A portrait of Istanbul that guides us across the Bosphorus, through Istanbul's historical monuments and lost paradises, its dilapidated Ottoman villas, back streets and waterways. It also introduces us to the city's writers, artists and murderers.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.07.2019ohne_Titel
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt. Mit Fotografien von Ara Güler u.a. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser,
München 2018. 640 Seiten, 38 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Orhan Pamuk: Istanbul. Erinnerungen und Bilder aus einer Stadt. Mit Fotografien von Ara Güler u.a. Aus dem Türkischen von Gerhard Meier. Hanser,
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 18.11.2006Der bittersüße Honig der Mutlosigkeit
Das neue Buch des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, der in wenigen Wochen in Stockholm mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, ist zugleich Autobiographie, Porträt seiner Heimatstadt Istanbul und eine Geschichte vom Zerfall einer Familie. Mit seinen Stadtansichten und den vielen privaten Familienfotos der Pamuks ist dieses reiche Istanbuler Lesebuch auch der Versuch, das prägende Lebensgefühl der Metropole am Bosporus zu erfassen.
Von Hubert Spiegel
Was ist "Hüzün"? Hüzün ist ein Lebensgefühl, das man zu allen Zeiten und an vielen Orten unter dem Namen Melancholie kannte, das aber an keinem anderen Ort der Welt soviel Einfluß gewinnen konnte wie in Istanbul. Hüzün streicht durch die Stadt wie ein unaufhörlich wehender Wind, der noch durch die schmalste Gasse fegt, durch Fenster, Türen und alle Ritzen in die Häuser dringt und nicht aufzuhalten ist, bevor er sich in den Seelen ihrer Bewohner eingenistet hat. Hüzün kommt über die Stadt und ihre Bewohner und kommt zugleich aus der Stadt und aus den Menschen. Mit jedem Atemzug atmen die Istanbuler Hüzün ein und mit jedem Atemzug stoßen sie Hüzün aus, so daß niemand zu entscheiden vermag, wie sich die Sache wirklich verhält: Ist es die Stadt, die Kummer über ihre Bewohner bringt? Oder ist es der Hüzün der Istanbuler, der die ganze Stadt in süßem Schmerz versinken läßt?
Im Leben des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk ist Hüzün die große Konstante: "Seit ich denken kann, ist die Stadt von Armut gekennzeichnet, von Untröstlichkeit über den Verfall des Reiches, von der Melancholie, die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht. So bin ich von jeher damit beschäftigt, diese Melancholie zu bekämpfen oder mich dann doch, wie alle Istanbuler, ihr endlich hinzugeben."
Drei Wochen bevor er in Stockholm den Nobelpreis erhält, erscheint nun das ursprünglich für das kommende Frühjahr angekündigte Erinnerungsbuch Pamuks: "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt" ist die Autobiographie der frühen Jahre, ein Porträt der Stadt, in der Pamuk seit fünf Jahrzehnten lebt und die er wohl niemals auf Dauer verlassen wird, und es ist eine Übung in Hüzün, die aufs Papier bannt, was in immer neuen Anläufen erklärt, beschrieben und beschworen wird. Zunächst einmal aber ist dieses Buch die hinreißend erzählte Geschichte vom Verfall einer Familie.
Sorglose Untergangsstimmung.
Orhan Pamuks Großvater war ein Ingenieur, der mit dem Geld, das er beim Bau der türkischen Eisenbahn verdient hatte, eine Fabrik errichtete, einen profitablen Zulieferbetrieb für den Tabakanbau. Seine Söhne werden ihr Leben damit verbringen, das Vermögen des Vaters in unrentable Unternehmen zu investieren, sie gründen oder übernehmen Firmen, bekleiden Direktorenund Geschäftsführerposten und müssen ein Grundstück des umfangreichen Immobilienvermögens nach dem anderen verkaufen, um ihre Pleiten zu kaschieren. So wachsen Pamuk und sein Bruder in sorgloser Untergangsstimmung auf, unternehmen mit Vater und Onkel immer wieder fröhliche Ausfahrten mit dicken westlichen Autos, um gemeinsam der Familienfestung zu entkommen, dem im modernen Baustil errichteten Appartmenthaus "Pamuk Apartmani" im Stadtviertel Nisantasi, in dem die Großfamilie gemeinsam unter einem Dach lebt, bis Zwist, Vermögensstreitigkeiten und westliche Lebensart den Familienverbund gesprengt haben.
Pamuk beschreibt das Haus, in dem er mit Unterbrechungen seit seiner Geburt im Jahr 1952 gelebt hat, als Museum eines Lebensstils im Übergang von der türkisch-osmanischen Kultur zu westlicher Lebensart. Die dunklen Räume, von der Großmutter so gut wie nie, von den Kindern nur selten verlassen, werden dem kleinen Orhan zum unergründlichen Mikrokosmos. Wo andere Kinder ein Wäldchen oder ein paar Büsche in der Nachbarschaft als Urwald erleben, muß Orhan sich mit dem floralen Muster im Teppich begnügen. Den Rest besorgt die Phantasie, von der er soviel hat, daß er zeitlebens in selbst geschaffenen Parallelwelten zu verschwinden fürchtet.
Pamuk berichtet ausführlich von Kinderspielen und Bruderzwist, von den häufigen Ehekrächen der Eltern, dem strengen Regiment der Großmutter, von Tanten, Nachbarinnen, Gesellschaftsdamen, von seiner Streberkarriere in der Schule (Orhan zeigte immer auf, sogar dann, wenn er die Frage der Lehrerin über seinen Tagträumen gar nicht gehört hatte), er schildert Pubertätsnöte und die erste Liebe zu seiner "Schwarzen Rose", einem langbeinigen Reh, das unverzüglich ins Schweizer Internat verfrachtet wird, als ihr Vater erfährt, das sie einem Knaben namens Orhan Modell steht. Denn damals wollte Pamuk noch Maler werden.
Schon der Fünfjährige zeichnete nicht nur gern, sondern auch gut, obwohl Pamuk sich noch heute nicht sicher ist, welches Talent größer war: das eigene oder das des Vaters, das vor allem darin bestand, die Leistungen seiner Söhne rückhaltlos zu bewundern und über den grünen Klee zu loben. Ein kleines Denkmal hat Pamuk seinem Vater Güzdün bereits in seinem letzten Buch gesetzt: "Der Blick aus meinem Fenster", im letzten Frühjahr im Hanser Verlag erschienen, versammelt Essays, Betrachtungen, Reiseskizzen und Porträts von Dostojewki bis Patricia Highsmith, von denen viele zuerst in dieser Zeitung erschienen sind. Damals nahm Pamuk auf sechs Seiten Abschied vom 2003 verstorbenen Vater; jetzt ist ihm das neue Buch gewidmet.
Porträt einer Metropole.
Aber "Istanbul" ist nicht nur die Kindheits- und Familiengeschichte eines Nobelpreisträgers, sondern auch das Porträt einer einzigartigen Metropole. Was für unser Leben zutrifft, gelte auch für die Stadt, in der wir dieses Leben verbringen, sagt Pamuk zu Beginn seines Buches: Deren wahre Bedeutung erfahren wir von anderen. Es ist dieser Überzeugung zu verdanken, daß Pamuks eigenen Beobachtungen und Reflexionen über seine Heimatstadt mindestens ebensoviel fremde Gedanken beigestellt sind.
Im fremden Blick, etwa von Flaubert, Nerval oder dem Architekten und Aquarellisten Anton Ignaz Melling, entdeckt Pamuk den eigenen und umgekehrt. Denn neben die berühmten Schriftstellertouristen vor allem aus Frankreich treten die großen Dichter Istanbuls, die ihr Leben und ihre Werke ihrer Heimatstadt gewidmet haben. Sie tragen Namen, die hier niemand kennt und die auch in der Türkei in Vergessenheit geraten sind. Für Pamuk aber sind Yahya Kemal, Resat Ekrem Kocu, Abdülhak Sinasi Hisar und der Romancier Tanpinar unsterblich als die vier einsamen, melancholischen Istanbul-Chronisten.
Kocu hatte sich dem Projekt der "Istanbul Ansiklopedisi" verschrieben, einer vielbändigen Stadt-Enzyklopädie, die im Verlauf des Unternehmers immer abseitiger und skurriler wurde, nicht zuletzt weil ihr Herausgeber die Seiten seiner Enzyklopädie zunehmend nutzte, um seiner Neigung zu schönen Knaben jenen Raum zu geben, der ihr in der Öffentlichkeit versagt war. Heute ist dieses längst vergriffene Werk das vergilbte Monument einer Vergangenheit, die unwiederbringlich dahin ist und doch nicht vergehen will.
Denn was immer Pamuk in diesem wunderbaren Istanbuler Lesebuch beschreibt, was immer verloren ist - der Zusammenhalt der Familie, der leichtfüßig-lebenslustige Vater oder die herrlichen Holzvillen am Bosporus -, zwei Konstanten gibt es, die unvergänglich sind: Hüzün und der taumelnde Stillstand der Stadt zwischen ihrer osmanisch-türkischen Vergangenheit und den Anziehungskräften der Modernisierung und der Verwestlichung. Dieser Stillstand hat mit dem Untergang des osmanischen Reiches begonnen und sein Ende ist nicht abzusehen. Er zerreißt die Stadt in zwei Teile, und auch der Dichter selbst fühlte sich oft in einer Jekyll-und-Hyde-Situation gefangen: "Einerseits wollte ich damals wie ein radikaler Anhänger westlicher Reformen die Stadt und mich selbst vollkommen verwestlicht sehen und andererseits voll und ganz dem Istanbul angehören, dem ich von meinem Instinkt, meinen Gewohnheiten und meinen Erinnerungen her so zugetan war."
Wir blättern in diesem überaus reich illustrierten Buch wie in einem doppelten Familienalbum. Der abwesende Großvater ist durch die Stadt Istanbul ersetzt, ein Familienmitglied, das immer schon war und immer sein wird, der mythische Stammvater der Sippe und der mißratene kleine Vetter in einer Person. Was beide verbindet, ist nichts anderes als Hüzün, der bittersüße Honig einer Mutlosigkeit, die alle Zeiten überdauert und dazu nichts anderes braucht als die Schönheit des Bosporus und die Fähigkeit, jede noch so kleine Erinnerung mit der Patina vergangener Schönheit und Größe zu überziehen.
Orhan Pamuk: "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt". Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2006. 420 S., geb., zahlr. Abb., 24,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das neue Buch des türkischen Schriftstellers Orhan Pamuk, der in wenigen Wochen in Stockholm mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird, ist zugleich Autobiographie, Porträt seiner Heimatstadt Istanbul und eine Geschichte vom Zerfall einer Familie. Mit seinen Stadtansichten und den vielen privaten Familienfotos der Pamuks ist dieses reiche Istanbuler Lesebuch auch der Versuch, das prägende Lebensgefühl der Metropole am Bosporus zu erfassen.
Von Hubert Spiegel
Was ist "Hüzün"? Hüzün ist ein Lebensgefühl, das man zu allen Zeiten und an vielen Orten unter dem Namen Melancholie kannte, das aber an keinem anderen Ort der Welt soviel Einfluß gewinnen konnte wie in Istanbul. Hüzün streicht durch die Stadt wie ein unaufhörlich wehender Wind, der noch durch die schmalste Gasse fegt, durch Fenster, Türen und alle Ritzen in die Häuser dringt und nicht aufzuhalten ist, bevor er sich in den Seelen ihrer Bewohner eingenistet hat. Hüzün kommt über die Stadt und ihre Bewohner und kommt zugleich aus der Stadt und aus den Menschen. Mit jedem Atemzug atmen die Istanbuler Hüzün ein und mit jedem Atemzug stoßen sie Hüzün aus, so daß niemand zu entscheiden vermag, wie sich die Sache wirklich verhält: Ist es die Stadt, die Kummer über ihre Bewohner bringt? Oder ist es der Hüzün der Istanbuler, der die ganze Stadt in süßem Schmerz versinken läßt?
Im Leben des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk ist Hüzün die große Konstante: "Seit ich denken kann, ist die Stadt von Armut gekennzeichnet, von Untröstlichkeit über den Verfall des Reiches, von der Melancholie, die von den Überresten aus großer Zeit ausgeht. So bin ich von jeher damit beschäftigt, diese Melancholie zu bekämpfen oder mich dann doch, wie alle Istanbuler, ihr endlich hinzugeben."
Drei Wochen bevor er in Stockholm den Nobelpreis erhält, erscheint nun das ursprünglich für das kommende Frühjahr angekündigte Erinnerungsbuch Pamuks: "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt" ist die Autobiographie der frühen Jahre, ein Porträt der Stadt, in der Pamuk seit fünf Jahrzehnten lebt und die er wohl niemals auf Dauer verlassen wird, und es ist eine Übung in Hüzün, die aufs Papier bannt, was in immer neuen Anläufen erklärt, beschrieben und beschworen wird. Zunächst einmal aber ist dieses Buch die hinreißend erzählte Geschichte vom Verfall einer Familie.
Sorglose Untergangsstimmung.
Orhan Pamuks Großvater war ein Ingenieur, der mit dem Geld, das er beim Bau der türkischen Eisenbahn verdient hatte, eine Fabrik errichtete, einen profitablen Zulieferbetrieb für den Tabakanbau. Seine Söhne werden ihr Leben damit verbringen, das Vermögen des Vaters in unrentable Unternehmen zu investieren, sie gründen oder übernehmen Firmen, bekleiden Direktorenund Geschäftsführerposten und müssen ein Grundstück des umfangreichen Immobilienvermögens nach dem anderen verkaufen, um ihre Pleiten zu kaschieren. So wachsen Pamuk und sein Bruder in sorgloser Untergangsstimmung auf, unternehmen mit Vater und Onkel immer wieder fröhliche Ausfahrten mit dicken westlichen Autos, um gemeinsam der Familienfestung zu entkommen, dem im modernen Baustil errichteten Appartmenthaus "Pamuk Apartmani" im Stadtviertel Nisantasi, in dem die Großfamilie gemeinsam unter einem Dach lebt, bis Zwist, Vermögensstreitigkeiten und westliche Lebensart den Familienverbund gesprengt haben.
Pamuk beschreibt das Haus, in dem er mit Unterbrechungen seit seiner Geburt im Jahr 1952 gelebt hat, als Museum eines Lebensstils im Übergang von der türkisch-osmanischen Kultur zu westlicher Lebensart. Die dunklen Räume, von der Großmutter so gut wie nie, von den Kindern nur selten verlassen, werden dem kleinen Orhan zum unergründlichen Mikrokosmos. Wo andere Kinder ein Wäldchen oder ein paar Büsche in der Nachbarschaft als Urwald erleben, muß Orhan sich mit dem floralen Muster im Teppich begnügen. Den Rest besorgt die Phantasie, von der er soviel hat, daß er zeitlebens in selbst geschaffenen Parallelwelten zu verschwinden fürchtet.
Pamuk berichtet ausführlich von Kinderspielen und Bruderzwist, von den häufigen Ehekrächen der Eltern, dem strengen Regiment der Großmutter, von Tanten, Nachbarinnen, Gesellschaftsdamen, von seiner Streberkarriere in der Schule (Orhan zeigte immer auf, sogar dann, wenn er die Frage der Lehrerin über seinen Tagträumen gar nicht gehört hatte), er schildert Pubertätsnöte und die erste Liebe zu seiner "Schwarzen Rose", einem langbeinigen Reh, das unverzüglich ins Schweizer Internat verfrachtet wird, als ihr Vater erfährt, das sie einem Knaben namens Orhan Modell steht. Denn damals wollte Pamuk noch Maler werden.
Schon der Fünfjährige zeichnete nicht nur gern, sondern auch gut, obwohl Pamuk sich noch heute nicht sicher ist, welches Talent größer war: das eigene oder das des Vaters, das vor allem darin bestand, die Leistungen seiner Söhne rückhaltlos zu bewundern und über den grünen Klee zu loben. Ein kleines Denkmal hat Pamuk seinem Vater Güzdün bereits in seinem letzten Buch gesetzt: "Der Blick aus meinem Fenster", im letzten Frühjahr im Hanser Verlag erschienen, versammelt Essays, Betrachtungen, Reiseskizzen und Porträts von Dostojewki bis Patricia Highsmith, von denen viele zuerst in dieser Zeitung erschienen sind. Damals nahm Pamuk auf sechs Seiten Abschied vom 2003 verstorbenen Vater; jetzt ist ihm das neue Buch gewidmet.
Porträt einer Metropole.
Aber "Istanbul" ist nicht nur die Kindheits- und Familiengeschichte eines Nobelpreisträgers, sondern auch das Porträt einer einzigartigen Metropole. Was für unser Leben zutrifft, gelte auch für die Stadt, in der wir dieses Leben verbringen, sagt Pamuk zu Beginn seines Buches: Deren wahre Bedeutung erfahren wir von anderen. Es ist dieser Überzeugung zu verdanken, daß Pamuks eigenen Beobachtungen und Reflexionen über seine Heimatstadt mindestens ebensoviel fremde Gedanken beigestellt sind.
Im fremden Blick, etwa von Flaubert, Nerval oder dem Architekten und Aquarellisten Anton Ignaz Melling, entdeckt Pamuk den eigenen und umgekehrt. Denn neben die berühmten Schriftstellertouristen vor allem aus Frankreich treten die großen Dichter Istanbuls, die ihr Leben und ihre Werke ihrer Heimatstadt gewidmet haben. Sie tragen Namen, die hier niemand kennt und die auch in der Türkei in Vergessenheit geraten sind. Für Pamuk aber sind Yahya Kemal, Resat Ekrem Kocu, Abdülhak Sinasi Hisar und der Romancier Tanpinar unsterblich als die vier einsamen, melancholischen Istanbul-Chronisten.
Kocu hatte sich dem Projekt der "Istanbul Ansiklopedisi" verschrieben, einer vielbändigen Stadt-Enzyklopädie, die im Verlauf des Unternehmers immer abseitiger und skurriler wurde, nicht zuletzt weil ihr Herausgeber die Seiten seiner Enzyklopädie zunehmend nutzte, um seiner Neigung zu schönen Knaben jenen Raum zu geben, der ihr in der Öffentlichkeit versagt war. Heute ist dieses längst vergriffene Werk das vergilbte Monument einer Vergangenheit, die unwiederbringlich dahin ist und doch nicht vergehen will.
Denn was immer Pamuk in diesem wunderbaren Istanbuler Lesebuch beschreibt, was immer verloren ist - der Zusammenhalt der Familie, der leichtfüßig-lebenslustige Vater oder die herrlichen Holzvillen am Bosporus -, zwei Konstanten gibt es, die unvergänglich sind: Hüzün und der taumelnde Stillstand der Stadt zwischen ihrer osmanisch-türkischen Vergangenheit und den Anziehungskräften der Modernisierung und der Verwestlichung. Dieser Stillstand hat mit dem Untergang des osmanischen Reiches begonnen und sein Ende ist nicht abzusehen. Er zerreißt die Stadt in zwei Teile, und auch der Dichter selbst fühlte sich oft in einer Jekyll-und-Hyde-Situation gefangen: "Einerseits wollte ich damals wie ein radikaler Anhänger westlicher Reformen die Stadt und mich selbst vollkommen verwestlicht sehen und andererseits voll und ganz dem Istanbul angehören, dem ich von meinem Instinkt, meinen Gewohnheiten und meinen Erinnerungen her so zugetan war."
Wir blättern in diesem überaus reich illustrierten Buch wie in einem doppelten Familienalbum. Der abwesende Großvater ist durch die Stadt Istanbul ersetzt, ein Familienmitglied, das immer schon war und immer sein wird, der mythische Stammvater der Sippe und der mißratene kleine Vetter in einer Person. Was beide verbindet, ist nichts anderes als Hüzün, der bittersüße Honig einer Mutlosigkeit, die alle Zeiten überdauert und dazu nichts anderes braucht als die Schönheit des Bosporus und die Fähigkeit, jede noch so kleine Erinnerung mit der Patina vergangener Schönheit und Größe zu überziehen.
Orhan Pamuk: "Istanbul. Erinnerungen an eine Stadt". Aus dem Türkischen übersetzt von Gerhard Meier. Hanser Verlag, München 2006. 420 S., geb., zahlr. Abb., 24,90 [Euro].
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