Produktdetails
  • Verlag: Luchterhand Literaturverlag
  • Seitenzahl: 189
  • Abmessung: 205mm
  • Gewicht: 323g
  • ISBN-13: 9783630869797
  • ISBN-10: 3630869793
  • Artikelnr.: 24579135
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.04.1999

Diesel, Staub und Teer
Sicher am Steuer: Hella Eckert bewegt einen Hanomag · Von Peter Demetz

An interessanten ersten Romanen hat es in der neuesten deutschen Literatur nie gefehlt, aber es ist ja der zweite, welcher verrät, wer wirklich gut daran tut, vom Schreiben nicht abzulassen. Hella Eckerts Erstling "Big John" (1993) hat mit Recht die freundlichste Aufnahme gefunden, und "Hanomag", ihr zweiter Roman, ist auf dem schönsten Wege dazu - merkwürdig, daß sich die beiden Bücher in ihren chemischen Substanzen fast aufs Haar gleichen und doch ganz andere Geschichten über die Verwirrungen der Liebe erzählen; wohin des Weges?

Enge Hinterhöfe und Familien ohne Väter (gestorben oder auf ungewissen Reisen), resignierte und mutige Mütter, streunende Töchter, unten im Hause die kleine Bar oder eine Imbißbude, eine andere Frau ohne Männer oder mit einem Freund, der dem Teenager aus der Wohnung unten in die Bluse fährt. Diesmal ein Hanomag, leider nur 2,5 Tonnen, mit dem Ritas Vater kleine Übersiedlungen übernimmt, sein Stolz und seine Wunde zugleich. Er träumt von einem Riesenwagen und dem großen Geschäft mit den neuen Containern, fremde Worte wie "Lizenz" oder "Bankkredit" drängen sich in die Familiengespräche. Eines Tages ist der Vater mit dem Hanomag fort, die Mutter tippt in einem Speditionsgeschäft und verwickelt sich in eine ratlose Affäre mit dem Chef; Rita, die Tochter, schwänzt die Schule, jobbt und läuft durch die Stadt. Dann kommt der Vater zurück, und die kleine Familie rückt wieder zusammen, als ob nichts geschehen wäre, ein lädiertes, aber glühendes Happy-End.

Die Ereignisse so darzustellen ist leicht und ganz falsch zugleich, denn es geht gar nicht um diese Ereignisse, sondern um die störrischen Versuche der jungen Rita, herauszufinden, was da alles geschieht und welche Entscheidungen, Motive und Gründe diese und nicht andere Folgen haben. Ein geradezu ohnmächtiges Tasten nach psychologischen Begründungen, aber ganz ohne Psychologie, denn Rita ist mit ihren siebzehn Jahren darauf angewiesen, einzelne Signale, Gesten, Blicke und Bewegungen zu beobachten und daraus auf etwas zu schließen, das sich ihr ins Ungewisse entzieht. Hella Eckert arbeitet mit dem kreativen Prinzip einer deutlichen Undeutlichkeit, die das ganze Buch wunderbar prägt. So gut Rita als Tochter eines intelligenten Lastwagenfahrers über Gabelstapler, Getreidesilos und Rostklopfmaschinen Bescheid weiß, so schwierig ist es für sie zu begreifen, warum der Vater unbedingt nach Marseille muß (er weiß es selbst nicht) und warum sie eines Nachts ihre Mutter nackt im Korridor findet. "Ich bin im Zustand von Keine-Ahnung", sagt ihr Vater, und das gilt noch mehr für seine Tochter. Sie kann nur sagen: "Ich glaube, daß . . .", "Es wirkte wie . . .", "Wir schwiegen von verschiedenen Dingen" oder "Die Ereignisse haben mit tausend Einzelheiten zu tun".

Das Bewußtsein anderer ist undeutlich, aber ihr eigenes hat seine bestimmte Empfindsamkeit, solange es um die greifbaren Dinge ihrer begrenzten Welt geht: "Unten im Hof rief jemand, und im Hafen hörte man die Laster, wie sie von einem Gang in den nächsten geschaltet wurden. . . . Geräusche und Stimmen trieben auseinander, verwirrten sich mit den Geräuschen und Stimmen der vergangenen Tage in der Küche, den Störungen im Radio, der Musik und dem Klingeln des Telefons . . ., und meine Mutter stand da und stellte die Milchflasche auf den Tisch." Das ist in der Rhythmik der Sätze ebenso suggestiv wie die sparsamen poetischen Bilder, Marilyn Monroes Stimme, ins Gehör "verhakt wie eine Klette", der heiße Sommer, der "wie ein Huhn" über dem stickigen Leben der Familie "hockt". Mit den epischen Knalleffekten gegen Schluß hat Hella Eckert weniger Glück. Ritas Vater, erfolglos und gedemütigt, setzt nach seiner Rückkehr den explodierenden Hanomag gegen das Speditionsgeschäft seines Konkurrenten und muß für zwei Tage ins Gefängnis. Er versöhnt uns so mit seinem träumerischen Egoismus, aber daß der Chef der Spedition (übrigens ein freundlicher und bescheidener Mann) durch einen auf dem Schiffsdeck schlitternden Container getötet wird, ist nur sinnbildlich gedacht und stellt sich gegen die zivile Alltäglichkeit der erzählten Geschichte.

Ritas Familie lebt in einer fühlbar ernsteren Welt als die Figuren in "Big John". Dort ging noch alles ein wenig ungeordneter, anarchischer, um nicht zu sagen freier zu. Die Vierzehnjährige war ganz zufrieden damit, daß sich ein älterer Mann um sie kümmerte, auch im Spiel mit "Tausch-" und "Suchküssen" im Bett, und sie war nicht wie die ein wenig ältere Rita dazu getrieben, die unklare Welt klar zu verstehen. Die Figuren in "Hanomag", soweit ich sie begreifen darf, haben mehr charaktervolle Wesentlichkeit, aber weniger Fleisch; der Vater schwach und liebenswert, die Mutter verwirrt, verzweifelt und gefühlsstark und Rita auf die Wahrheit erpicht, die sich ihr entzieht. In "Big John" rochen die Menschen noch - Rosalie nach dem Fett ihrer Imbißbude, Big John nach dem Rost seines Betts -, aber in "Hanomag" riechen nur mehr die Dinge, nach "Diesel und Staub und Teer".

Das Ganze zeigt einen feinen Zug ins Ordentliche, fast Gediegene, für das auch die schöne Episode mit Kashi, dem kranken Jungen, der immer von Rita gekämmt werden will, nicht ganz entschädigt; ich atme geradezu auf, wenn ich erfahre, daß Rita in dem Geschäft, in dem sie arbeitet, Blues-Platten stiehlt und unterm Hemd nach Hause trägt. Ich hege den Verdacht, daß sich die Erzählerin an den narrativen Grenzen ihrer Welt zu reiben beginnt, und besonders dort, wo sie die Teenager-Perspektive beiseite schiebt und Schlüsse über Leben, Liebe und Treue zieht, die ihre eigenen sind, nur als Worte Ritas maskiert: "Die Liebe ist immer da . . . Das könnte doch sein, finde ich, weil es sonst alles nicht Sinn macht, das Verlassen und das Sichwehtun und all diese Dinge."

Soll man diesmal der erfundenen Rita oder der wirklichen Autorin glauben? Das alles bezeugt mir die allmähliche Ungeduld einer ungewöhnlich begabten Erzählerin über die von ihr vorgegebenen und doppelt erprobten Begrenzungen ihrer epischen Welt und Darstellungsmethode. Sie sind von bestimmter Enge und deshalb von wirkungsvoller Überzeugungskraft, aber sie genügen ihr nicht mehr, und ich habe als Leser allen Grund, mich auf ihren dritten Roman zu freuen.

Hella Eckert: "Hanomag". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 1998. 190 S., geb., 29,80 DM.

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