9,95 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Gebundenes Buch

Je länger der Trauerzug für Stalin durch die Straßen Warschaus marschiert, desto heiterer wird die Stimmung jener, die daran teilnehmen müssen - die Hoffnung auf Befreiung nach dem Tod des Diktators bricht sich Bahn. Mit oft hintergründiger Ironie führt Michal Glowinskis Zyklus von Erzählungen eindringlich die Atmosphäre im Nachkriegspolen vor Augen - jene Jahre der staatlichen Repression, in denen auch der Antisemitismus im neuen kommunistischen Gewand wiederersteht. Glowinskis Reise durch die Erinnerung führt auch in die Zeit der Shoah zurück, die der bekannte polnische…mehr

Produktbeschreibung
Je länger der Trauerzug für Stalin durch die Straßen Warschaus marschiert, desto heiterer wird die Stimmung jener, die daran teilnehmen müssen - die Hoffnung auf Befreiung nach dem Tod des Diktators bricht sich Bahn. Mit oft hintergründiger Ironie führt Michal Glowinskis Zyklus von Erzählungen eindringlich die Atmosphäre im Nachkriegspolen vor Augen - jene Jahre der staatlichen Repression, in denen auch der Antisemitismus im neuen kommunistischen Gewand wiederersteht. Glowinskis Reise durch die Erinnerung führt auch in die Zeit der Shoah zurück, die der bekannte polnische Literaturwissenschaftler als Kind und Jugendlicher im Warschauer Ghetto und dann in verschiedenen Verstecken überlebte. Im Mittelpunkt aber steht die Welt der Volksrepublik Polen nach 1945. Knappe, erhellende Momentaufnahmen machen die menschlichen Tiefendimensionen einer von vielen Traumata gezeichneten Gesellschaft einsichtig, die Glowinski als Schüler und Student erlebte und nun erzählend in Erinnerung ruft - eine Zeit des kollektiv verordneten Verdrängens wird vergegenwärtigt, in der schon das Wahrhaben von zerstörerischen Auswirkungen der »großen Geschichte« auf die Lebensgeschichten einzelner ein Zeugnis des Widerstehens war.
Autorenporträt
Glowinski, MichalMichael Glowinski (geb. 1934) arbeitet am Institut für Literarische Forschungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Er ist einer der führenden Literaturwissenschaftler Polens.

Pollack, MartinMartin Pollack, geboren 1944 in Bad Hall (Österreich), studierte Slawistik und Osteuropäische Geschichte in Wien und Warschau. Bereits während des Studiums begann er seine Tätigkeit als Übersetzer und Journalist, der er bis heute nachgeht. Martin Pollack lebt in Wien.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.2004

Angestellte in vorgerücktem Alter
Exquisite Charakterstudien: Michal Glowinskis Erinnerungsfeuilletons betören als poetische und soziologische Novellen

Dies ist ein kleines Buch, das wenig Reklame für sich macht. Es fällt mit seiner literarischen Bedeutung nicht ins Haus. Trotzdem oder eher: deswegen ist es eines der schönsten und lehrreichsten, das ich seit langer Zeit gelesen habe. Michal Glowinski, Professor am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, ist ein hochreflektierter Kenner der Literaturgeschichte, und er scheint die Gattung des literarischen Feuilletons, deren er sich in "Eine Madeleine aus Schwarzbrot" bedient, an französischen Vorbildern intensiv studiert zu haben. Selten aber scheint jener Satz aus Kleists Schrift über das Marionettentheater, der einem Rezensenten bei solchen Gelegenheiten stets einzufallen pflegt, so angebracht wie zur Beschreibung der Leichtigkeit und Anmut, mit der Glowinski seine schlimmen und deprimierenden Gegenstände in einer Form abhandelt, die an ihrem Ursprung Damenmoden, Galopprennen, Saloninterieurs und Premierenempfänge zu beschreiben hatte.

Glowinski schreibt Feuilletons über seine Erinnerung an die beiden Terrorsysteme, die seine Heimat im letzten Jahrhundert verwüstet haben - und darüber, wie sie heute in den Charakterdeformationen, Marotten und Spleens seiner Zeitgenossen weiterleben. "Echos vergangener Jahre" heißt die erste Abteilung seines Buchs, dessen polnische Ausgabe umfangreicher ist als die von Martin Pollack kongenial übersetzte deutsche Auswahl. Seine Mathematiklehrerin wird da porträtiert, ein Vertrauensmann der studentischen Selbstverwaltung, der in Wirklichkeit wohl für die Staatssicherheit arbeitete, ein Judenhasser, der dem Erzähler in einem Warschauer Friseursalon der neunziger Jahre begegnet, ein für das Schöne (und die Schönen) begeisterter Spitzel, ein Professor für Marxismus, Zugbekanntschaften, kommunistische Agitatoren der fünfziger Jahre, die Karnevalsstimmung, die in einem bestimmten Abschnitt des Trauerzugs für den großen Stalin durch das zerstörte Warschau ausbrach. Glowinskis Erinnerung an die Deportation seiner Familien ins Warschauer Getto ist in der zweiten Abteilung unter dem Titel "Reisemischungen" untergebracht.

Es sind embryonale Romane, die sich - ganz wie Kleists Anekdoten und Geschichten - im Kopf des Lesers weiterspinnen und entfalten, wenn man das Buch zugeklappt hat. Der mit dem zehn oder elf Jahre alten Michal Glowinski ins Waisenhaus deportierte Junge, der sich während der langweiligen, heimwehkranken und angsterfüllten Bahnreise an seiner Sammlung von Heiligenbildchen, die er jedem zeigt, festhält, sie aber wenig später plötzlich zerreißt und auf ihnen herumtrampelt (der Autor berichtet das dann nur noch vom Hörensagen) - er ist ein später Nachfahre jenes Ägypterkönigs Psammenit, von dem Herodot berichtet und an dessen merkwürdigem Verhalten Benjamin seine Theorie des Erzählers exemplifiziert hat. Der besiegte Psammenit betrachtet den Triumphzug des Perserkönigs Kambyses, in dem sein Sohn und seine Tochter mitgeführt werden, mit unbewegter Haltung. "Als er aber danach einen von seinen Dienern, einen alten, verarmten Mann, in den Reihen der Gefangenen erkannte", erzählt Herodot, "da schlug er mit den Fäusten an seinen Kopf und gab alle Zeichen der tiefsten Trauer."

Wir werden nie herausbekommen, warum Psammenit gerade beim Anblick jenes alten Mannes zusammenbrach, warum der kleine Junge im Waisenhaus auf seinem einzigen und kostbarsten Besitz herumtrampelte. Aber es wird nie aufhören, uns zu interessieren und zu beschäftigen. Andere von Glowinskis Erinnerungsfeuilletons sind eindringliche Charakterstudien, exquisite Meisterstücke einer "Kunst soziologischer Feinmalerei" (Michael Rutschky). Wer zum Beispiel "Mundek" gelesen hat, das Porträt eines antisemitischen Geheimdienstmanns, der dem Autor in den späten neunziger Jahren durch einen nationalistischen Hetzartikel wieder ins Gedächtnis kam, der wird sich an dieses Stück immer erinnern, wenn man sich darüber wundert, welchen Haß und welche Bosheit totalitäre Ideologie und Systeme aus völlig unbedeutenden und fast bemitleidenswert mittelmäßigen Menschen hervorlocken können.

Überhaupt hat Glowinski einen einfühlsamen Blick für die Dämonie der Mittelmäßigkeit. "Es gibt eine Menge phantastischer E.T.A.-Hoffmann-Figuren unter den Angestellten vorgerückten Alters. Irgendwo sind sie steckengeblieben und erfüllen seitdem ununterbrochen banale Funktionen, die alles andere als unheimlich sind. Dennoch ist es, als seien diese Menschen in eine Aura des Grauens gehüllt. Sie strömt von den verwesten Kräften aus, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben", schrieb Kracauer in seinem Angestellten-Buch, mit dem Glowinskis Porträts totalitärer Beamte, Spitzel und Propagandisten auch im literarischen Rang vergleichbar sind. "Denn es waren gerade diese enttäuschten, verbitterten Menschen voller Neid und Ressentiments, die sich am leichtesten mißbrauchen ließen. Und wenn es so war, wie ich vermute, dann erscheint seine Biographie völlig logisch. Ich hatte stets Mitleid mit ihm empfunden, weil ihm in seinem Leben offenbar nie etwas gelungen war, doch gleichzeitig hatte er von Anfang an meine tiefe Abneigung geweckt", heißt es bei Glowinski über eine solche E.T.A-Hoffmann-Gestalt aus dem volksrepublikanischen Polen.

Das literarisch Schönste an diesen kleinen, zugleich leichten und schwermütigen Stücken sind ihre Schlußsätze. "Das verspätete Essen, mit dem mich meine Mutter erwartete, nahm ich mit großem Appetit zu mir" - da hat der Erzähler an Stalins Trauerzug teilgenommen; wir spüren in einem schlichten Satz, wieviel Halt die Familien dieser belagerten europäischen Zivilgesellschaft während all jener Besatzungen gegeben haben. "Im Waggon waren nur ein paar Personen verblieben, die mit mir am Danziger Bahnhof in Warschau eingestiegen waren." "Ich sah ihn nie wieder, und ich erinnere mich nicht an seinen wirklichen Namen." Sanft, aber unerbittlich werden wir von solchen Sätzen in unser eigenes Leben entlassen. Glowinskis Schlußsätze klingen, als seien sie von Sebastian Haffner und Hermann Lenz gemeinsam erfunden - oder besser: für den Abschluß dieser zugleich poetischen und soziologischen Novellen gefunden - worden.

In diesen schönen Schlüssen, die bedeutungsvoll ins Ungefähre auslaufen, summiert sich Glowinskis dokumentarisch-poetische Verfahrensweise. Wie Proust, den er schon im Titel seines Buchs zitiert, arrangiert er nichts. "Ich beuge mich immer wieder über den Brunnen der Erinnerung, doch manchmal finden sich in diesem Brunnen, wenn er auch nicht ganz leer ist, bloß unbestimmbare, labile, schwer greifbare Stoffe, die Verwirrung hervorrufen und private (und nicht nur private) Mythen und Illusionen stiften."

Michal Glowinski: "Eine Madeleine aus Schwarzbrot". Aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 170 S., geb., 19,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Rolf Michaelis hat hier "neunzehn scharfe Erzählsplitter" von Michal Glowinski über seine Jungend im stalinistischen Polen gefunden, so zum Beispiel über den gigantischen Trauerzug anlässlich Stalins Tod in Warschau, der sich in einen fröhlichen Karneval verwandelt. Der Rezensent freut sich, dass Glowinski dabei allen Versuchungen zu "burlesker Inszenierung" widersteht. Vielmehr notiere der sein Leben lang verfolgte Literaturhistoriker "fast unbeteiligt" seine oft grotesken Erlebnisse und mache sie somit zum "Gleichnis für die Lächerlichkeit" aller Schreckensherrschaften. In diesem sachlichen "Protokoll einer Heimsuchung" hat Michaelis dennoch das schöne Bild der "Madeleine aus Schwarzbrot" gefunden, das "die Erinnerungen so vieler verfolgter Menschen unserer östlichen Nachbarstaaten würzt".

© Perlentaucher Medien GmbH