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Zerstört, geteilt, geeint, zwischen Taumel und Triumph: Die Geschichte Europas wie Timothy Garton Ash sie erlebt hat.
Timothy Garton Ash ist leidenschaftlicher Europäer. Schon vor 1989 wollte er sich nicht mit der Teilung des Kontinents abfinden, bis zuletzt kämpfte er gegen den Brexit. Nun schreibt er seine ganz persönliche Geschichte Europas, die 1945 mit der Stationierung seines Vaters als Besatzungssoldat in Deutschland beginnt. Er erzählt von Freunden wie Václav Havel, erinnert sich an den Mauerfall, berichtet vom Jugoslawienkrieg, der Eurokrise und dem Flüchtlingsdrama und liefert…mehr

Produktbeschreibung
Zerstört, geteilt, geeint, zwischen Taumel und Triumph: Die Geschichte Europas wie Timothy Garton Ash sie erlebt hat.

Timothy Garton Ash ist leidenschaftlicher Europäer. Schon vor 1989 wollte er sich nicht mit der Teilung des Kontinents abfinden, bis zuletzt kämpfte er gegen den Brexit. Nun schreibt er seine ganz persönliche Geschichte Europas, die 1945 mit der Stationierung seines Vaters als Besatzungssoldat in Deutschland beginnt. Er erzählt von Freunden wie Václav Havel, erinnert sich an den Mauerfall, berichtet vom Jugoslawienkrieg, der Eurokrise und dem Flüchtlingsdrama und liefert eine scharfe, eindringliche Analyse der neuesten europäischen Geschichte. Der Angriff auf die Ukraine zeigt, wie dringend wir einen freien und geeinten Kontinent brauchen - niemand verkörpert diese Idee überzeugender als Timothy Garton Ash.
Autorenporträt
Timothy Garton Ash, 1955 geboren, ist Professor für Europäische Studien an der Universität Oxford und Senior Fellow an der Hoover Institution der Stanford University, daneben schreibt er regelmäßig für wichtige internationale Zeitungen und Zeitschriften. Er lebt in Oxford. Bei Hanser sind zuletzt erschienen: Redefreiheit. Prinzipien für eine vernetzte Welt (2016), Ein Jahrhundert wird abgewählt. Europa im Umbruch 1980-1990 (erw. Neuausgabe 1989/2019) sowie Europa.Eine persönliche Geschichte (ET: 17.04.23).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

"My Homelands" heißt Timothy Garton Ashs Buch im Original, ein Titel der vieldeutiger und inspirierender ist als im Deutschen. Ja, Ash ist in ganz Europa heimisch geworden, hat überall Kontakte gepflegt und spricht perfekt mehrere Sprachen, notiert Rezensent Martin Schulze Wessel, der selbst ein ausgewiesener Osteuropahistoriker ist. Bewundernd begleitet er Ash auf seinen immer aus persönlichen Erinnerungen gespeisten Streifzügen durch die europäische Geschichte und Gegenwart und verweist besonders auf ein Kapitel, in dem Ash erzählt, wie er noch zu Mauerzeiten einmal unangemeldet bei Vaclav Havel reinplatzte. Ash hat laut Schulze Wessel auch einen klaren Blick auf die politischen Problematiken seiner "Heimatländer", die Russophilie in Deutschland, die Abkehr von der liberalen Demokratie in Polen, den Brexit zuhause: Schulze Wessel bewundert auch, dass Ash es versteht, diese Probleme als Herausforderungen und nicht unbedingt als Zeichen für Schlimmeres zu beschreiben.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Wie schön es war
Wie konnte so ein Glück wie die Freiheit Europas so in die Krise geraten? Timothy Garton Ash
gibt in einem mitreißend persönlichen Buch einige unbehagliche Antworten
VON GUSTAV SEIBT
r war 1980 bei den Streiks auf der Danziger Lenin-Werft, aus denen die Gewerkschaft „Solidarność“ hervorging. 1989 war er in Berlin und Prag. In den Neunzigerjahren begab er sich an die Kriegsschauplätze in Jugoslawien. 2004 war er beim ersten Maidan in Kiew. Als Journalist besuchte er den noch sowjetischen Kreml vor der Gorbatschow-Zeit. 1994 lernte er in Sankt Petersburg dann einen „kleinen untersetzten Mann mit einem unangenehmen etwas rattenähnlichen Gesicht“ kennen, der empört von Gebieten außerhalb der Russischen Föderation redete, „die historisch immer zu Russland gehörten“: Putin.
1990 war er Teil der Historiker-Runde in Chequers, die Margaret Thatcher von der Ungefährlichkeit eines wiedervereinigten Deutschland überzeugen sollte. 2000 coachte er George W. Bush vor dessen erster Europa-Reise. Er interviewte Helmut Kohl und moderierte Michail Gorbatschow. Bronislaw Geremek und Václav Havel, die Staatsmänner der friedlichen Revolution in Warschau und Prag, waren ebenso seine Freunde wie deutsche Bürgerrechtler im Pankower Pfarrhaus. Viktor Orbán war sein Student in Oxford und schreibt ihm heute Rechtfertigungsbriefe.
Kein Zweifel, Timothy Garton Ash ist eine Art Supereuropäer, ein Glückskind, das immer zur rechten Zeit am richtigen Ort war, um Notizen zu machen, Gespräche zu führen und anfeuernde Berichte zu schreiben. Doch vor dem Glück stand das Verdienst: Der junge, 1955 geborene Brite begann früh zu reisen und vor allem Fremdsprachen zu lernen, nicht nur Französisch und Deutsch, sondern auch Polnisch und Tschechisch. Er studierte jenseits des Eisernen Vorhangs, eine Zeit lang sogar in Ost-Berlin. So wurde Garton Ash zu einem der wichtigsten Vermittler zwischen den seit 1990 zusammenwachsenden Teilen Europas, aber auch zwischen England und dem Kontinent. Das machte ihn zum Gesprächspartner einer ganzen Generation von Staatsmännern, zu einem weltweit gehörten Publizisten und Hochschullehrer.
Daraus hat er nun ein mitreißendes und anregendes Buch über Europa gemacht, mit dem Untertitel „Eine persönliche Geschichte“. Es schwebt zwischen den Genres der staatsmännischen Memoirenliteratur und Geschichtsschreibung. Garton Ash kann auf lebenslang geführte Notizbücher zurückgreifen, zugleich gibt es im Netz Bibliografie und Zitatennachweise. Nicht im Duktus, aber in der Erzählform erinnert das ein wenig an Winston Churchills Zeitgeschichtsbücher. Nur, wo Churchill cäsarisch orgelt, da zeigt Garton Ash das einladende Gesicht des zuhörenden Reporters. Beides liest man mit Vergnügen, beides hat Teil an der Kaminfeuerbehaglichkeit des Erzählens.
Doch die Geschichte, die Garton Ash erzählt, ist dann doch nicht behaglich. Denn sie beginnt mit Hoffnung, Aufbruch und Sieg und endet in Niederlagen und Zweifel. Sie beschreibt den Weg einer europäischen Nachkriegsgeneration, die noch im Schatten des Zweiten Weltkriegs aufwuchs, die nach unvorstellbaren Gräueln und nachfolgender Erstarrung im Kalten Krieg den Wiedergewinn bürgerlicher Freiheiten im ganzen, nach Osten offenen europäischen Raum erlebte, um heute in einer Serie von Krisen und Rückschlägen all das infrage gestellt zu sehen. Und zwar überall, nicht nur im Osten, wo wieder autoritäre Regime gedeihen und ein regelloser, blutiger Krieg geführt wird.
Garton Ash macht diese enorme Kurve zunächst einmal fühlbar, das ist das wichtigste Verdienst seines Buches. Jüngere Leser, die erst nach dem 11. September 2001 in die immer düsterer werdende politische Gegenwart hineinwuchsen, sollten sich das unbedingt vor Augen führen. Wie schön es war, all das zu erleben: das Ende der Diktaturen am Mittelmeer, den gewaltfreien Sturz der kommunistischen Regime, die zunehmende europäische Integration. Das Ende der Angst. Wie leicht wurde das Reisen! Früher fuhr man mit Taschen voller fremder Währungen in den Rucksäcken los, wechselte von Bahn zu Bus zu Schiff, um irgendwo sein Schulfranzösisch anzubringen oder im Polnisch-Kurs zu üben. An den Grenzen wurde man aufgeweckt und gefilzt.
Auf einmal hatte man zwei Staatsbürgerschaften, national und europäisch, eine Währung, überall Rechte. Die blutige Vergangenheit war zum Gegenstand nachdenklichen Erinnerns geworden, zum Ansporn, es besser zu machen. Europa war Freiheit, das erklärt Garton Ash jetzt vor allem seiner britischen Leserschaft, der das jahrelang anders eingetrichtert wurde. „Europa, ganz und frei“, so fasst er das Ideal seiner Generation, kodifiziert in jener „Charta von Paris“, in der 1990 die Demokratie zur einzig legitimen Regierungsform in der ungeteilten europäisch-atlantischen Welt erklärt wurde, samt Garantie der Menschenrechte für alle Bürger. 32 Staaten unterschrieben das. Garton Ash war 35, als dieses Ziel wunderbarerweise gewaltfrei erreicht zu sein schien.
Wie konnte ein so einleuchtendes Glück so in die Krise geraten? Garton Ash ist mehr Erzähler als Theoretiker, also zeigt er überall den Anteil von Zufällen und Persönlichkeiten. Schon das friedliche Ende des Kalten Kriegs war nicht zwangsläufig, und so sind es auch die heutigen Konflikte nicht. 1990 gab es auch besonnene Staatsmänner wie George Bush senior, der davor warnte, „auf der Mauer zu tanzen“. Er blieb im November 1989 in Washington, aus Rücksicht auf die sowjetischen Partner. Erst in späteren Verhandlungen wusste der amerikanische Präsident schließlich die Stärke des Siegers auszuspielen. Dabei zeigt Garton Ash detailliert, dass das beliebte Nato-Blaming als Grund für die heutige russische Aggression nicht zutrifft. Revisionistisch dachte Putin eben schon immer, und kein Imperium stürzt ohne Phantomschmerzen und Ressentiments seiner einstigen Träger. In einem kurzen Kapitel „Hybris“ formuliert Garton Ash einen allgemeineren Gedanken: „Damit Liberalismus gedeihen kann, darf es niemals nur Liberalismus geben.“ Die faschistische und kommunistische Konkurrenz habe den Liberalismus stark gemacht, befreit von dieser Konkurrenz wurde er „faul, selbstverliebt und übermütig“. Dabei geht es zwar auch um soziale Fragen, die Vernachlässigung der Verlierer des Umbruchs – „Gleichheit ist ein wesentlicher Bestandteil eines jeden Liberalismus, der diesen Namen verdient“, postuliert Garton Ash. Vor allem geht es um Hybris, Übermut, Arroganz, die Gewissheit, im historischen Recht zu sein. Die glückliche Sieghaftigkeit enthielt schon die Keime des Verderbens.
Die Bedenken großer Bevölkerungsteile gegen die Einwanderung wurden nicht ernst genug genommen. Die Anschläge des 11. September 2001 lenkten „den Westen“ auf einen Krieg gegen Terror, der mit Leichtsinn und Verrat an eigenen Prinzipien geführt wurde und den Kontinent 2002 spaltete. Im Schatten dieser Ablenkung baute Putin sein Land zur Diktatur um. Das waren Krisenherde, die Europa von außen bedrohten, auf die es aber unzulänglich reagierte. Vielleicht noch gravierender sind die Schwierigkeiten, die die EU sich bei ihren Erweiterungen und Vertiefungen selbst schuf. Mit Schärfe resümiert Garton Ash die Strukturschwäche des Euro – Gemeinschaftswährung ohne Gemeinschaftshaushalt. Der Brexit war auch eine Folge der unbedachten britischen Öffnung für Arbeitskräfte aus Osteuropa.
Und doch streift Garton Ash das Grundproblem der EU nur, ohne es wirklich auszubuchstabieren, vielleicht weil er sich nur wenig für Frankreich und fast gar nicht für Italien interessiert: das gerade in diesen Ländern scharf gefühlte Demokratie-Defizit der kontinentalen Union. In der romanischen Welt wird am historischen Zusammenhang von Demokratie und Nationalstaat bewusster festgehalten als in Deutschland. Aber auch im Osten Europas stößt der europäische Abbau des Nationalen nach seiner Unterdrückung im sowjetischen Imperium auf neue Widerstände. Volksabstimmungen über die EU wurden immer wieder verloren. Das ureuropäische Einheit-Vielfalt-Problem fasst Garton Ash zu Beginn vor allem kulturell, später mit Verweis auf das Heilige Römische Reich. Doch wie beruhigend ist das?
Am Ende kann Garton Ash am Normandie-Strand mit seinen Erinnerungen an 1944 – sein eigener Vater war am D-Day dabei –, einen französischen Le-Pen-Wähler nur mit Mühe dazu überreden, sein Glas auf „Europa“ zu erheben. So endet das Buch in einer prekären Schwebe. Wieder einmal steht alles infrage, und es liegt an den heutigen Bürgern Europas, noch einmal aus der Bedrohung das Beste zu machen. Bei gefallenen ukrainischen Soldaten fand Garton Ash das blaue Europa-Abzeichen mit den goldenen Sternen.
E
Nicht im Duktus, aber in der
Erzählform erinnert es an
Churchills Zeitgeschichtsbücher
Das Urproblem der EU wird nur
gestreift, weil Ash Italien und
Frankreich zu wenig interessieren
Timothy Garton Ash:
Europa – Eine persönliche Geschichte. Aus dem
Englischen von
Andreas Wirthensohn. Hanser Verlag,
München 2023.
448 Seiten, 34 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.2023

Am Küchentisch mit dem zukünftigen Präsidenten
Mit Sinn für produktive Widersprüche: Timothy Garton Ash erzählt entlang persönlicher Begegnungen von europäischen Entwicklungen

In keinem Land wird die Zeitgeschichte Europas so intensiv reflektiert und publikumswirksam erzählt wie in England. Die Werke der britischen Historiker Tony Judt, Ian Kershaw und Paul Betts sind eindrucksvolle Beispiele dafür. Auch nach dem Brexit ist dieser Erzählfluss nicht abgebrochen, ganz im Gegenteil: Timothy Garton Ash, Geschichtsprofessor am St Anthony's College in Oxford, hat jetzt ein besonderes Buch geschrieben: über Europa als persönliche Geschichte.

Es handelt sich nicht um eine herkömmliche Autobiographie, sondern um ein eigenwilliges Genre. Ash macht die Geschichte Europas, die er von der Zeit der totalitären Diktaturen bis in die Gegenwart erzählt, durch seine persönlichen Erinnerungen plastisch. So verbinden sich seine individuellen Erfahrungen - seine Begegnungen mit historischen Akteuren und seine Augenzeugenbeobachtungen von Ereignissen wie der Samtenen Revolution - mit der Deutung des Geschichtsverlaufs.

Ashs Erzählung ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam und zuweilen witzig, sie stimmt aber auch nachdenklich und enthält eindringliche Warnungen. Sie handelt von der Geschichte der europäischen Institutionen, des politischen Denkens und der großen Wendepunkte der europäischen Geschichte wie dem Jahr 1989, deren Bedeutungen Ash in persönlichen Begegnungen und im scharf beobachteten Wandel von Stimmungen abliest. Darin liegt der große Vorzug seiner Methode: Im Kleinen macht er das Große sichtbar.

Ash schöpft aus einem einzigartigen Fundus von Begegnungen, die in das Buch eingeflossen sind. Er hat amerikanische Präsidenten beraten, europäische Regierungschefs getroffen und Freundschaften mit polnischen, tschechischen und ungarischen Dissidenten gepflegt, die von den sozialistischen Regimen im Ostblock verfolgt wurden. Eines der schönsten Kapitel des Buchs erzählt von der Begegnung mit dem tschechischen Schriftsteller und späteren Staatspräsidenten Václav Havel, den Ash in der bleiernen Zeit der Achtzigerjahre einmal unangemeldet in einem Bauernhaus in Nordböhmen besuchte.

Irgendwie gelang es Ash, die Wachposten der Polizei zu umgehen. Unbemerkt von den Staatsorganen entfaltete sich am Küchentisch ein politisches und philosophisches Gespräch mit Havel: über die Anspannung des Schreibens, wenn jeden Moment das Typoskript von der Polizei beschlagnahmt werden konnte, und über die moralische Zweideutigkeit der westlichen Entspannungspolitik, die mehr auf gute Beziehungen zu den Regierungen setzte, als sie den verfolgten Dissidenten und den Menschenrechten Beachtung schenkte. Die Szene aus dem Kalten Krieg ist von einer bedrückenden Aktualität.

Ashs Geschichte beginnt mit dem völligen Ruin Europas im Zweiten Weltkrieg. Um auch diese Zeit in ihrer Erfahrungsdimension einzufangen, bedient sich Ash eines Kunstgriffs: Er spricht mit den Bewohnern zweier Dörfer - des in Niedersachsen gelegenen Orts "Westen", an dessen Befreiung sein Vater als britischer Armeeoffizier im April 1945 beteiligt gewesen war, und des westpolnischen Przysieczyn, das bis 1945 den deutschen Namen "Osten" trug - über ihre Erinnerungen an Krieg, Besatzung, Holocaust und Vertreibung. Daraus entsteht auf wenigen Seiten eine Skizze der verflochtenen Geschichte des Weltkriegs und der lokalen Erinnerungen an ihn. Nicht nur an dieser Stelle lässt Ash Gespräche einfließen, die er mit "einfachen" Leuten geführt hat.

Für Europas Weg aus dem Ruin des Weltkriegs war die Erinnerung an die Gräueltaten eine Voraussetzung. Ash spricht vom "Erinnerungsmotor", der die europäische Geschichte nach 1945 angetrieben hat. Es sind Persönlichkeiten wie Bronislaw Geremek, eine der Schlüsselfiguren für Polens Freiheitskampf in den Achtzigerjahren, oder die französische Politikerin Simone Veil, die durch die Traumata von Krieg, Besatzung und Holocaust geprägt waren, welche die europäische Politik in einem Geist des "Nie wieder" vorangetrieben haben. Die "Generation von 1939" erweitert Ash um jüngere Politiker, deren politische Laufbahn erst später begann, für die aber der Krieg der Angelpunkt ihres europäischen Engagements blieb. Auf Helmut Kohl schaut Ash nicht unkritisch, aber seine politische Leistung strahlt bei ihm heller als in mancher deutschen Darstellung.

Ashs Buch trägt im Englischen den Titel "My Homelands". Tatsächlich ist der britische Historiker in vielen europäischen Ländern durch Sprachbeherrschung, lange Aufenthalte und Freundschaften heimisch geworden. Die europäische Geschichte, die er erzählt, nimmt unterschiedliche Sichtweisen ein, die sich aus der Beschäftigung mit seinen "Heimatländern" ergeben. Daraus entsteht ein vielschichtiger und kaleidoskopartiger Text. Wer Ashs Geschichte liest, lässt die eingefahrenen Lesarten einer deutschen, englischen oder polnischen Geschichte Europas hinter sich.

Ob Großbritannien, Polen oder Deutschland, Ashs europäische "Homelands" haben in der jüngsten Zeitgeschichte sehr unterschiedliche und problematische Wege eingeschlagen: Polens einstweilige Abkehr von der liberalen Demokratie, Deutschlands Moskau-Connection bis zur "Zeitenwende", der englische Brexit. An den Debatten, die diese europäischen Prozesse begleiteten, hat Ash als politischer Kommentator teilgenommen, im Falle des Brexits als engagierter Fürsprecher des "Remain". Als Historiker zeichnet er nun die Entwicklungen nach, die zu den Weichenstellungen geführt haben, und nimmt die Herausforderungen der Gegenwart in den Blick: Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, Chinas Aufstieg als globale autoritäre Macht, die Klimakrise.

Ash nimmt die Risiken der gegenwärtigen Entwicklung sehr genau wahr, lässt sich aber nicht von einem allgemeinen Krisendiskurs überwältigen. Vielmehr schreibt er Geschichte mit einem Sinn für die produktiven Widersprüche, die sich etwa in der Geschichte und Gegenwart Ostmitteleuropas beobachten lassen. Dass Polen, Vorreiter der Demokratisierung in den Achtzigerjahren, sich unter der Führung der PiS-Partei vom demokratischen Rechtsstaat abwandte, ist für ihn "zutiefst deprimierend".

Aber diese Krise der Demokratie hat für ihn auch eine andere Seite: In den Neunzigerjahren hatte Polen die Demokratie nur übernommen und von der EU vorgegebene Rechtsstaatskriterien erfüllt, jetzt, da die Polen für die Unabhängigkeit der Justiz und die Gewaltenteilung kämpfen mussten, machten sie sich die Institutionen des Verfassungsstaats wirklich zu eigen. Zum ersten Mal seit langer Zeit, so Ash, konzentriert sich der polnische Patriotismus wieder auf die Verteidigung der Verfassung.

Ashs Buch endet mit einem Kapitel über die Aussagekraft der Geschichte für die Gegenwart - zwölf Seiten, die man jedem Politiker zur Lektüre empfehlen möchte. Ashs Europäische Geschichte erzählt Geschichten, zugleich ist sie ein starkes Plädoyer für die historische Urteilskraft. MARTIN SCHULZE WESSEL

Timothy Garton Ash:

"Europa". Eine persönliche Geschichte.

Carl Hanser Verlag, München 2023. 448 S., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"Garton Ashs Erzählung ist ebenso lehrreich wie unterhaltsam und zuweilen witzig, sie stimmt aber auch nachdenklich und enthält eindringliche Warnungen. (...) Ashs Europäische Geschichte erzählt Geschichten, zugleich ist sie ein starkes Plädoyer für die historische Urteilskraft." Martin Schulze, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.08.23

"Sein neues Buch zeigt Timothy Garton Ash einmal mehr als Mann der nüchternen, klugen Analyse und zugleich als einen leidenschaftlichen Europäer, den die Idee von einem freien und ungeteilten Kontinent antreibt." Holger Heimann, NZZ am Sonntag, 25.06.23

"Es gibt keine literarischen oder akademisch-historiografischen Arbeiten über die Entwicklungen Europas in den letzten 40 Jahren, die sich an Durchblick, Engagement und Formulierungskunst mit dieser Studie messen können." Paul Michael Lützeler, Tagesspiegel, 24.05.23

"Das neue Buch von Timothy Garton Ash ist ein Musterbeispiel für eine aus einer engagierten Teilnehmerperspektive, einem mitleidenden und urteilenden Blickwinkel verfassten Geschichte unseres Kontinents. 'Europa' als politisches Projekt zu erkennen, hilft dieses ebenso anregende wie spannende Buch." Micha Brumlik, taz, 26.04.23

"Die Nachkriegszeit und die Nachwendezeit enden mit dem neuen Krieg, so Garton Ash. Was kommt, kann ein Historiker nicht vorhersagen, aber einen Eindruck davon, was Europa einmal gewesen ist, vermittelt er brillant." Mara Delius, Die Welt, 23.04.23

"In 'Europa' ringt Timothy Garton Ash um Positionen in der gegenwärtigen Krise ... Es ist ein persönlicher Rückblick die europäische Integration, angereichert mit alten Tagebucheinträgen, die den Historiker als emotionalen Teilnehmer der Geschichte zeigen." Thomas Zaug, Neue Züricher Zeitung, 19.04.23

"Wie konnte ein so einleuchtendes Glück wie die EU so in die Krise geraten? Timothy Garton Ash wagt in seinem mitreißend persönlichen Buch "Europa" einige unbehagliche Antworten." Gustav Seibt, SZ Online, 17.04.23

"Dieses Buch, das zahlreiche historische Erfahrungen bündelt, ist sehr lehrreich." Catrin Stövesand, DLF Andruck, 17.04.23
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