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Der neue große Roman von Uwe Timm
Deutschland Ende April 1945: Während mancherorts noch der Krieg tobt, bricht der junge amerikanische Offizier Michael Hansen nach Bayern auf. In einem Münchner Antiquariat trifft er auf den Dissidenten Wagner, einen frühen Weggefährten des Eugenikers Alfred Ploetz. Wagner erzählt die Geschichte seiner Freundschaft mit Ploetz, die Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau begann und bis nach Amerika führte - und mitten hinein in das Ringen um die beste gesellschaftliche Ordnung. Hansen kommt durch die Lebensbeichte Wagners dem faustischen Pakt auf die Spur, den…mehr

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Produktbeschreibung
Der neue große Roman von Uwe Timm

Deutschland Ende April 1945: Während mancherorts noch der Krieg tobt, bricht der junge amerikanische Offizier Michael Hansen nach Bayern auf. In einem Münchner Antiquariat trifft er auf den Dissidenten Wagner, einen frühen Weggefährten des Eugenikers Alfred Ploetz. Wagner erzählt die Geschichte seiner Freundschaft mit Ploetz, die Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau begann und bis nach Amerika führte - und mitten hinein in das Ringen um die beste gesellschaftliche Ordnung. Hansen kommt durch die Lebensbeichte Wagners dem faustischen Pakt auf die Spur, den der Rassenhygieniker Ploetz mit den Nazis einging, und dem ganz anderen Schicksal, das den Antiquar wegen seiner widerständigen Haltung ereilte.

Eine beeindruckende Zeitreise durch die deutsche Geschichte, eine ganz eigene Sicht auf die »Stunde Null« - ebenso erschreckend wie berührend.
Autorenporträt
Uwe Timm wurde 1940 in Hamburg geboren. Geschichten faszinierten Uwe Timm von klein auf: Er lauschte dem 'Seemannsgarn' seines Großvaters, einem Kapitän, schlich immer wieder zu seiner Tante ins Hafenviertel, in deren Küche sich Leute aus dem Rotlichtmilieu trafen, und schrieb schon als Schuljunge eigene Geschichten. Nach dem Tod des Vaters leitete er drei Jahre lang das Kürschnergeschäft, machte dann am Braunschweig-Kolleg sein Abitur und studierte in München und Paris Philosophie und Germanistik. Er promovierte mit einer Arbeit über Albert Camus. Anschließend studierte er Soziologie und Volkswirtschaftslehre. Den Aufbruch Ende der sechziger Jahre erlebte Uwe Timm als Student aktiv mit. Er zählt zu den wichtigsten Vertretern der 68er-Generation; die Aufarbeitung dieser Zeit zieht sich durch sein gesamtes Werk. Der Vater von vier Kindern verfasste auch vier Kinder- und Jugendbücher. Außerdem arbeitete er als Drehbuchautor. Für seine Romane und Erzählungen erhielt Uwe Timm zahlreiche Auszeichnungen und Preise: 2001 den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und den Tukanpreis der Landeshauptstadt München, 2002 den Literaturpreis der Landeshauptstadt München, 2003 den Schubart-Literaturpreis und den Erik-Reger-Preis der Zukunftsinitiative des Landes Rheinland-Pfalz. 2006 wurde Uwe Timm mit dem Premio Napoli sowie dem Premio Mondello ausgezeichnet, 2009 erhielt er den Heinrich-Böll-Preis und 2012 die Carl-Zuckmayer-Medaille. 2013 wurde Uwe Timm der Kulturelle Ehrenpreis der Landeshauptstadt  München verliehen, 2018 der Schillerpreis und das Bundesverdienstkreuz. Uwe Timm lebt in München und Berlin.
Rezensionen
Der historische Roman ist eine berührende und zugleich erschreckende Zeitreise durch die Geschichte Deutschlands. Johannes Achim Ostfriesen-Zeitung 20190830

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.09.2017

Krieg gegen das Leben
Utopie-Studie, Münchenroman und Euthanasie-Dokument: In Uwe Timms „Ikarien“
kehrt ein junger Mann 1945 aus dem amerikanischen Exil in seine zerstörte Heimat zurück
VON NICOLAS FREUND
München ist im Frühjahr 1945 eine Ruinenstadt: Im Dach der Pinakothek, der Universität und vieler anderer Gebäude klaffen große Löcher, von Fliegerbomben in den letzten Tagen des Krieges gerissen. Fast ganz zerstört ist die Glyptothek am Königplatz, dem Isar-Athen, das nach dem antiken griechischen Idealbild einer Stadt errichtet wurde und nun in Trümmern liegt. Das Tausendjährige Reich verging im Zeitraffer.
In München fahren die Amerikaner in offenen, grünen Armeejeeps durch die Straßen. Was sie bringen, kann nur besser sein als das, was war, aber sicher ist sich da nicht jeder. Auf den Gehwegen humpeln und betteln die Kriegsheimkehrer, oft mit umkrempelten Ärmeln oder Hosenbeinen, dort, wo Gliedmaßen sein sollten, aber keine mehr sind. Im Umland, an den Seen, wo der Sommer beginnt, scheint der Krieg schon halb vergessen zu sein, aber die Voralpenidylle wirkt wie eine Kulisse. „Was trieb diese Leute an? Es sieht doch alles so nett und adrett aus. Der gelbbraune Sandstein der Häuser, Blumen vor dem Fenster, das Grau, zuweilen ins Dunkelgrün spielend, der Schieferdächer. Aber vielleicht ist es ebendas, diese Nettigkeit, der eine Geducktheit entspringt, etwas Uneingelöstes, Selbstgerechtes, den Hass Suchendes“, schreibt Uwe Timm über diese Zeit des Endes und des Neuanfangs in seinem neuen Roman „Ikarien“. Die Ruinen, die vernichteten Städte, die verstümmelten Heimkehrer, die Versprechen des nun untergegangenen Dritten Reichs: Ihnen allen gemeinsam ist die Aura des Uneingelösten.
Das Ende des Krieges ist eine Zeit, auf die Timm, der sie selbst als Fünfjähriger erlebt hat, immer wieder zurückkommt. In seinem erfolgreichsten Buch, „Am Beispiel meines Bruders“, hat er schon nach dem gesucht, was den älteren Bruder damals dazu gebracht hat, nach Russland in den Krieg zu ziehen. „Ikarien“ beginnt nun mit einer Rückkehr: Der junge Michael Hansen kommt aus den USA, in die seine Familie schon viele Jahre vor dem Krieg ausgewandert war, nach Deutschland zurück. Wegen seiner Sprachkenntnisse wird er als GI vom amerikanischen Geheimdienst für besondere Aufgaben eingesetzt: Er soll Nachforschungen die Arbeiten des deutschen Arztes und Eugenikers Alfred Ploetz betreffend anstellen. Vordergründig interessieren sich die Amerikaner für dessen Ideen zur „Verbesserung“ aller Menschen zum Ziele einer idealen Gesellschaft oder, wie es auch formuliert wurde, zur „Ausjätung des minderwertigen und kranken Erbguts“. Bestrebungen, das eigene Volk durch die Partnerwahl oder Zwangssterilisierungen zu etwas Besserem heranzuzüchten, gab es nicht nur in Deutschland.
Das utopische Streben, das sich an den Bauten des Königsplatzes in München, aber auch in den Rastern der Stadtpläne New Yorks oder Barcelonas und in Nazibauten wie dem Reichsparteitagsgelände in Nürnberg zeigt, beschränkte sich nicht auf die Architektur, sondern zielte auf die Menschen, die diese Städte und Gebäude bevölkern sollten. Die Nazis haben dieses Begehren in perverse Höhen geschraubt. Was in Deutschland zu diesem Thema geforscht worden war, interessiert Hansens Auftraggeber auch als nicht unwichtiger Baustein zum Verständnis der Verbrechen des NS-Regimes. Eigentlich aber wittern die Amerikaner in der Eugenik-Bewegung, die auch in den USA Fuß fasste, die schwellende Gefahr des Kommunismus, denn diese ideale Gesellschaft, dieses Gleichschalten aller Individuen, klingt verdammt nach den Ideen der Marxisten.
Alfred Ploetz ist 1940 gestorben, aber sein langjähriger Gefährte, ein gewisser Wagner, lebt noch, und Hansen soll ihn verhören. Hier teilt sich der Roman in den Bericht Wagners und in die Erzählung der Zeit Hansens in München. Für ihn, den jungen, fließend Englisch und Deutsch sprechenden amerikanischen Offizier nimmt der Sommer in der zerstörten Stadt seltsam paradiesische Züge an. Er requiriert ein Cabrio und ein Haus am Ammersee mit Motorboot und kann sich über die amerikanischen Versorgungslinien nach Belieben mit Alkohol, Kaffee, Zigaretten und anderen Luxusgütern eindecken. Obwohl „Fraternisierung“ mit der deutschen Bevölkerung streng verboten ist, verkehren die meisten GIs bald mit deutschen „Fräulein“. Gleich mit mehreren Frauen, die er alle kaum kennt und auf die er alles möglich projiziert, verbringt auch Hansen diesen Sommer der Zwischenzeit, wenn er nicht Wagners Lebensgeschichte aufzeichnet.
Der Keim des Eugenik-Projekts, von dem der Zeuge Wagner berichtet, liegt in den USA: Mitte des 19. Jahrhunderts wollte eine Gruppe Siedler ausgehend von Ideen aus dem Roman „Reise nach Ikarien“ des französischen Schriftstellers und Politikers Étienne Cabet in Nordamerika eine Kolonie errichten, in der gleiche Verteilung von Gütern, Arbeit und Bildung für alle galt. Mit dabei ist Alfred Ploetz. Das Projekt scheiterte, aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch, weil sich die Gleichheit nicht herstellen ließ, und die Grundvoraussetzungen jedes Einzelnen, von der Muttersprache bis zur Intelligenz und Anpassungsfähigkeit, erwartungsgemäß stark voneinander abwichen. Wagner schildert, wie Ploetz enttäuscht auf dem Rückweg im Zug sitzend die ersten Ideen von einer Verbesserung aller Menschen ausbrütet.
Die Figur Ploetz und die Geschichte Ikariens basieren auf historischen Fakten: Die Kolonien gab es wirklich, ebenso den Eugeniker Alfred Ploetz, er war der Großvater von Uwe Timms Ehefrau, der Übersetzerin Dagmar Ploetz. Erfunden ist die Figur Hansens. In den zwei Erzählsträngen führt Timm historische Ereignisse vom Scheitern der ikarischen Kolonien bis zum Untergang des Dritten Reichs mit dem Begehren seiner Figuren zusammen: das nach dem idealen Menschen mit dem Begehren Hansens nach Frauen und dem schönen Leben am See, in dem sich das Eugenikprojekt mit seinen Fortpflanzungsexperimenten eigenartig spiegelt. Nach was sucht Hansen im Cabrio und im Bett mit den Frauen? „Er hatte sich recht genaue Vorstellungen von dieser Nacht gemacht.“ Gemeinsam ist diesen utopischen Projekten, dass sie scheitern. „Ikarien“ ist eine vielschichtige Utopiestudie, ein historischer Münchenroman und ein Dokument über die Abgründe der Eugenik, die Euthanasie in den Heimen und die idealistischen Ideen, die in Tierversuchen ausprobiert wurden und in den Konzentrationslagern ihren grausamen Kern offenbarten.
„Das Ziel ist die Regulierung des Lebens, die Ausschaltung aller unberechenbaren Elemente. Also die Kontrolle. Als führe man Krieg gegen das Leben“, schreibt László Földényi in seinem gerade erschienen Essay über Kafka und die utopischen Stadtprojekte seit der Renaissance.
Uwe Timms „Ikarien“ reicht vom Kleinsten ins Größte und vom Innersten ins Äußerste. „Ich kletterte über den Schutt, ging durch die Räume, die Mauern, an den Wänden Fresken, darüber der Himmel“, heißt es über Hansens Erkundung der Ruine der Glyptothek. Merkmal faschistischer Architektur und utopischer Projekte ist die Absenz des Humanen, das Fehlen des menschlichen Maßstabs. Uwe Timm hat in seinem Roman die Ruinen wieder mit Menschen bevölkert, die sich in den Zerstörungen wiederfinden, die Fehler machen und die nicht perfekt sind.
Uwe Timm kommt in seinem
Werk immer wieder auf
das Ende des Krieges zurück
Blick durch das zerstörte Schwabing auf die Akademie der Bildenden Künste. Nicht weit entfernt wohnt im Roman die Figur Wagner.
Foto: SZ Photo
Uwe Timm: Ikarien. Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017.
512 Seiten, 24 Euro.
E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017

Versuche zu erklären, was Liebe sein kann

In seinem Roman "Ikarien" verspinnt Uwe Timm das Leben des Begründers der "Rassenhygiene" mit Momentaufnahmen der ersten Nachkriegszeit.

Von Fridtjof Küchemann

So klar der Auftrag war, der Lieutenant Michael Hansen gleich Anfang Mai 1945 nach München führte, so frei war der amerikanische Offizier mit deutschen Wurzeln bei dessen Erfüllung: Erkunden soll er, wie sich die von den Nationalsozialisten propagierte Theorie der Rassenhygiene herausgebildet hat. In der Nähe Münchens hatte deren fünf Jahre zuvor gestorbener Begründer geforscht, Alfred Ploetz, eine vieldeutige Persönlichkeit: Als Fachmann für Eugenik hatte er schon 1895 postuliert, Mitleid und Fürsorge für die Schwachen führten zum "Niedergang der menschlichen Kulturrassen", dennoch war er 1936 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen worden. Er gründete eine ganze Reihe von Geheimbünden zunächst sozialistischer, später rassistischer Ausprägung. Er hielt Hof in einem Schloss am Ammersee, finanziert durch das Erbe seiner zweiten Frau, einer Künstlerin mit bewegender Geschichte, griechischer Mutter und argentinischem Pass. In jungen Jahren hatte er Amerika bereist, auf den Spuren des Frühsozialisten Étienne Cabet, dessen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Illinois gegründete Kommune Uwe Timms neuem Roman den Titel gibt.

"Ikarien" ist eine fein abgestimmte Komposition verschiedener Stimmen und Perspektiven. Der Roman stellt Tagebuchnotizen Hansens - auf Anraten seines akademischen Lehrers auf Deutsch verfasst - Episoden aus dessen sieben Monaten im Deutschland der letzten Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit gegenüber. Den Schwerpunkt aber bilden die Protokolle von vierzehn langen Gesprächen, die der Offizier mit einem frühen Weggefährten von Alfred Ploetz geführt hat, der allen bald unvereinbaren Ansichten zum Trotz den Kontakt zu diesem Günstling und Vordenker nationalsozialistischer Ideologie nie verloren hatte.

In seiner Danksagung am Ende des Buchs hält Uwe Timm fest, dass ihn der Stoff schon seit Jahrzehnten beschäftigte, sich aber lange keine ihn "fassende epische Struktur" hatte finden lassen wollen. Die Konstruktion, für die sich Timm schließlich entschied, hat etwas Waghalsiges. Ein Potpourri aus Begegnungen und Liebschaften, Momentaufnahmen vom Land und aus der Stadt, aus Versuchen eines jungen Mannes zu verstehen, was hier gerade Entsetzliches zu Ende gegangen ist, zu verstehen, wie die Menschen dieses Ende erleben und mit der Erinnerung an das Entsetzliche leben - und es immer wieder auch zu übersehen. Dazu die Stimme eines einundachtzig Jahre alten Gewährsmanns, der zwar vorgibt, zwölf Jahre lang darauf gewartet zu haben, Zeugnis ablegen zu können, der sich darauf vorbereitet, Notizen gemacht und sich oft vorerzählt hat, was er dem Amerikaner jetzt berichtet, aber dann doch so flüssig, fokussiert und nicht nur druckreif, sondern literarisch spricht, dass an der Künstlichkeit dieser Kunstfigur kein Zweifel bestehen kann. Ihrer Anziehungskraft allerdings tut dies keinen Abbruch.

"Dieser Alte, der so langsam die Straße entlangtappt, zerborstenen Ziegelsteinen ausweichend, hat das Tausendjährige Reich in einem Keller überlebt", heißt es auf den Seiten, auf denen dieser Wagner eingeführt und sofort klargemacht wird, wie tief er in der Schuld des Mannes steht, den er trotz allem immer wieder den "Freund" nennt: Nach Monaten im KZ Dachau war er auf Intervention von Ploetz hin im Sommer 1933 freigelassen worden. Sogar eine Wohnung und eine Anstellung beim Antiquariat Axthelm in der Münchner Schellingstraße, unter dessen Fußboden er sich eine Zeitlang vor der Gestapo verstecken musste, hatte ihm der alte Weggefährte besorgt.

Kein Wunder, dass Hansen die Gespräche mit diesem Mann immer weiter ausdehnt. Und den Vorgesetzten deren Bedeutung suggeriert, bis ein Captain bei der geschichtswissenschaftlichen Abteilung der Army erfährt, dass das Interesse am Fall Ploetz, auf einer Skala von eins bis zehn gemessen, allenfalls bei drei liege. Das Counter Intelligence Corps interessiere diese ganze Vererbungsgeschichte überhaupt nicht, hört Hansen kurz darauf, als die ersten Abschriften der Gespräche vorliegen, dem gehe es nur um die frühe kommunistische Verbindung. Überhaupt sei zu viel von diesem Wagner die Rede, das Ganze erinnere fast an eine Doppelbiographie.

Das mag für Colonel Middleton ermüdend sein, für den Leser von "Ikarien" ist es ein Glück. Michael Hansen gleich findet er an der Geschichte Wagners Halt, während er den Eskapaden des jungen Amerikaners im Oberbayern der Nachkriegszeit folgt. Das Schloss von Ploetz hatte er nicht zu enteignen gewagt, jetzt lebt er im nahe gelegenen Herrenhaus mit Seeund Alpenblick. Einem Apotheker hat er kurzerhand dessen Cabriolet abgenommen, dem obersten Parteirichter der Nazis ein Motorboot aus Mahagoni-Holz. Mit einer Juristin der Militärgerichtsbarkeit aus Montana vergnügt er sich. Die klagt, für sie als Frau sei es undenkbar, das Fraternisierungsverbot mit den Deutschen zu verletzten, wie es ihre männlichen Kollegen immer unbekümmerter täten. Auch Hansen lernt eine resolute Deutsche kennen - und mit dieser Molly, wozu er ihr nützen kann und was passiert, wenn sie erreicht hat, was sie wollte.

Zu den unausweichlichen Exkursen in die Ploetzsche Lehre von der Rassenhygiene und dem notwendigen "arischen Aufartungsprozess" sind Hansens Frauengeschichten in ihren Spielarten des weiblichen Eigennutzes ein ebenso angenehmer wie interessanter Kontrast. Wagners rührende Erzählung von der einzigen Frau, mit der er je zusammengelebt hat, als er schon Ende sechzig und sie Ende vierzig war, auch das nur für zwei Jahre und einen Monat, komplettiert diesen Dreiklang von der Liebe und ihren Bedingungen im Hitler-Deutschland und kurz danach. Als Jüdin hatte Lisweta auch in den frühen Dreißigern schon gewusst, dass sie einer Einladung von Ploetz besser nicht folgen sollte. Und Wagner fuhr allein, er wollte "dem früheren Freund ebendas versuchen zu erklären, was Liebe sein kann, die nicht allein auf Fortpflanzung gerichtet ist".

Uwe Timm hat den monströsen Stoff des Eugenikers Alfred Ploetz auf doppelte Weise gebändigt: Indem er ihn durch die treuen Erinnerungen eines alten Mannes filtert, der allerdings die letzte Begegnung mit dem einstigen Weggefährten das eine Mal auf 1936, später dann auf 1940 datiert, wobei unklar bleibt, ob es sich um einen seltenen Widerspruch in der Erinnerung Wagners handelt oder ob der Antiquar erst im Lauf der Begegnung Vertrauen zu seinem Gesprächspartner fasst und auch von dem obskuren zweiten und letzten Treffen zu berichten beschließt.

Seine Rolle im Nationalsozialismus hatte Ploetz zwar Schriften wie "Volksaufartung - Erbkunde - Eheberatung" und seinen frühen Ergebenheitsadressen zu verdanken, seine wissenschaftliche Forschung indes galt dem Nachweis des schädlichen Einflusses von Alkohol auf das Erbgut. 1600 Versuchskaninchen hatte der überzeugte Antialkoholiker in Herrsching gehalten und in verschiedenen Experimenten betrunken gemacht, um die erwarteten Veränderungen ihrer Hirne und Keimzellen zu untersuchen.

Kaum drei Wochen vor seinem Tod bittet Ploetz seine wissenschaftlichen Weggefährten, dazu den ehemaligen Freund, ins Schloss, um ihnen großmütig zu eröffnen, dass der Alkoholkonsum doch keine weitervererbbaren Schäden bewirke. Nach fünfzig Jahren Abstinenz nimmt er sich ein Weinglas und trinkt - auf den Irrtum. Dass die Tiere leiden mussten, "weil er sich die Lust, ein Glas Wein zu trinken, versagte", mag als unmittelbare Unterstellung eines Erzählers ebenso schal wirken wie der Gedanke, dass "alle die Gesundheits- und Stärkungstheorien Angstblüten des Verdachts" sein könnten, Alfred Ploetz sei gefährdet, "irre" zu werden wie sein Bruder, der mit im Schloss lebt. Einem einundachtzig Jahre alten Zeugen indes steht so etwas gut zu Gesicht.

Uwe Timm: "Ikarien". Roman.

Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017. 512 S., geb., 24,- [Euro].

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