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Stephanie Bart folgt in ihren Romanen der Spur des Widerstands. Auch in der Erzählung zurSache widmet sie sich dem Widerspruch zwischen dominanten gesellschaftlichen Kräftenund ihren Antipoden, hier: Gudrun Ensslin.Wir tauchen ein in die Atmosphäre der Bundesrepublik des Jahres 1972 und verfolgen ausder Subjektive von Gudrun Ensslin, was es bedeutet, wenn sich ein junger Mensch mit einemintakten Gewissen dazu entscheidet, die faschistische Kontinuität der Bundesrepublik nichthinzunehmen.Mit ihrer Sprache, deren Wucht wir aus der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss kennen,lässt die Autorin…mehr

Produktbeschreibung
Stephanie Bart folgt in ihren Romanen der Spur des Widerstands. Auch in der Erzählung zurSache widmet sie sich dem Widerspruch zwischen dominanten gesellschaftlichen Kräftenund ihren Antipoden, hier: Gudrun Ensslin.Wir tauchen ein in die Atmosphäre der Bundesrepublik des Jahres 1972 und verfolgen ausder Subjektive von Gudrun Ensslin, was es bedeutet, wenn sich ein junger Mensch mit einemintakten Gewissen dazu entscheidet, die faschistische Kontinuität der Bundesrepublik nichthinzunehmen.Mit ihrer Sprache, deren Wucht wir aus der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss kennen,lässt die Autorin in einer trommelnden, singenden, rhythmischen Komposition aus historischemDokumentenmaterial und Schlüsselzitaten der linken Theorie die Figur der GudrunEnsslin vor unserem inneren Auge lebendig werden: von den bunten, gewaltfreien Protestenin der APO über die Baader-Befreiung (Gründung der RAF) und die 5 ½ Jahre ihrer Inhaftierungbis zu ihrem Tod im Stammheimer Gefängnis am 18. Oktober 1977.Stephanie Bart knüpft im Spiegel dieser Figur an eine gesellschaftliche Perspektive an, dienicht erst seit Heine, Büchner, Benjamin oder Brecht auf das gute Leben für alle zielt, das derMensch, laut Schiller, nur da zu leben imstande ist, wo er spielt.Spielerisch entfesselt Stephanie Bart in der Erzählung zur Sache ein Denken, in dem der immerzubemühte, aber nie verwirklichte Begriff der Würde des Lebens endlich laufen lernenkönnte: auf eine Zukunft zu, in der niemand zurückgelassen und das Ökosystem instand gehaltenwird, denn es ist fünf nach zwölf!
Autorenporträt
STEPHANIE BART, geboren 1965 in Esslingen am Neckar, studierte Ethnologie und Politische Wissenschaften an der Universität Hamburg. Seit 2001 lebt sie in Berlin. Für die Arbeit an »Deutscher Meister« erhielt sie das Stipendium des Deutschen Literaturfonds 2011 und 2012, für den Roman wurde sie mit dem Rheingau Literatur Preis 2014 ausgezeichnet. Für die Arbeit an Erzählung zur Sache erhielt sie das Stipendium des Berliner Senats 2015 und das Alfred-Döblin Stipendium der Akademie der Künste 2017.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Nicht immer wohl fühlt sich Rezensent Stephan Wackwitz mit Stephanie Barts Roman, der sich der Weltsicht der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin widmet. Wackwitz zeichnet nach, wie die RAF-Ideologie von der hellenistischen Gnosis-Religiosität geprägt ist, deren Kern die Ablehnung der real existierenden Welt als eine durch und durch verworfenen bildet. Bart vollzieht unter anderem diese Denkstruktur nach und wählt dafür die Form der freien indirekten Rede, erklärt der Kritiker, dem nicht immer klar ist, welche Gedanken der Figur und welche der Autorin zuzuordnen sind. Das ist beeindruckend, mitunter aber moralisch fragwürdig, findet Wackwitz mit Blick auf die realen RAF-Verbrechen. Besonders ambivalent erscheint ihm in dieser Hinsicht das Ende, das man als Affirmation des RAF-Stammheim-Mordmythos lesen könne. Ein kraftvolles Buch, aber gut, dass wir nicht mehr in den 1970er leben, denkt sich Wackwitz.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.10.2023

Das große Nein

Ein Roman über Gudrun Ensslin: Stephanie Barts "Erzählung zur Sache"

Die RAF und der gegen ihre vier Hauptangeklagten Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe in Stuttgart-Stammheim in den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts geführte Prozess sind längst Geschichte und nur noch selten Gegenstand zeithistorischer Abhandlungen. Umso überraschender, dass sie fünfzig Jahre später im Roman von Stephanie Bart auf annähernd siebenhundert Seiten höchst lebendig literarisch wiederauferstehen.

"Erklärung zur Sache" heißt im Strafprozess das, was Angeklagte, die nicht schweigen wollen, zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen vorbringen. Die Sache, um die es im Roman geht, ist die Sache der RAF. Von ihr erzählt der Roman aus der Perspektive seiner anfangs in Essen und Köln und später gemeinsam mit ihren Mitangeklagten in Stammheim inhaftierten Protagonistin Gudrun Ensslin. Erzählt wird in der aus heutiger Sicht fernen und fremden Sprache der RAF, die Ensslin wie alle in Stammheim inhaftierten Mitglieder der Gruppe sprach und schrieb. Vor allem mit einer Vielfalt von Originalzitaten aus heute in Archiven noch verfügbaren Aufrufen, Briefen, Prozesserklärungen oder schriftlichen Interviewtexten der Stammeimer Angeklagten präsentiert der Roman seiner Leserschaft das politische Weltbild und Selbstverständnis der RAF.

In diesem Weltbild gab es im Westen noch nie Demokratie oder Rechtsstaat, sondern nur ein von den USA geführtes monströses imperialistisches Weltsystem, dessen Daseinszweck allein darin besteht, die Menschen in den Metropolen wie in der Dritten Welt im Interesse von Rendite und Profit zu unterdrücken und daran zu hindern, wie Menschen zu leben. Für die Pfarrerstocher Ensslin hat dieses System bereits Wurzeln in der Bibel, wenn Jakob seinem hungrigen Bruder Esau dessen Erstgeburtsrecht gegen nicht mehr als ein Linsengericht abnimmt. Der Krieg der USA in Vietnam: Aus Sicht der RAF nichts anderes als die Fortsetzung der Vernichtungskriege, die das NS-Regime bis 1945 in Europa und anderswo geführt hat, mit dabei die Bundesrepublik als politischer und militärischer Helferstaat.

Der Roman erzählt, dass und warum es auf die Verhältnisse, wie die RAF sie sah, auch in einer Metropole wie der Bundesrepublik nur eine mögliche Antwort geben kann: nämlich ein kategorisches Nein und die Bereitschaft zum bewaffneten Kampf an der Seite der Befreiungsbewegungen in den Ländern der Dritten Welt, der zur Befreiung von Kapitalismus und Imperialismus auch hierzulande so richtig und möglich sei wie in Vietnam, Lateinamerika oder Afrika. Wer dabei nicht mitmachen wolle, verweigere den Opfern imperialistischer Unterdrückung und Entrechtung nicht nur die Solidarität, sondern bleibe selbst einer fremdbestimmten Existenz verhaftet, wie sie für die Menschen in kapitalistischen Gesellschaften typisch sei.

Im Roman werden auch die Irrwege sichtbar, auf die ihre Sicht auf die Welt die Mitglieder der RAF führen konnte. Ensslin etwa übt heftige Kritik an einem Text, den die zu dieser Zeit in Köln inhaftierte Ulrike Meinhof zum Anschlag bewaffneter Palästinenser auf die israelische Olympiamannschaft während der Olympischen Spiele 1972 in München verfasst hat. Sie hält die Passagen des Textes über den Nationalsozialismus für "unbefriedigend" und weiß aber - so heißt es - selbst nichts Befriedigenderes darüber und will es auch nicht wissen. Den Text lehnt sie ab, weil er vom falschen Klassenstandpunkt ausgehe.

Die Massenverbrechen und der Terror des NS-Regimes sind in den Köpfen der Stammheimer Angeklagten zwar durchaus präsent. Den Nationalsozialismus erklären sie allerdings ausschließlich als das Ergebnis der brutalen Durchsetzung kapitalistischer Interessen. Warum es im Gegensatz zu Deutschland in anderen vergleichbaren kapitalistischen Staaten nicht zur parlamentarischen Durchsetzung einer Gewaltherrschaft wie derjenigen der Nazis gekommen ist, scheint nicht interessiert zu haben.

Verblüffend deutschnational klingen die im Roman dokumentierten RAF-Texte, wenn es um die Rolle der Bundesrepublik nach 1945 geht. Hier ist die Bundesrepublik kein Täterstaat, den es auf Wiederholungsgefahren hin von alliierter Seite unter Kontrolle zu halten galt, sondern lediglich Produkt und damit letztlich Opfer der USA, die einen Pufferstaat gegen den Kommunismus und die Sowjetunion brauchten.

Nach langen Zeiten der Isolation in Einzelhaft vor ihrer Zusammenlegung im eigens hierfür freigeräumten siebten Stock des Stammheimer Gefängnisses und mehreren gegen die Haftbedingungen gerichteten, extrem kräftezehrenden Hungerstreiks, an deren Folgen der ursprünglich mitangeklagte Holger Meins 1974 im Gefängnis in Wittlich starb, waren die Angeklagten in der Hauptverhandlung des Prozesses in Stammheim physisch wie mental extrem geschwächt. Gleichwohl waren sie - wie im Roman ausführlich dokumentiert und geschildert - hochgradig daran interessiert, ihre Sache, zu der für sie auch die gesundheitlichen Folgen ihrer Haftbedingungen gehörten, vor Gericht zu Gehör zu bringen. Ihre und ihrer Verteidigung Versuche, sich angemessen Gehör zu verschaffen, führten zu heftigen und teilweise grotesken Wortgefechten mit den Vertretern der Bundesanwaltschaft und dem Senatsvorsitzenden, die im Roman auf der Grundlage verschriftlichter Tonbandmitschnitte ausgiebig dokumentiert sind.

Auch für jemanden, der wie der Verfasser teilweise selbst an ihnen beteiligt war, erscheinen sie aus heutiger Sicht als eher absurd und schwer nachvollziehbar. Sie hatten aber einen ernsthaften Kern. Heutzutage weiß man, dass die dauerhafte Isolation missliebiger Untersuchungs- oder Strafgefangener, wie sie in den Gefängnissen der DDR oder heute noch in Russland etwa im Falle Nawalnyj als Disziplinarmaßnahme praktiziert wurde beziehungsweise noch wird, physisch wie mental gesundheitliche Folgen zeitigen kann, die den Vorwurf der Folter rechtfertigen. Zur Zeit des Prozesses in Stammheim haben sich Bundesanwaltschaft und Gericht dieser Einsicht kategorisch verweigert. Wann immer das Wort Folter zu fallen drohte, verfügte der Senatsvorsitzende prompt Wortentzug.

Aus der Perspektive Ensslins schildert der Roman auch anschaulich das prekäre Verhältnis der Stammheimer Angeklagten zu den Verteidigern und Verteidigerinnen ihrer Wahl und ihres Vertrauens. Für die Angeklagten war der beste Verteidiger einer, der - wie in Einzelfällen auch geschehen - bereit war, die Robe auszuziehen und sich der RAF anzuschließen. Verteidiger hingegen, die sich darauf beschränkten, die Rechte der Angeklagten mit den Argumenten des Rechtsstaates und seiner auch damals schon im Grundgesetz wurzelnden prozessualen Schutzrechte zu verteidigen, wurden in den Augen der Angeklagten zwar dafür gebraucht, sich vor Gericht Stimme und Gehör zu verschaffen, verhielten sich aber ansonsten auch nur als Bestandteil einer als Rechtsstaat drapierten Fassade.

Die eigentlich wunden Punkte der staatlichen Reaktion der alten Bundesrepublik auf Vorgehen und Anschläge der RAF werden in der Erzählung Stephanie Barts allerdings vor lauter RAF allenfalls als Hintergrund erkennbar. 1972, als die öffentliche Debatte über die Aktionen der RAF heiß zu laufen und populistisch abzugleiten begann, hatte Willy Brandt als Bundeskanzler öffentlich empfohlen, auf die ruhige Gelassenheit des Rechtsstaates zu vertrauen. Gesetzgebung, Exekutive und Justiz der alten Bundesrepublik zeigten sich aber weder willens noch in der Lage, sich in ihrer Reaktion auf das Vorgehen der RAF an der Empfehlung Brandts zu orientieren. Im Gegenteil: Ohne Sondergesetze, Sonderhaftstatuten, Sonderprozessgebäude oder - im Falle von Hungerstreiks - der Tortur von Zwangsernährungen glaubte man, der RAF nicht Herr werden zu können. Ein solch geballtes Übermaß an Reaktion konnte nur Wasser auf die Mühlen der für die Mitglieder der RAF phänotypischen Meinung sein, die Selbstbehauptung der Bundesrepublik als Rechtsstaat sei nicht mehr als das Blendwerk eines in Wahrheit hoch autoritären Staates. Eine - zeitgenössisch gesprochen - evidenzbasierte Gestaltung des Verfahrens in Stammheim, die das Bild, das sich die Angeklagten von der Bundesrepublik machten, hätte erschüttern können, konnte unter solchen Voraussetzungen nicht gelingen. Auch im Roman wird deutlich, dass die Unschuldsvermutung im Stammheimer Prozess von Anfang bis Ende ein Fremdwort blieb. Stattdessen bleibt das Bild einer seltsamen Entsprechung im Verhältnis von RAF und Staat: Hier die utopische Vorstellung von der Möglichkeit revolutionärer Veränderungen mit dem Griff zur Waffe mitten in der gesättigten Bundesrepublik der Siebzigerjahre, dort ein Staat, der so reagiert, als ob an dieser Vorstellung etwas Realistisches dran sein könnte.

Stephanie Bart zitiert und montiert nicht nur virtuos Originaltexte aus dem Fundus der RAF. Zuweilen begleitet sie mit einem "Chor der Geschichte" die zitierten Texte. Wo die RAF im Original spricht oder die Autorin selbst erzählt, ist für den Leser nicht immer klar auseinanderzuhalten. Denn auch als Erzählerin verlässt die Autorin nie den Standpunkt und die Perspektive ihrer Protagonistin Ensslin und der RAF. Ihren Roman beendet sie mit einem makabren Text, in dem Gudrun Ensslin selbst ihre gewaltsame Tötung durch mehrere anonym bleibende Männer, die sich Zutritt zu ihrer Zelle verschafft haben, beschreibt.

In einer als "Haftungsausschluss" bezeichneten Vorbemerkung weist die Autorin - augenscheinlich im Interesse der Vermeidung der Gefahr einer Verwechslung mit den Protagonisten ihres Romans - darauf hin, dass es sich bei allen im Roman enthaltenen "strafrechtlich relevanten Beleidigungen und Verunglimpfungen" toter oder noch lebender Personen der Zeitgeschichte sowie Aufforderungen zu strafbaren Handlungen um wörtliche oder bearbeitete Zitate der RAF handele. Damit legt sie Wert auf eine Distanz, die dem Inhalt ihres Buches fremd ist und die ihr die tote Gudrun Ensslin als Protagonistin des Romans "Erzählung zur Sache" mutmaßlich nicht hätte durchgehen lassen. RUPERT VON PLOTTNITZ

Der Rezensent war im RAF-Prozess von Stammheim Verteidiger von Jan-Carl Raspe.

Stephanie Bart:

"Erzählung zur Sache".

Roman.

Secession Verlag,

Berlin 2023.

680 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Mit Worten und Waffen
Diese linke Geschichtsschreibung trifft radikale ästhetische Entscheidungen:
Stephanie Bart wagt sich an einen Roman über die Rote Armee Fraktion. An dem Stoff sind schon viele gescheitert
VON MEIKE FESSMANN
Der Ostwind weht durchs Neckartal, man meint Freiheit, blauen Himmel, klare Luft zu spüren, die Sätze winden sich in einem Rhythmus, der aus Hölderlins Hymnen kommen könnte. Derart einnehmend lockt Stephanie Bart in einen Roman, in dem Freiheit bald nur noch ein ferner Begriff sein wird, einer unter vielen, die in immer neuen Windungen und Zusammensetzungen in Stellung gebracht werden. Denn was beinahe arglos zu beginnen scheint, steuert direkt auf einen der Sprengstoffanschläge zu, die die RAF im Mai 1972 verübte, den Anschlag auf die Campbell Barracks, das Heidelberger Hauptquartier der US-Armee in Europa.
„Erzählung zur Sache“ ist ein überwältigend konsequenter Roman, der sich seiner literarischen Mittel sicher ist. Und so legt er über die Beschreibung des Neckartals eine Beschreibung Vietnams aus der Vogelperspektive eines Bombers und schiebt gleich noch eine typische Argumentationsschleife hinterher, wie sie die RAF für die Legitimation ihrer Gewalttaten verwendete: Der Anschlag sei die Antwort auf die Ankündigung der US-Luftwaffe, ab sofort ganz Vietnam unter Beschuss zu nehmen.
Anders als erhofft, gewann die RAF mit der sogenannten Mai-Offensive keine Sympathien zurück. Was sich bei den Frankfurter Kaufhausbrandstiftungen im April 1968 noch als „Gewalt gegen Sachen“ rechtfertigen ließ, was bei der Baader-Befreiung im Mai 1970 im West-Berliner „Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen“ womöglich noch als anarchisches Schelmenstück hätte durchgehen können, wenn dabei nicht der Institutsmitarbeiter Georg Linke und ein Polizist verletzt worden wären, entfernte sich immer weiter von den Idealen der Studentenbewegung, aus deren Zerfallsprozessen die Rote Armee Fraktion hervorgegangen war. Verletzte und Tote wurden billigend in Kauf genommen und später, kulminierend im Herbst 1977, bewusst als Druckmittel eingesetzt. Wie soll man heute eine Geschichte erzählen, die in zahlreichen Filmen, von „Deutschland im Herbst“ über „Die bleierne Zeit“, „Stammheim“, bis „Wer wenn nicht wir“ dargestellt wurde? Eine Geschichte, die von Anfang an begleitet wurde von journalistischen Zentralorganen der alten Bundesrepublik, vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Fernsehen, vom Spiegel, der Bild-Zeitung und nicht zuletzt von der Zeitschrift Konkret, für die Ulrike Meinhof als Reporterin beim Kaufhausbrand-Prozess mit zwei der vier Angeklagten in Kontakt kam, mit Gudrun Ensslin und Andreas Baader.
Wer hier keine radikalen ästhetischen Entscheidungen trifft, wird in der Fülle des Stoffs untergehen oder Gefahr laufen, Klischees und Banalitäten zu reproduzieren. Selbst das Gegen-den-Strich-Bürsten geht in diesem Kontext leicht schief, wie es etwa Leander Scholz geschehen ist, als er in seinem Roman „Rosenstolz“ die Beziehung zwischen Andreas Baader und Gudrun Ensslin endlich einmal als Liebesgeschichte erzählen wollte statt als politische. Dumm nur, dass die sexuelle Attraktivität Baaders eines der gängigsten Klischees des Boulevards war. Man kann deshalb nur bewundern, wie Stephanie Bart, 1965 in Esslingen am Neckar geboren und vor neun Jahren mit dem Roman „Deutscher Meister“ hervorgetreten, mit dem Stoff umgeht. Sie trifft viele kluge Entscheidungen, in denen das Formale und das Stoffliche, das Atmosphärische und Thematische Hand in Hand gehen. Gudrun Ensslin ist die Hauptfigur des Romans, aber anders als man sich Hauptfiguren normalerweise vorstellt. In gewisser Weise ist sie das „Hinterland“, die emotional stabilste Person, wie sie einmal im Zusammenhang des über beinahe zwei Jahre laufenden Stammheim-Prozesses genannt wird. Und gleichzeitig ist sie eine Art Flaschengeist des forcierten linken Diskurses, der sich in einem weiblichen Körper materialisiert, nur um diesen Körper gerade nicht als Sexobjekt, sondern im Gegenteil als Anti-Ware, als existenzielles Mittel im politischen Kampf einzusetzen. Wie Stephanie Bart mit linkem Denken umgeht, das muss man sich erst einmal trauen. Sie schraubt sich hinein, sie frisst sich durch, sie rekombiniert, immer und immer wieder. Ihr Roman steckt voller Zitate, Pamphlete, Zumutungen und zeithistorischem Quellenmaterial. Daraus wird ein politischer Roman von atemberaubender Intensität.
Neben Gudrun Ensslin, nur „Gudrun“ genannt, dürfen in diesem Roman noch eine Menge anderer Personen „ich“ sagen. Ein Nachrichtentechniker der US-Armee beispielsweise, kurz bevor eine der Bomben in den Campbell Barracks explodiert, aber auch Anwälte, Vollzugsbeamte, Terroristen. „Ich bin Nachrichtentechniker, aber ,ich‘ kann jeder sagen und daher immer ein anderer sein. ,Ich‘ kann immer eine andere sein“, heißt es programmatisch am Anfang – als kleines Signal, dass mit erhöhter Aufmerksamkeit zu lesen ist. Neben der Multiperspektivität ist die fehlende Chronologie ein Stilmittel, mit dem Stephanie Bart eine allzu flotte Lektüre unterbindet. Alles muss erarbeitet werden. Auch wenn das anstrengend ist: Welche Praktik als die des gründlichen Lesens wäre ein schlüssigeres Paradigma für die 1970er-Jahre, selbst dann noch, wenn daraus die Verherrlichung der Tat hervorginge? In sieben großen Kapiteln, überschrieben mit Orts- und Zeitangaben, teilt sich die Handlung. Ob Heidelberg, Essen, Köln, Berlin, Frankfurt, Hamburg: Alle Orte haben mit Anschlägen oder Justizvollzugsanstalten zu tun. Und es ist kein Zufall, dass Stuttgart nicht auftaucht, sondern nur mit dem Namen des Stadtteils vertreten ist, in dem jenes Hochsicherheitsgefängnis steht, das mit einem der wichtigsten Strafprozesse der Nachkriegszeit verbunden ist: Stammheim. Kurt Groenewold, mit Ströbele, Schily und Croissant einer der damaligen Wahlverteidiger, spricht heute vom Stammheim-Prozess als einem der vier großen „politischen Prozesse“, neben dem Nürnberger Prozess, dem Auschwitz-Prozess und dem NSU-Prozess.
Es sind der schwindende Handlungsspielraum der Angeklagten, die Qualen der Isolation und des Freiheitsentzugs sowie die Listen der Kommunikation unter erschwerten Bedingungen, die Stephanie Bart am meisten interessieren. Und es ist geschickt, gerade dort, wo die notwendige Begriffsarbeit des Prozesses ansetzte, mit sinnlich konkreten Wahrnehmungen aufzuwarten. Schließgeräusche, die freie Sicht des Vollzugspersonals in die Zelle, direkt zur Toilette, der fehlende Blick der Häftlinge ins Freie, die „Zellengymnastik“, um den Körper einigermaßen funktionstüchtig zu halten, erst recht in den Phasen von Hungerstreiks und Zwangsernährung. Das wiederholt Bart so oft, bis man verstanden hat, welch vernichtende Wirkung eine solche Behandlung nach sich zieht; noch ganz jenseits davon, ob man von „Isolationsfolter“ als politischem Kampfbegriff sprechen kann.
Als der Prozess im Mai 1975 begann, war die Führungsriege der RAF gemeinsam im siebten Stock der JVA Stammheim untergebracht. Für die Verhandlung wurde ein neues Gebäude mit fensterlosem Gerichtssaal errichtet, in das die Gefangenen in umständlichen Prozeduren gebracht wurden. „Der Kampf der Gefangenen der Roten Armee Fraktion gegen den Imperialismus“, schreibt Bart, „transformierte sich zum Kampf gegen die Haftbedingungen.“ Die Gerichtsverhandlung vom 28. Oktober 1975, deren Protokoll sie in einer fulminanten Binnenerzählung verarbeitet, wird zum Lehrstück, wie sich Staat und RAF mit den Mitteln des Rechts, der Rhetorik und unlauterer Spielchen ineinander verbissen haben. Das Stakkato ständiger Unterbrechungen markiert Stephanie Bart mit fett gedruckten Großbuchstaben, ein „verbales Kettensägenmassaker“, für das nicht nur der schließlich im Januar 1977 wegen Besorgnis der Befangenheit abgezogene Vorsitzende Richter Theodor Prinzing verantwortlich war.
Gelegentlich gibt der Roman Träume Gudruns wieder. Einmal imaginiert sie sich in einen Dahlemer Garten, kochend, essend, Freunde bewirtend. Es ist eines der wenigen utopischen Bilder guten Lebens in diesem Buch, in dem schon die Vorstellung, mit nackten Füßen über einen Acker zu laufen, zum Inbegriff der Freiheit werden kann. Auch die sogenannte „Stammheimer Todesnacht“ zum 18. Oktober 1977, als nach der Erstürmung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut durch die GSG 9 in Mogadischu die Chance, freigepresst zu werden, endgültig gescheitert war, erzählt Bart mit der Hilfe eines solchen Traums. Dort fantasiert sie, der Suizid sei doch ein Mord gewesen, für einen Roman ein legitimes Verfahren, auch wenn es mittlerweile als erwiesen gilt, dass Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe kollektiven Suizid begangen haben, möglicherweise von staatlicher Seite toleriert oder sogar erwünscht.
Bisher wurden gelungene Romane über die RAF eher über Bande gespielt, etwa Ulrich Peltzers „Teil der Lösung“ oder Frank Witzels „Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969“, der 2015 den Deutschen Buchpreis erhielt. Nominiert für den Bayerischen Buchpreis begibt sich nun ein starker Roman in den Ring, der das unvollendete RAF-Pamphlet „Erklärung zur Sache“ offensiv und durchdacht zu einer radikalen Erzählung über die Geschichte der alten Bundesrepublik ausbaut. Wo über den politischen Roman diskutiert wird, sollte in Zukunft auch Stephanie Bart gehört werden. So energisch und stilistisch brillant ist seit Peter Weiss’ „Ästhetik des Widerstands“ schon lange niemand mehr das Projekt linker Geschichtsschreibung angegangen.
Gudrun Ensslin ist die
Hauptfigur und gleichzeitig
eine Art diskursiver Flaschengeist
Die Fantasie vom Suizid
als Mord: für den Roman legitim,
aber historisch falsch
Stephanie Bart:
Erzählung zur Sache.
Roman. Secession Verlag, Berlin 2023.
678 Seiten, 28 Euro.
„Das Universum, das
andere die Bibliothek
nennen, setzt sich aus
einer undefinierten,
womöglich unendlichen
Zahl sechseckiger Galerien zusammen...“ So beginnt Jorge Luis Borges’
Erzählung „Die Bibliothek von Babel“, in der die Welt aus einer riesigen
Ansammlung von
Bücherregalen besteht.
So hat die künstliche
Intelligenz diese
Vorstellung ausgerechnet.
Foto: midjourney/Florian Gmach
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