Gesetzen, den Wehrgesetzen insbesondere, eine parlamentarische Grundlage zu geben; 1957, um in einer Koalition mit der nationalkonservativen Deutschen Partei das bürgerliche Lager zu konsolidieren (die DP erstickte in der Umarmung der Union und ging bis 1961 ganz in ihr auf).

So wurde in Bonn schon in der Frühzeit der Republik in Koalitionen regiert. Das prägte eine Praxis, die sich im Laufe der Jahrzehnte, wenn auch in sich wandelnden Konstellationen, erhalten und stabilisiert hat und heute fraglos zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik gehört. Nach der historischen Entwicklung und Ausformung dieser Verfassungsrealität fragte 2014 das 27. Rhöndorfer Gespräch der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus. Die Veranstalter dieser Gespräche - seit Ende der 1970er Jahre Orte des Dialogs zwischen Zeithistorikern, Politikwissenschaftlern und politischen Praktikern, die über lange Jahre von der systematischen Einbeziehung von Zeitzeugen der Ära Adenauer lebten - sind derzeit dabei, die Perspektive der Tagungen zeitlich über die Kanzlerschaft Adenauers hinaus zu öffnen und ein Diskussionsforum für Grundfragen der vor allem politischen Entwicklung der Bundesrepublik in den knapp 70 Jahren ihres Bestehens zu bieten.

Das von dem Zeithistoriker Philipp Gassert (Mannheim) und dem Politikwissenschaftler Hans Jörg Hennecke (Düsseldorf) organisierte Symposion über "Koalitionen in der Bundesrepublik" ist ein Beispiel für diese Weiterentwicklung der Stiftungsarbeit. Der auf dem Rhöndorfer Gespräch basierende Band wird so zu einem nützlichen Kompendium über die Bildung, das Management, die Arbeit, aber auch die Krisen von Regierungskoalitionen von Adenauer bis Merkel. Er stößt die Tür auf zu einem Forschungsfeld, das in der Zeitgeschichte in systematischer Perspektive bislang eher unterbelichtet geblieben ist, das aber fraglos größere Aufmerksamkeit verdient, weil die Geschichte von Koalitionen und Koalitionsregierungen einen zentralen Strang der politisch-parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik bildet, zu dem die Entwicklung der Parteien und des Parteiensystems ebenso gehört wie die Veränderung des Verhältnisses von Parlament, Regierung und Parteien oder die Geschichte von Wahlen und Wahlkämpfen, in denen Koalitionsfragen nicht selten die Gretchenfragen waren.

Die einzelnen Beiträge des Bandes behandeln die unterschiedlichen Koalitionen seit der Adenauer-Zeit und ihre Dynamiken in chronologischer Reihenfolge. Das liefert jeweils interessante Befunde zu den einzelnen Regierungen: von dem völlig zerrütteten Verhältnis zwischen Adenauer und dem FDP-Vorsitzenden Thomas Dehler, deren lautes Streiten auch in Tonbandaufnahmen dokumentiert ist, die der Band auszugsweise abdruckt, über die begriffsbildende "Große Koalition" unter Kurt Georg Kiesinger und Willy Brandt (1966-1969), die wirklich eine große Koalition war, die im Bundestag über 447 Mandate (von 496) verfügte, bis hin zu der von Anbeginn an zerrissenen rot-grünen Koalition der Jahre 1998 bis 2005, in deren Selbstdarstellung zwar die Idee eines "rot-grünen-Projekts" eine prominente Rolle spielte, die aber tatsächlich von tiefen Konflikten zwischen den beiden Parteien sowie, fast mehr noch, innerhalb der einzelnen Parteien bestimmt war. Das Zeitzeugengespräch von Michael Glos (CSU), Klaus Kinkel (FDP) und Jürgen Rüttgers (CDU) liefert anekdotenreiche Einblicke in den koalitionären Alltag der Regierungen Kohl und Merkel.

Mindestens ebenso wichtig sind aber die langfristigen Entwicklungen und Veränderungen, die der Band zutage treten lässt: der Trend zur Formalisierung von Koalitionsverhandlungen beispielsweise, von den Gesprächsrunden, deren Format, Zusammensetzung und Organisation, über die Entscheidungsverfahren (in den Parteigremien) und die Verschriftlichung der Übereinkünfte in regelrechten Koalitionsverträgen (134 Seiten hatte der Koalitionsvertrag 2013) bis hin zur Veröffentlichung und Inszenierung der Koalitionsbildung und ihrer Ergebnisse (besonders deutlich bei der Bildung der ersten rot-grünen Koalition 1998).

Das Buch lenkt den Blick aber auch auf die unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten des alltäglichen Koalitionsmanagements, die sich im Laufe der Jahrzehnte herausgebildet und ausdifferenziert haben. Mit dem "Kreßbronner Kreis" wurde 1967 das Format des Koalitionsausschusses kreiert, aber die eigentlich interessante Frage ist, wer in diesem Koalitionsausschuss vertreten ist: das Kabinett, die Spitzen von Partei und Fraktion? Unterschiedliche Bezeichnungen - Koalitionsrunden oder Koalitionsgipfel - deuten auf unterschiedliche Zusammensetzungen hin.

Und was bedeuten solche Koalitionsstrukturen und -gremien für die grundgesetzlich verankerte Richtlinienkompetenz des Kanzlers? Von der autoritär-patriarchalisch getönten Kanzlerdemokratie der Ära Adenauer sind wir heute weit entfernt, aber können wir deshalb von einer kollektiven Richtlinienkompetenz der beteiligten Parteivorsitzenden sprechen? Solche Fragen unterstreichen die nicht nur zeithistorische, sondern auch aktuell politische und verfassungsrechtliche Bedeutung der Thematik. Dass Globalisierung und Europäisierung die Gestaltungsspielräume nationaler Koalitionsregierungen einengen, deutet der Band an. Ob das, verstanden auch als eine Entideologisierung nationaler Politik, das Regieren in Koalitionen erleichtert und stabilisiert oder ob es die Bildung tragfähiger Regierungsbündnisse erschwert, bleibt eine offene Frage.

Nur kursorisch berührt wird die Bedeutung subnationaler Entwicklungen und des Föderalismus für die Dynamiken der Koalitionsbildung auf Bundesebene. Oft genug waren die Bundesländer auch hinsichtlich der Koalitionsmöglichkeiten politische Laboratorien. Kann, das zeigt der Blick auf das rot-grüne Experiment in Hessen in den 1980er Jahren, auf Bundesebene funktionieren, was auf Landesebene gescheitert ist? Und kann es, umgekehrt, als sicher gelten, dass auf Bundesebene klappt, was in einem Land praktiziert wird? Wir erhalten dieser Tage neuen Anschauungsunterricht in einer Frage, die die Bundesrepublik politisch seit 1949 begleitet.

ECKART CONZE

Philipp Gassert/Hans Jörg Hennecke (Herausgeber): Koalitionen in der Bundesrepublik Deutschland. Bildung, Management und Krisen von Adenauer bis Merkel. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 2017. 343 S., 49,90 [Euro].

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