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Karl-Heinz Ott schildert die letzten drei Tage im Leben einer Mutter und den Versuch des Sohnes, mit ihr ins Reine zu kommen, sich aus der ödipalen Beziehung, der Hassliebe zwischen Mutter und Sohn zu lösen, ins "Offene" zu gelangen.

Produktbeschreibung
Karl-Heinz Ott schildert die letzten drei Tage im Leben einer Mutter und den Versuch des Sohnes, mit ihr ins Reine zu kommen, sich aus der ödipalen Beziehung, der Hassliebe zwischen Mutter und Sohn zu lösen, ins "Offene" zu gelangen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.01.1999

Ein Vernichtungsspiel
Kindheit in Oberschwaben: Karl-Heinz Otts Erstling "Ins Offene"

Oberschwaben mit seinen Hügeln, Wäldern und Viehweiden, mit seinen Dörfern, Klöstern und seinem verzwängten Katholizismus ist eine literarisch gut vermessene Landschaft. Maria Beig, Arnold Stadler und viele andere haben über das Aufwachsen in Geborgenheit und Beengtheit, über gefesselte Kindheit und jugendliche Befreiungsversuche geschrieben. Aber mit der unglücklichen Kindheit ist es wie im Heine-Gedicht über den verliebten Jüngling: Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie immer neu, und wem sie just passieret . . .

Karl-Heinz Ott ist sie passieret, und was er darüber geschrieben hat, klingt bekannt und doch ganz anders als alles, was wir kennen. Otts Ich-Erzähler, geboren und aufgewachsen in Oberschwaben, dann auf- und ausgebrochen, fährt zurück in sein Dorf, um seiner Mutter beizustehen. Die hat Bauchspeicheldrüsenkrebs und nur noch wenige Wochen zu leben. Die Reise führt auch zurück in die Kindheit. Die letzten Wochen am Kranken-, dann am Totenbett sind Vergegenwärtigung und der Versuch einer Verarbeitung einer überaus engen, einengenden Bindung. Der Ich-Erzähler ist unehelich geboren und dadurch - wir schreiben die frühen sechziger Jahre - sozial stigmatisiert. Der Vater, verheiratet mit einer anderen, hatte sich mit seinem Wunsch nach Abtreibung nicht durchgesetzt und den Kontakt abgebrochen. Der Sohn hat ihn nie gesehen, nicht einmal ein Bild; ein einziges Mal hat er mit ihm telefoniert, um die Zahlung der Alimente anzumahnen. Die Mutter selbst tut Fragen nach dem Vater unwirsch ab - "ich hatte ihn nicht ins Spiel zu bringen, sondern zu ersetzen", lautet der Kommentar des Sohnes. Der Schaden, den diese Form der Vaterlosigkeit beim Erzähler anrichten muß, wird indes nur angedeutet; an diese Wunde hat Ott nicht rühren wollen.

Um so intensiver wird die Auseinandersetzung mit der Mutter beschrieben. Ihr "Fehltritt" hatte sie im Dorf zur Außenseiterin gemacht, worauf sie mit exzessiver Hingabe an religiöse Praktiken reagiert - im wallfahrts- und bußfreudenreichen Oberschwaben kein Problem - und mit "Klammern" am Sohn. Ein Verhältnis entsteht, das man, auch wenn dies kein literarisch tauglicher Begriff ist, nur als neurotisch bezeichnen kann. Zwangsläufig und zwanghaft sucht die Mutter den fortstrebenden Sohn festzuhalten, sucht sich dieser mit allen Mitteln abzugrenzen.

Ein "Vernichtungsspiel" nennt Ott, was Mutter und Sohn miteinander treiben. Ihre Angst, verlassen zu werden, nimmt panische Züge an und bricht sich immer wieder in wüsten Beschimpfungen und Verfluchungen Bahn. Der Sohn zieht schließlich fort, in die Stadt, und reduziert die Besuche der Mutter aufs äußerste Minimum.

"Nichts wird sich zwischen uns ändern", schreibt er und fährt doch auch deshalb nach Hause, daß sich wenigstens im Angesicht des Todes etwas ändere. In diesen letzten Lebenswochen sucht er einen friedlichen Abschluß, eine Abrundung des belasteten Verhältnisses. Er sucht seine Befreiung. Aber der Mutter geht es immer schlechter; der Verfall ist schneller als die Verständigung. Der Sohn sieht sich einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt, getrieben von dem Wunsch, etwas zu retten, und bedrängt von dem Wissen, daß es dafür zu spät ist.

Karl-Heinz Ott schwankt zwischen genauen, einprägsamen Beobachtungen und einer etwas wichtigtuerischen Interpretationsprosa. In seinen besten Momenten erreicht Otts erster Roman eine Beschreibungs- und Beschwörungskraft, die an Martin Walser erinnert; vor allem, wenn er die realen Schrecken der Kindheit benennt. So war der Dorfpolizist Müller eine von der Mutter gern genutzte Drohinstanz, an die sich noch der Erwachsene schaudernd erinnert. "Wenn ich ihn von weitem sah, fühlte ich mich sofort schuldig, ohne zu wissen warum. Doch Gründe ließen sich mühelos finden. Das allgegenwärtige Gefühl, etwas verbrochen zu haben, konnte man jederzeit dingfest machen." Was Ott dagegen über die Verwandlung der Dörfer in Schlafstädte zu sagen hat, über Sparkassen und Mehrzweckhallen, ist allgemein und banal.

Ein respektables, streckenweise beeindruckendes, wenn auch in der Qualität uneinheitliches Debüt also. Aber Otts Roman heißt ja auch nicht "Im Offenen", sondern, nach einer Hölderlin-Zeile, "Ins Offene". Er schildert einen Prozeß, auch wenn er vielleicht lieber ein Ergebnis vorgelegt hätte. Und dieser Prozeß ist in der Tat offen. Es kommt zu keiner "Abrundung", keiner Versöhnung mit der Mutter, dieser kindliche Wunsch bleibt unerfüllt. Statt dessen bemerkt der Sohn, daß ihm die sterbende Mutter noch auf andere Weise abhanden kommt: Ihr Bild zerfließt, seine Erinnerungen werden Stückwerk. Kaum ist sie tot, weiß er schon nicht mehr, wer und wie sie war.

Das Ende der erdrückenden Umarmung macht es aber möglich, sich einen anderen Zugang zu ihr zu verschaffen: nicht als Mutter, sondern als Person. Da kommen Züge zum Vorschein, die dem von Liebe erdrückten, vom Abwehrkampf absorbierten Sohn entgehen mußten: Züge einer lebenslustigen, patenten, selbstbewußten Frau, die gern "gickste" und ein schwieriges Leben gegen alle Anfeindungen durchgestanden hat. "Wäre sie nicht meine Mutter gewesen, hätte ich sie mir vielleicht, von weitem besehen, als solche gewünscht": So lautet das Fazit dieser Auseinandersetzung. Es ist ein vorläufiges Fazit. "Im Offenen" ist der Ich-Erzähler, ist auch der Autor noch lange nicht. Dieses Buch ist ein Stück Wegs, aber ein gutes Stück. MARTIN EBEL

Karl-Heinz Ott: "Ins Offene". Roman. Residenz Verlag, Salzburg 1998. 139 S., geb., 36,80 DM.

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