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Mittsommernacht 1974: Kerstin Ekmans atemberaubender Roman, eine Mischung aus Thriller und tiefgründigem Psychogramm, wurde über Nacht zum weltweiten Bestsellererfolg und verhalf der Autorin zum internationalem Durchbruch.

Produktbeschreibung
Mittsommernacht 1974: Kerstin Ekmans atemberaubender Roman, eine Mischung aus Thriller und tiefgründigem Psychogramm, wurde über Nacht zum weltweiten Bestsellererfolg und verhalf der Autorin zum internationalem Durchbruch.
Autorenporträt
Kerstin Ekman, geboren 1933, gilt als die wichtigste skandinavische Gegenwartsautorin. Ihr umfangreiches literarisches Werk ist preisgekrönt, wurde vielfach verfilmt und in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Wer rennt, gewinnt
Kerstin Ekman beschwört den Norden / Von Andreas Platthaus

Eine der populärsten Sportarten in Skandinavien ist der Orientierungslauf. Die Teilnehmer erhalten vor dem Start eine Karte und begeben sich dann auf ein etwa acht Kilometer langes Rennen durch unbekanntes Terrain. Wie in jeder Laufdisziplin gewinnt der Schnellste, doch ist hier neben physischer Fitneß auch geistige Anstrengung gefragt, um die Kartenangaben richtig zu verstehen. Nur wer nicht in die Irre läuft, hat Aussichten auf Erfolg.

Die Parallelen zur literarischen Gattung des Kriminalromans sind offensichtlich. Und wie jede kriminalistische Ermittlung zieht auch der Orientierungslauf Folgeschäden nach sich: Durch die ortsunkundigen Sportlermassen wird das Leben in Wald und Flur ebenso gestört wie das Wohlbefinden Unschuldiger, die sich den Nachforschungen von Polizei und Detektiven ausgesetzt sehen. In Film und Literatur ist das Leid des zu Unrecht Verdächtigten längst zum Topos geworden, der zwar nicht mehr zu überraschen, aber immer noch zu fesseln versteht. Das Leben dieses Ermittlungsopfers ist nach der verbrecherischen Tat nicht mehr wie zuvor.

Viel seltener dagegen widmet sich die Kriminalliteratur den eigentlichen Opfern eines Verbrechens oder ihren Angehörigen. Trauernde Ehepartner, Freunde oder sonstige Angehörige taugen gerade einmal zur Staffage, um die Handlung in Gang zu bringen oder einen Hauch von human touch einfließen zu lassen. Und noch seltener befaßt sich die Kriminalerzählung mit den Zeugen einer Untat, mit ihren Nöten und Belastungen. Bestenfalls sind sie als unerwünschte Beobachter potentielle neue Opfer des Täters.

Kerstin Ekman hat mit ihrem Roman "Geschehnisse am Wasser" unsere Aufmerksamkeit auf eine solche Zeugin gerichtet. Annie Raft beobachtet in der Mittsommernacht 1973 einen jungen Mann im nordschwedischen Wald. Wenig später entdeckt sie am nahen Fluß die Leichen eines bestialisch ermordeten jungen Paares. Die Ermittlungen kommen rasch voran und richten sich - wie wir das gewohnt sind - zunächst nur gegen Unschuldige.

Es macht jedoch die Virtuosität des vor zwei Jahren erschienenen Erfolgsbuchs der schwedischen Autorin aus, daß die Aufklärung des Mordes in den Hintergrund tritt, ohne daß die Protagonisten je den bedrohlichen Schatten des Verbrechens abschütteln könnten. Die Mittsommernacht sollte eigentlich den Beginn eines neuen Lebens für die ehemalige Lehrerin Annie markieren. Mit ihrer sechsjährigen Tochter Mia wollte sie sich der linksökologischen Kommune Stjärnberg ("Sternberg") in den Bergen Jämtlands anschließen. Nun aber nimmt alles eine ungewollte Kehre: Der Schrecken des Mordes, die Angst vor dem Täter in ihrer unmittelbaren Umgebung und eine ungeplante Schwangerschaft lassen Annies Leben stillstehen. Erst als sie die Kommune verläßt, kommt alles wieder in Bewegung.

Doch auch für die anderen beiden Hauptfiguren des Romans, den sechzehnjährigen Johan Brandberg und den Mittvierziger Birger Torbjörnsson, bezeichnet der Mittsommer 1973 einen biographischen Bruch. "Nichts war nach diesem Moment je wieder das, was es vorher gewesen war", erinnert sich Birger achtzehn Jahre später. Auch er beobachtete Details, die für die Aufklärung des Verbrechens bedeutsam werden sollten, doch in der Unruhe nach dem Mord verließ ihn auch seine Ehefrau. Den Frieden seiner vormaligen Existenz verlor er ebenso wie Annie oder Johan, der aus Angst vor seiner Familie in dieser Nacht nach Norwegen ausriß und damit unter Mordverdacht geriet.

Lediglich für das Holzfäller- und Bauerndorf Svartvattnet ("Schwarzwasser") erweist sich die Untat als Segen. Von wohligem Schauer getrieben, strömen die Touristen: "Eine Gesellschaft, die ihre Lebenskraft aus tödlicher Gewalt saugt, muß ja einem Dorf und dessen Rätsel - dafür, daß es ungelöst ist - huldigen. Dort ist die Kraft ungebunden vorhanden." Diese Erkenntnis Annies verschließt ihr achtzehn Jahre lang den Mund und den Rückweg in die Erinnerung. Erst als sie den vermeintlichen Täter in den Armen ihrer nun erwachsenen Tochter wiederfindet, begibt sie sich 1991 auf diesen gefährlichen Pfad.

Unkenntnis der Topographie birgt in Ekmans Roman die eigentliche Gefahr. "Es war seine Gewohnheit, direkt draufloszustiefeln, mitten ins Unglück", heißt es über Birger. Das ermordete Paar hatte eine Karte nicht lesen können und war deshalb nachts am Fluß geblieben. Hätte Annie den Weg nach Stjärnberg gekannt, wäre sie nicht im Wald herumgeirrt und hätte weder den Mord noch den Verdächtigen entdeckt. Als Lehrerin begeistert sie ihre Schüler mit der antiken Mnemotechnik, die zur Gedächtnisstütze einen imaginären Palast konstruiert, wo sich in bestimmten Zimmern bestimmte Erinnerungen auffinden lassen. Ihr selbst aber werden der Wald, die Berge und die Flüsse um Svartvattnet zum Gebäude ihrer Erinnerungen an die Mordnacht. Keiner der Beteiligten wird etwas davon vergessen, dafür sorgen schon die Polizeiverhöre: "Sie zwangen, das, was abgelaufen war, zu einem Muster zusammenzubinden. Aber es war ein falsches Muster." Alle erhalten dadurch für ihren Orientierungslauf eine falsche Karte. Alle kommen in Gefahr.

Dagegen werden Annie, Birger und Johan anhand der Topographie um den Tatort später das Muster ihrer Erinnerungen korrigieren. Diese Bedeutung der Landschaft für die Handlung des Romans spiegelt sich in einer Vielzahl von exakten und eindrucksvollen Naturschilderungen wider. Birken- und Nadelgehölze, Hag und Heide, Moor, Modder und Morast von Jämtland erstrecken sich vor dem Leser, Sommerhitze und Winterkälte werden in diesem Buch spürbar, kurz: Kerstin Ekman entfaltet ein furioses Panorama des schwedischen Nordens. Und doch ist der einzelne Ort - die Furt am Fluß, die Lichtung, der Wald - nie ganz für sich; er ist immer auch Chiffre für die Geschehnisse, die sich dort abspielten, denn sie haben den jeweiligen Platz überhaupt erst auf die innere Landkarte der Handelnden gesetzt. Das Land um Svartvattnet wird für sie zu einem "Netz aus Pfaden, Gangadern, Gedächtnisgefäßen", zur wahren Karte auf dem Weg der Erinnerung.

Es sind aber nicht nur die grandiosen Naturbeschreibungen Skandinaviens, die wir noch monumentaler, aber genauso intensiv auch aus Hans-Henny Jahnns "Fluß ohne Ufer" kennen, die aus den "Geschehnissen am Wasser" einen Strudel entstehen lassen, der den Leser mitreißt und nicht mehr freigibt. Hervorragend gelungen sind auch die Charaktere, die uns das Leben unter Aussteigern mit all seiner Ambivalenz genauso nahebringen wie den Konflikt zwischen Schweden und Lappen und das bemitleidenswerte Schicksal eines verachteten Landarztes oder Muttersöhnchens in rauhbeiniger Familie. Erzählt wird all dies mit einer Sprachgewalt, die begreifen läßt, warum man in Kerstin Ekman neben Sven Herman Delblanc oder Per Olov Enquist die Wegbereiterin der Wiederkehr des Epischen in der schwedischen Literatur sieht. Angesichts dieser Begabung läßt sich verschmerzen, daß die ansonsten sehr gewandte Übersetzerin Hedwig M. Binder nicht weiß, wie man die Imbißkette McDonald's schreibt, und der Text auch im übrigen recht schlampig redigiert worden ist. Selbst die leicht bemühte Erotik der Autorin ist da schnell verziehen.

Ekman führt uns in ihrem Buch, das - nun sei es zugegeben - mehr ein Bildungsroman denn eine Kriminalerzählung ist, an die Abgründe der Zivilisation, wo die Urformen des Lebens vorscheinen. Die Mutterliebe mit ihren positiven wie bedenklichen Folgen ist das eigentliche Thema - und dabei eben nicht zuletzt die Rolle von Mutter Natur. Daß dann keine platte Naturmystik propagiert wird, sondern Wasser und Wälder als Nährboden eines menschlichen Dramas in Dienst gestellt werden, macht die besondere Qualität des Buchs aus. Wenn der Wald abgeholzt wird, stirbt auch das dort Geschehene. Gerade Annie, die sich eins mit der Natur fühlt, die die Umgebung Svartvattnets genau kennengelernt hat und also weiß, daß sich seit 1973 alles verändert hat, stellt sich somit auf ihrem Weg der Erinnerung einem Orientierungslauf in unbekanntes Gebiet. In Ekmans Roman kann dabei keiner gewinnen.

Kerstin Ekman: "Geschehnisse am Wasser". Roman. Neuer Malik Verlag, Kiel 1995. Aus dem Schwedischen übersetzt von Hedwig M. Binder. 543 Seiten, geb., 48,- DM.

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