Uwe Timm
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Von Liebe und Tod einer jungen Fliegerin - und von Stimmen aus der VergangenheitEine junge Fliegerin, Marga von Etzdorf, erschießt sich im Mai 1933 in Aleppo, Syrien, nach einer Bruchlandung. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Was hat sie hier, zwischen den Toten der preußischen Militärgeschichte, NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage, zu suchen? Gibt es eine Erklärung für ihren gewaltsamen Tod?Der Stadtführer, der Uwe Timms Erzähler über den Invalidenfriedhof geleitet, weist auf beunruhigende Nachbarschaften hin. Hier liegt nicht n...
Von Liebe und Tod einer jungen Fliegerin - und von Stimmen aus der Vergangenheit
Eine junge Fliegerin, Marga von Etzdorf, erschießt sich im Mai 1933 in Aleppo, Syrien, nach einer Bruchlandung. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Was hat sie hier, zwischen den Toten der preußischen Militärgeschichte, NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage, zu suchen? Gibt es eine Erklärung für ihren gewaltsamen Tod?
Der Stadtführer, der Uwe Timms Erzähler über den Invalidenfriedhof geleitet, weist auf beunruhigende Nachbarschaften hin. Hier liegt nicht nur Scharnhorst, der Held der Befreiungskriege, sondern auch Heydrich, der Organisator des Holocaust, neben namenlosen Opfern aus dem Mai '45. Die Toten beginnen zu reden, sich zu erklären, zu rechtfertigen. Unter den Stimmen, die zu dem Erzähler sprechen, ist auch die Marga von Etzdorfs.
Auf einem ihrer spektakulären Langstreckenflüge hatte sie in Japan den jungen Diplomaten undehemaligen Jagdflieger Christian von Dahlem kennengelernt und mit ihm eine ungewöhnliche Nacht verbracht - eine Nacht des Erzählens. Zusammen in einem Zimmer, aber getrennt durch einen Vorhang, waren die beiden sich fern und gewährten einander doch Nähe. In einem Augenblick innerer Preisgabe erzählen sie sich ihre Leben.
Dieses Oratorium des Schreckens und der Liebe, in dessen Mittelpunkt Marga und von Dahlem stehen - eine unbedingte Liebe und ein Verrat -, beschwört zugleich die Dämonen und Engel der Geschichte und erzählt von Haltungen und Sichtweisen, von denen die deutsche Geschichte geprägt und gezeichnet ist. Vielstimmig und vielschichtig, gedanken- und anspielungsreich, klug und bewegend begibt sich dieser Roman auf ein Terrain, wo sich die Gewalt der Geschichte, der Zufall und das individuelle Schicksal begegnen, einander bestätigen, aber auch widersprechen - für den, der zu hören vermag.
Eine junge Fliegerin, Marga von Etzdorf, erschießt sich im Mai 1933 in Aleppo, Syrien, nach einer Bruchlandung. Sie ist 25 Jahre alt. Ihr Grab liegt auf dem Berliner Invalidenfriedhof. Was hat sie hier, zwischen den Toten der preußischen Militärgeschichte, NS-Größen und zivilen Opfern der letzten Kriegstage, zu suchen? Gibt es eine Erklärung für ihren gewaltsamen Tod?
Der Stadtführer, der Uwe Timms Erzähler über den Invalidenfriedhof geleitet, weist auf beunruhigende Nachbarschaften hin. Hier liegt nicht nur Scharnhorst, der Held der Befreiungskriege, sondern auch Heydrich, der Organisator des Holocaust, neben namenlosen Opfern aus dem Mai '45. Die Toten beginnen zu reden, sich zu erklären, zu rechtfertigen. Unter den Stimmen, die zu dem Erzähler sprechen, ist auch die Marga von Etzdorfs.
Auf einem ihrer spektakulären Langstreckenflüge hatte sie in Japan den jungen Diplomaten undehemaligen Jagdflieger Christian von Dahlem kennengelernt und mit ihm eine ungewöhnliche Nacht verbracht - eine Nacht des Erzählens. Zusammen in einem Zimmer, aber getrennt durch einen Vorhang, waren die beiden sich fern und gewährten einander doch Nähe. In einem Augenblick innerer Preisgabe erzählen sie sich ihre Leben.
Dieses Oratorium des Schreckens und der Liebe, in dessen Mittelpunkt Marga und von Dahlem stehen - eine unbedingte Liebe und ein Verrat -, beschwört zugleich die Dämonen und Engel der Geschichte und erzählt von Haltungen und Sichtweisen, von denen die deutsche Geschichte geprägt und gezeichnet ist. Vielstimmig und vielschichtig, gedanken- und anspielungsreich, klug und bewegend begibt sich dieser Roman auf ein Terrain, wo sich die Gewalt der Geschichte, der Zufall und das individuelle Schicksal begegnen, einander bestätigen, aber auch widersprechen - für den, der zu hören vermag.
Uwe Timm, geboren 1940 in Hamburg, lebt in München und Berlin. Sein Werk erscheint seit 1984 bei Kiepenheuer & Witsch in Köln, u.¿a.: 'Heißer Sommer' (1974), 'Morenga' (1978), 'Der Schlangenbaum' (1986), 'Kopfjäger' (1991), 'Die Entdeckung der Currywurst' (1993), 'Rot' (2001), 'Am Beispiel meines Bruders' (2003), 'Der Freund und der Fremde' (2005), 'Halbschatten' (2008), 'Vogelweide' (2013), 'Ikarien' (2017), 'Der Verrückte in den Dünen' (2020).

© Michael Döschner-Apostolidis
Produktdetails
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- Artikelnr. des Verlages: 4000864
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 272
- Erscheinungstermin: 12. August 2008
- Deutsch
- Abmessung: 213mm x 134mm x 30mm
- Gewicht: 392g
- ISBN-13: 9783462040432
- ISBN-10: 346204043X
- Artikelnr.: 23844203
Herstellerkennzeichnung
Kiepenheuer & Witsch GmbH
Bahnhofsvorplatz 1
50667 Köln
produktsicherheit@kiwi-verlag.de
Seufzen und Sausen
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum
In seinem bewundernswert kunstvollen Roman über die Fliegerin Marga von Etzdorf hebt Uwe Timm den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums.
Etwa in der Mitte seines Romans "Halbschatten" lässt Uwe Timm die Fliegerin Marga von Etzdorf davon erzählen, wie sie 1930 bei einem Spaziergang in der nordafrikanischen Wüste von zwei spanischen Offizieren gebeten worden sei, ein deutsches Gedicht aufzusagen. "Und als ich fragte, von welchem deutschen Dichter, antworteten beide wie aus einem Munde: Heine." Aus dem Gedicht "Abenddämmerung" aus dem "Buch der Lieder" zitiert der Roman die letzten zehn Verse, deren erste drei lauten: "Wenn wir am Sommerabend, / Auf den Treppensteinen der Haustür, / Zum
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stillen Erzählen niederkauerten".
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Im zitierten Teil des Gedichts bleibt implizit, was vorher ausgesprochen worden ist: dass das Ich des Gedichts ein männliches ist. Der Dichter erzählt, was er "einst, als Knabe, / Von Nachbarskindern vernahm": Sagen und Märchen. Die Wahl dieses Gedichts sagt etwas über die Frau aus, die es rezitiert, und über den Roman, in dem es zitiert wird. Bei Marga von Etzdorf, die in der Luft singt und sich Gedichte von Heine und Eichendorff aufsagt, sind es Erzählungen aus der Kindheit, die, ihren Erzählungen zufolge, ihr den Berufswunsch der Fliegerin eingegeben haben.
Auf dem Landgut der Großeltern tauchte eines Tages ein Amerikaner auf, der ihr als Erster vom Fliegen erzählte. Er war im Krieg zum Piloten ausgebildet worden, aber nicht mehr zum Einsatz gekommen. Noch bevor aber die Rede auf diese Himmelsabenteuer des Gastes kam, hatte er die fünfzehnjährige Marga und ihre Schwester schon fasziniert allein durch die Art, wie er sich bewegte. Timms Roman ist ein Gewebe aus Erzählungen. Alles, was der Roman erzählt, wird schon als Erzähltes wiedergegeben, in der Regel durch eine Kette von Erzählerfiguren vermittelt. Aber jeder Erzählung ging ein sinnliches Erlebnis voraus, das kein Erzähler vorweggenommen hatte, ein unvermittelt eintretendes Ereignis. Wie der junge Amerikaner dastand in der Halle des Gutshauses, "ein wenig den Kopf zur Seite geneigt, eine Hand in der Hosentasche", war er "tatsächlich eine Erscheinung wie aus einer anderen Welt". Er hatte den Auftritt einer sagenhaften Gestalt. Deshalb konnte sich an den unangemeldeten Besucher im Gedächtnis der Schwestern eine legendäre Überlieferung knüpfen.
Als Marga von Etzdorf 1931 nach ihrem Rekordflug japanischen Boden betrat, erwartete sie ein Wiedergänger des Kindheitshelden, der Diplomat Christian von Dahlem, der tatsächlich an Luftschlachten teilgenommen hatte. In Timms historischem Roman, der stellenweise einen dokumentarischen Anspruch erheben kann, ist Dahlem die auffälligste erfundene Figur: eine mythische Gestalt, ein moderner, problematischer Halbgott, die Verkörperung der Bestimmung im Leben der Marga von Etzdorf, als die sie die Fliegerei erkannte. Zum Unterpfand der Verbindung, welche die Etzdorf und Dahlem in der ersten Nacht in Japan eingehen, als sie einander, von einer Stoffwand getrennt, ihre Lebensgeschichten erzählen, wird ein Zigarettenetui. Es hatte Dahlem bei einem Luftkampf das Leben gerettet. Vollendet wird das Bild der unpreußischen Lässigkeit, das der Amerikaner abgegeben hatte, durch die Zigarette.
Dahlem hat das im Krieg erlernte Fliegen nicht zum Beruf gemacht. So hätte eine Liebesbeziehung zur Voraussetzung, dass er die Vertauschung der Geschlechterrollen akzeptieren müsste. Marga von Etzdorf erzählt, indem sie unter dem Sternenhimmel der Wüste Heines "Abenddämmerung" aufsagt, alles über sich: Seit jeher sah sie sich in ihren Sagen und Märchen als Knabe.
In den im Roman nicht zitierten Versen des Gedichts wird das Wellenrauschen am Strand beschworen, das dem Dichter die Erzählungen der Sommerabende ins Gedächtnis ruft: "Ein seltsam Geräusch, ein Flüstern und Pfeifen, / Ein Lachen und Murmeln, Seufzen und Sausen, / Dazwischen ein wiegenliedheimliches Singen". Diese Verse verweisen auf die Poetik des Romans, dessen Form der Autor mit einer musikalischen Gattung verglichen hat: dem Oratorium. Die Stimme Marga von Etzdorfs, die sich am 28. Mai 1933 nach der Landung in Aleppo erschossen hat und auf dem Berliner Invalidenfriedhof begraben wurde, wechselt sich ab mit den Stimmen anderer historischer Persönlichkeiten, deren Gräber sich auf demselben Friedhof finden beziehungsweise, wie im Fall von Reinhard Heydrich, gerade nicht mehr finden.
Da das seltsame Geräusch, das dem Ich-Erzähler in die Ohren steigt, als er unter dem Geleit eines Fremdenführers über den Friedhof wandert, nicht aus dem Wasser kommt, sondern aus der Erde, einer Erde, in die Massenmörder mit größtem Pomp und Zufallsopfer des Endkampfs um Berlin ohne Zeremoniell versenkt worden sind, mischen sich ins Murmeln, Seufzen und Sausen unheimlichere Töne, ein Röcheln und Gurgeln, ist das Lachen ein Scheppern und Meckern. Die Rezitation der Rezitation der "Abenddämmerung" ruft in der Totenstadt das Gezeter eines Nachbarn hervor: "Was ist das für ein Gejüdel. Is doch von Heine, gell?" Unfriedlich liegen Helden, Versager und Verbrecher beieinander, an letzte Ruhe ist nicht zu denken.
Uwe Timm hat eine Welt erhebender und abschreckender Erzählungen ausgegraben, den Sagenschatz des preußisch-deutschen Altertums. Wie über diese Lebensform zu richten ist, die uns ferner gerückt ist als je eine mythische Vorzeit, das gibt die überaus kunstvolle, dabei bewundernswert ökonomische und insofern urpreußische Machart der Stimmencollage nicht vor. Können wir dem kurzen Leben der Langstreckenfliegerin mit dem gewaltsamen Ende im Jahre des Unheils eine Bedeutung in der Erzählung unserer Nationalgeschichte zuweisen?
Der spanische Hauptmann, der Heine zu hören wünschte, hatte Marga von Etzdorf ein Gedicht von Federico García Lorca mit dem Titel "Memento" vorgetragen. "Ich hörte die Sprache, die Melodie, ohne zu verstehen, und doch verstand ich. Ein Gedicht, in dem der Tod aufgehoben war, aufgehoben im Klang." Die zweite Strophe lautet: "Wenn ich dereinst sterbe / zwischen den Orangen / und den guten Minzen." Die Fliegerin hatte den Soldaten Orangen mitgebracht. Die dritte Strophe: "Wenn ich dereinst sterbe, / dann begrabt mich, wenn ihr wollt, / in einer Wetterfahne."
Marga von Etzdorf verursacht in Aleppo eine Bruchlandung, weil sie mit dem Wind statt gegen den Wind landet. Der französische Kommandant des Flughafens versucht sie zu trösten. "Er zeigt auf den Windsack, um deutlich zu machen, der Windsack war sichtbar und vorschriftsmäßig angebracht." So subtil und diskret ist dieser bewegende Roman gearbeitet.
PATRICK BAHNERS
Uwe Timm: "Halbschatten". Roman. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008. 270 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Laut Paul Jandl sei Uwe Timm mit seinem Roman "Halbschatten" viele Wagnisse eingegangen, die am Ende nicht aufgehen. Es geht um Begegnungen eines allwissenden Erzählers mit Toten des Berliner Invalidenfriedhofs. Der ästhetische Anspruch Timms, die Geister der Zeit 1933 bis 1945 heraufzubeschwören und selbst den widerlichsten Nazigrößen eine eigene Stimme zu verleihen, scheitert für Jandl an der Diffusität der Stimmen und der Verbindungslosigkeit der Geschichten. Was fehlt, ist Timms "eigener Ton" zwischen den etwas überwältigenden Bruchstücken. Da wundert es nicht, dass für Jandl die "leichtfüßig geschriebene Hommage" an die deutsche Fliegerin Marga von Etzdorf zum dominanteren Erzählstrang wird und diese Romanze die restlichen Erzählungen in den Schatten stellt. Die Geschichte um Etzdorf sei zwar fiktionalisiert, gibt aber einen Eindruck von Timms "genauem Blick". Konfrontationen mit deutscher Vergangenheit sähen trotzdem anders aus.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Uwe Timm inszeniert technisch virtuos einen gezielten Zusammenprall von Geisteshaltungen.« Christoph Schröder taz
"Auf ihrem Grabstein ist zu lesen 'Der Flug ist das Leben wert' - und dieses lehrreiche Hörbuch ist auf jeden Fall das Anhören wert!"
Klar und präzise und mit viel Gespühr erzählt Uwe Timm die Geschichte einer beeindruckenden Frau. Das Buch ging mir sehr unter die Haut und hat mich noch lange beschäftigt.
Antworten 4 von 6 finden diese Rezension hilfreich
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Auf einem Kriegsfriedhof liegt zwischen Obersten, Generälen und Soldaten eine einzige Frau. Marga von Etzdorf, eine junge Frau, die sich mit nur 25 Jahren erschießt. Sie war mit eine der ersten Frauen, die sich in einen Flieger gesetzt haben, um neue Kontinente zu erobern. In den …
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Auf einem Kriegsfriedhof liegt zwischen Obersten, Generälen und Soldaten eine einzige Frau. Marga von Etzdorf, eine junge Frau, die sich mit nur 25 Jahren erschießt. Sie war mit eine der ersten Frauen, die sich in einen Flieger gesetzt haben, um neue Kontinente zu erobern. In den späten 20ern bzw. frühen 30er Jahren noch eine Sensation für die Menschen. Marga hatte als erste Frau den Flug nach Japan gewagt und geschafft und sie lernt in Japan einen Mann kennen, in den sie sich verliebt. Jedoch stößt die Liebe nicht auf Gegenliebe und auch sonst steht sie nicht auf der Sonnenseite des Lebens. Ihre spektakulären Flüge werden immer wieder durch Bruchlandungen in die Ecke verdrängt und als am Ende ihr keiner mehr Geld für weitere Flüge geben möchte, nimmt sie ein Flugangebot an, welches sich im Nachhinein als Spionageflug herausstellt. Uwe Timm beschreibt mit klaren Worten das Leben der Fliegerin. Er läßt die Geschichte durch die Stimmen der Kriegsteilnehmer auf dem Friedhof erzählen. Aber nicht nur diese Geschichte kommt dabei zum Vorschein, sondern auch noch viele andere erschreckende Taten und Geschichten.
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Broschiertes Buch
Der Flug ist das Leben wert
Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly …
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Der Flug ist das Leben wert
Uwe Timm hat mit seinem Roman «Halbschatten» einer illustren Figur aus der Frühgeschichte der Fliegerei ein Denkmal gesetzt, der jungen Pilotin Marga von Etzdorf. Sie gehörte zu den wenigen berühmten Fliegerinnen wie Hanna Reitsch oder Elly Beinhorn, die sich in der Weimarer Republik als Kunstfliegerinnen und mit diversen Flug-Rekorden einen Namen gemacht hatten. Das kurze Leben der ehrgeizigen Marga von Etzdorf endete, als sie sich mit fünfundzwanzig Jahren nach einer Bruchlandung in Aleppo im Mai 1933 das Leben genommen hat.
Wie der Autor in einer Nachschrift erklärt, hat er sich bei der Geschichte seiner Protagonistin auf deren Buch «Kiek in die Welt» gestützt, in dem sie von ihrem Leben erzählt. Den gleichen Namen trug auch ihr knallgelb lackiertes Flugzeug, eine Junkers A50, mit dem sie 1931 zu ihrem erfolgreichen Rekordflug Berlin-Tokio gestartet ist. Auf dem Rückflug setzte nach dem Start in Bangkok der Motor aus, sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab und wurde schwer verletzt, ihre Junkers hatte Totalschaden. Nach ihrer Genesung plante sie mit einer Klemm Kl32 einen erneuten Rekordflug Berlin Kapstadt, wobei sie finanzielle Unterstützung von den Nazis erhielt. Als Gegenleistung musste sie nicht nur eine Maschinenpistole mitnehmen, um ein Exportgeschäft vorzubereiten, sie sollte auch mit einer speziellen Kamera für die deutsche Auslands-Spionage Fotos von strategischen Zielen anfertigen. Dazu kam es aber nicht, denn ihr Flugzeug wurde bei der Landung in Aleppo beschädigt, weil sie versehentlich mit dem Wind gelandet war und über die Piste hinausgeschossen ist. Zwanzig Minuten später erschoss sie sich im Flughafen-Gebäude.
Diese Kernhandlung ist in eine zweite Erzählebene eingebettet, in der berichtet wird, wie ein Schriftsteller auf den Spuren seiner Romanheldin in Berlin den Invaliden-Friedhof besucht. Dort trifft sich der Ich-Erzähler mit einem Stadtführer, der ihm in einer Führung ‹nur für ihn allein› ans Grabmal von Marga von Elzdorf führt. «An diesem Ort» sagt der ‹Graue‹›, wie er fortan im Roman nur noch heißt, «liegt die deutsche, liegt die preußische Geschichte begraben. Jedenfalls die militärische. Scharnhorst liegt hier und andere Generäle, Admiräle, Obristen, Majore, bekannte Jagdflieger, damals die Helden der Luft, Richthofen, Udet, Mölders, und unter all diesen Männern, diesen Militärs, liegt eine Frau». Aber dort liegt eben auch Reinhard Heydrich, den Göring mit der Endlösung der Judenfrage betraut hatte, Leiter der berüchtigten Wannseekonferenz. Und diese Toten mischen sich munter in das Gespräch ein, beginnen aus den Gräbern heraus zu reden. Unter ihnen auch der Diplomat Christian von Dahlem, ein ehemaliger Kampfflieger, der Marga in Tokyo begrüßte und mit dem dort gerade gastierenden Schauspieler Anton Miller bekannt machte. Der hat dann Marga heftig, aber erfolglos umworben. Bei einem ihrer Flüge in Japan musste sie sich notgedrungen ein Privat-Zimmer mit von Dahlem teilen. Eine ganze Nacht lang haben sie sich dann, getrennt durch einen aufgespannten Vorhang, in ungewöhnlicher Freimütigkeit wechselseitig ihre jeweils spektakuläre Lebens-Geschichte erzählt.
Die etwa zwei Stunden dauernde Friedhofs-Geschichte beschwört die Schatten der Vergangenheit in einem vielstimmigen Chor herauf, angereichert mit meist kurzen, durch Anekdoten, Redensarten und Gedankensplitter ergänzte, historische Rückblicke. Abwechselnd berichtet in der Kerngeschichte um die kühne Pilotin diese selbst als Ich-Erzählerin aus ihrem Leben. Mit seiner fragmentarischen Form löst der nicht einfach zu lesende Text viele Assoziationen aus, wobei das die Toten einbeziehende Stimmengewirr nicht nur eine mystische Stimmung erzeugt, sondern auch permanent zum Weiterdenken anregt. Und so bleibt denn auch das Motiv für den Suizid ungeklärt: Scham über das fliegerische Versagen, politische Skrupel, unerwiderte Liebe? «Der Flug ist das Leben wert», steht vieldeutig auf Margas heute noch erhaltenem Grabstein!
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