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Berlin, Bundestag, Herbst 2011. Die SPD schlummert in der Opposition, als an einem Novembertag in Eisenach ein ausgebranntes Wohnmobil gefunden wird: Das Ende einer rechtsextremen Terrorzelle stellt die noch junge Berliner Republik vor nahezu unlösbare Fragen. Plötzlich zur moralischen Instanz erhoben, brilliert der Abgeordnete Andi Nair als Vorsitzender des eingesetzten Untersuchungsausschusses. Protokolliert wird das Geschehen von seinem Büroleiter Wegman Frost, der die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann und in einen Strudel von Selbstzweifeln ger...
Berlin, Bundestag, Herbst 2011. Die SPD schlummert in der Opposition, als an einem Novembertag in Eisenach ein ausgebranntes Wohnmobil gefunden wird: Das Ende einer rechtsextremen Terrorzelle stellt die noch junge Berliner Republik vor nahezu unlösbare Fragen. Plötzlich zur moralischen Instanz erhoben, brilliert der Abgeordnete Andi Nair als Vorsitzender des eingesetzten Untersuchungsausschusses. Protokolliert wird das Geschehen von seinem Büroleiter Wegman Frost, der die Verkommenheit der Verhältnisse, das Versagen der Behörden kaum fassen kann und in einen Strudel von Selbstzweifeln gerissen wird. Als Pflegekind mit ungewisser Herkunft hatte ihn sein Einsatz gegen Fremdenhass in die Politik geführt. Damit ist er nicht allein: Sein Freund aus Jugendtagen, Flo Janssen - einst als namenloses Baby aus dem brennenden Saigon ausgeflogen -, steht jetzt am Rednerpult des Reichstags und verkündet neoliberale Ideen. Der ist nicht irgendjemand, er ist der Vizekanzler.
Der neueRoman Ulf Erdmann Zieglers nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine andere Epoche erzählt von rechtem Terror, einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität. Leidenschaftliche Demokraten geraten an die Grenzen ihrer Erklärungsmuster. Sie ahnen das Ende einer Zeit, auf der ihre eigene Lebensgeschichte gegründet ist.
Der neueRoman Ulf Erdmann Zieglers nimmt in den Blick, wie dieses Land zu dem wurde, was es heute ist. Eine andere Epoche erzählt von rechtem Terror, einer Krise der Verfassung, der Wiedervereinigung und der Suche nach Identität. Leidenschaftliche Demokraten geraten an die Grenzen ihrer Erklärungsmuster. Sie ahnen das Ende einer Zeit, auf der ihre eigene Lebensgeschichte gegründet ist.
Ulf Erdmann Ziegler, geboren 1959 in Neumünster/ Holstein. Sein Roman Hamburger Hochbahn stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste, 2008 erhielt er den Friedrich-Hebbel-Preis. 2012 erschien Nichts Weißes, später nominiert für den Deutschen Buchpreis und den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, »eine neue Art realistischen Erzählens«. Ulf Erdmann Ziegler lebt in Frankfurt am Main.
Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- Seitenzahl: 253
- Erscheinungstermin: 11. August 2021
- Deutsch
- Abmessung: 211mm x 133mm x 32mm
- Gewicht: 420g
- ISBN-13: 9783518430156
- ISBN-10: 3518430157
- Artikelnr.: 61382992
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Christoph Bartmann liest eine Art "SPD-Schlüsselroman" mit dem neuen Buch von Ulf Erdmann Ziegler, das ihn zurückführt in die Jahre 2011 bis 2013. Der Rücktritt des damaligen Bundespräsidenten, das Scheitern von Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat oder die Aufdeckung der NSU-Morde spielen im Hintergrund eine Rolle, während Ziegler einer Gruppe SPD-Abgeordneter folgt: Im Mittelpunkt steht Wegman Frost, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Abgeordneten Andi Nair, der das politische Geschehen so genau beobachtet und kommentiert wie die eigenen Befindlichkeiten und die seiner Mitstreiter im Berliner Betrieb, resümiert Bartmann. Dass Ziegler nicht "moralisiert", rechnet ihm der Kritiker hoch an. Umso mehr erfreut er sich an mancher Einsicht von "Luhmannscher Dimension".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Erkennen Sie die Vorbilder?
Ein Buch für Kopf und Bauch: Ulf Erdmann Zieglers Politroman "Eine andere Epoche" beschwört die Berliner Republik um 2013 herauf.
Sieht es so aus, wenn eine Ära zu Ende geht? Während sich dieser Tage jede Menge neuer Abgeordneter um WLAN-Passwörter, Büronamensschilder und Bundestagsausweise kümmern müssen, führt uns Ulf Erdmann Ziegler, wir sind da schon fast auf der Zielgeraden seines aktuellen Romans, noch einmal das katastrophale Scheitern der Liberalen bei der Bundestagswahl 2013 vor Augen; die größte Fraktion ihrer Geschichte hatte sich damals praktisch atomisiert. "Jemand war damit beschäftigt, die Festplatten der Computer auszutauschen. Aufkleber und Wimpel aus dem Wahlkampf, alles
Ein Buch für Kopf und Bauch: Ulf Erdmann Zieglers Politroman "Eine andere Epoche" beschwört die Berliner Republik um 2013 herauf.
Sieht es so aus, wenn eine Ära zu Ende geht? Während sich dieser Tage jede Menge neuer Abgeordneter um WLAN-Passwörter, Büronamensschilder und Bundestagsausweise kümmern müssen, führt uns Ulf Erdmann Ziegler, wir sind da schon fast auf der Zielgeraden seines aktuellen Romans, noch einmal das katastrophale Scheitern der Liberalen bei der Bundestagswahl 2013 vor Augen; die größte Fraktion ihrer Geschichte hatte sich damals praktisch atomisiert. "Jemand war damit beschäftigt, die Festplatten der Computer auszutauschen. Aufkleber und Wimpel aus dem Wahlkampf, alles
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blau und gelb, füllten einen ganzen Karton, auf dem mit einem fetten Edding 'weg!' geschrieben stand." Auf den ersten Blick ist "Eine andere Epoche" ein Schlüsselroman über die Nachtseiten des politischen Milieus der Berliner Republik - zeitlich reicht das vom Auffliegen des NSU-Terrortrios im November 2011 und dem sich anschließenden Untersuchungsausschuss über den Rücktritt von Bundespräsident Christian Wulff bis zum Ende der steilen politischen Karriere des Bundeswirtschaftsministers und Vizekanzlers Philipp Rösler und der Affäre um den NSU-Untersuchungsausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy, der Anfang Februar 2014 zurücktrat, nachdem ihm der Besitz kinderpornographischen Materials vorgeworfen worden war.
Erzählt wird von der komplexen Mechanik der Ausschüsse, Seilschaften und Freundschaften, diesen "Schmieden des politischen Willens", aus der Perspektive eines kleinen Rädchens im Betrieb, der einen sprechenden Namen trägt: Wegman Frost, Babyboomer mit SPD-Parteibuch, Liebe zu dezentem Luxus und einer ersten kahlen Stelle am Hinterkopf. Er ist Büroleiter des dem realen Edathy nachempfundenen Bundestagsabgeordneten Andreas Nair und ein Mann im Hintergrund, der gut darin ist, "Thesenpapiere in volkstümliche Rede" umzuschreiben. Dass Ziegler mehr vorhat, als die in langen Magazingeschichten und politischen Sachbüchern literarisch aufpolierten Haupt- und Staatsaktionen noch einmal als XXL-Puzzle nachzubauen, wird schnell deutlich; etwa wenn Frost auf der ersten Seite des Romans einer Bundestagsdebatte über den Hausfunk folgt - und glaubt, den Applaus auf den Regierungsbänken vom Klatschen der Opposition unterscheiden zu können: "Einfach durch den Klang. Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich."
Zieglers schon in seinen beiden ersten Romanen "Hamburger Hochbahn" und "Nichts Weißes" sichtbare Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Realitätssplittern ein Bild jener entschwundenen alten Bundesrepublik zusammenzusetzen, ohne die die neue nicht zu begreifen ist, hat er inzwischen beinahe zur Perfektion vervollkommnet. Auch "Eine andere Epoche" lässt sich als Entwicklungsroman lesen, dessen Kraftzentrum die biographischen Prägungen wie die politische Sozialisation Wegman Frosts sind. "In die Politik gerät man nicht, man will das", weiß Frost, dem die Ikonen der alten BRD stets näher waren als anderen seiner Generation und der den "Stern" bereits durchblätterte, bevor er flüssig lesen konnte. Doch erst als er im Herbst 2013 zusieht, wie die geschockten Liberalen fluchtartig ihre Büros verlassen, geht ihm auf, warum er im Büro eines Abgeordneten gelandet ist: "Es war so etwas wie der Wunsch, in der Sorge um das eigene Haus seine Form zu finden", eine "Genugtuung in der väterlichen Rolle, oder wenn nicht Genugtuung, dann Entschlossenheit. Nie, niemals würde man sich das Haus noch einmal anzünden lassen."
Kein Zufall, dass alles als Freundschaftsgeschichte vaterlos aufgewachsener Adoptivkinder in der norddeutschen Provinz beginnt: Wegman, der "halbe Indianer", Sohn einer Deutschen und eines Native American, nach brutalem Scheitern von deren Liebe mit sechs Jahren bei einem Onkel in Bückeburg abgegeben, ist fasziniert von seinem Schulkameraden Flo Janssen, Spitzname Kung Fu, der Philipp-Rösler-Figur des Romans: Der aus einem vietnamesischen Kinderhospital Gerettete hält als Quintaner flammende Reden für die Aufrüstung der Bundesrepublik. Was ihn nicht hindert, gemeinsam mit Wegman einen Vertrauenslehrer als NPD-Parteigänger zu entlarven. Auf einer Schülertagung der Evangelischen Akademie Loccum erweitert sich das Duo um den nur wenig älteren Juso Andi Nair zum exotischen Trio.
Loccum wird zum intellektuellen Erweckungserlebnis: "Beim Mittagessen standen Sonnenstrahlen diagonal im Raum; man sah tausende von Partikeln darin schweben wie Stellvertreter noch nicht ausgebrüteter Gedanken." Später wird man den achtzehnjährigen Wegman im SPD-Straßenwahlkampf wiedertreffen; die Jungen - Mädchen sind selten dabei - pilgern wandervogelgleich auf die Hohe Asch und nach Talle, wo ihr Idol, Gerhard "Acker" Schröder, auf dem Bolzplatz kickte. "Um Mitternacht besah sich Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in die Politik zu gehen."
Ziegler hat die Latte hoch aufgelegt. In in den Erzählfluss eingestreuten "Versuchen" analysiert er medien- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge, stilistisch brillant schaltet er mal Bonner und Berliner Republik zusammen, mal das von Beate Zschäpe angezündete Haus in Zwickau und das Wulff'sche Anwesen in Großburgwedel: "Hier droht das schwarze ostdeutsche Loch; dort glotzt das westdeutsche Vorstadthaus wie verfolgte Unschuld. Tragödie oder Melodram, Komplettsanierung des moralischen Inventars oder ein täglicher Schluck magenbitterer Empörung: die Republik wird sich entscheiden müssen." Doch "Eine andere Epoche" ist ein Buch für Kopf und Bauch: Mit wenigen sicheren Strichen gelingen Ziegler immer wieder tiefenscharfe Milieustudien und Figuren, die einem mit ihren Abgründen und geheimen Sehnsüchten lange beschäftigen. Dazu gehören neben Andi Nair, der als Jugendlicher offensichtlich Opfer "heimlicher, männerbündischer Homosexualität" wurde, auch die Immobilien-Managerin Marion und deren Tochter Ellie. Eine unerwartete Liebe, die für den Solitär Frost "das Optimum an Trost" bedeutet. Auch Marion, das zweite von vier Kindern eines Pastors im Holsteinischen, hat sich aus provinzieller Enge herausgearbeitet; ihr Weg führt vom Sparkassen-Container in Hoyerswerda bis in die von Alphamännern dominierten Banker-Kreise New Yorks; der Vater ihrer Tochter stirbt 2001 kurz nach Ellies Geburt in einem der Zwillingstürme des World Trade Center. In den Gesprächen mit der Elfjährigen, die einem als etwas zu drollig übersteuerte Echos der Unterhaltungen zwischen Dietrich Erichson ("D. E.") und Marie Cresspahl in Johnsons "Jahrestagen" vorkommen, kann sich Wegman allmählich von seinen eigenen Kindheits-Traumata befreien.
Gegen Ende dieses großen Romans, das dritte Kabinett der Kanzlerin Merkel ist längst vereidigt, bekommt der ewig zweifelnde Jedermann Wegman Frost ein Exemplar von Hannah Arendts "Über die Revolution" unter den Tannenbaum gelegt. Wird ihn Arendts "warmherzige Erbarmungslosigkeit" befähigen, seinen Blick für die Zeichen der Zeit zu schärfen? Wird er in der Lage sein, die eigene Vorgeschichte nicht als "Kette von Verhängnissen", sondern seinen ureigenen "lautlosen Antrieb" zu begreifen? Wir wissen es nicht. Doch wir können, frei nach Brecht, einiges lernen von denen, die, wie Wegman, "für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten". NILS KAHLEFENDT
Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Erzählt wird von der komplexen Mechanik der Ausschüsse, Seilschaften und Freundschaften, diesen "Schmieden des politischen Willens", aus der Perspektive eines kleinen Rädchens im Betrieb, der einen sprechenden Namen trägt: Wegman Frost, Babyboomer mit SPD-Parteibuch, Liebe zu dezentem Luxus und einer ersten kahlen Stelle am Hinterkopf. Er ist Büroleiter des dem realen Edathy nachempfundenen Bundestagsabgeordneten Andreas Nair und ein Mann im Hintergrund, der gut darin ist, "Thesenpapiere in volkstümliche Rede" umzuschreiben. Dass Ziegler mehr vorhat, als die in langen Magazingeschichten und politischen Sachbüchern literarisch aufpolierten Haupt- und Staatsaktionen noch einmal als XXL-Puzzle nachzubauen, wird schnell deutlich; etwa wenn Frost auf der ersten Seite des Romans einer Bundestagsdebatte über den Hausfunk folgt - und glaubt, den Applaus auf den Regierungsbänken vom Klatschen der Opposition unterscheiden zu können: "Einfach durch den Klang. Aber das ist etwas jenseits der Politik, das behält Wegman Frost für sich."
Zieglers schon in seinen beiden ersten Romanen "Hamburger Hochbahn" und "Nichts Weißes" sichtbare Fähigkeit, aus einer Vielzahl von Realitätssplittern ein Bild jener entschwundenen alten Bundesrepublik zusammenzusetzen, ohne die die neue nicht zu begreifen ist, hat er inzwischen beinahe zur Perfektion vervollkommnet. Auch "Eine andere Epoche" lässt sich als Entwicklungsroman lesen, dessen Kraftzentrum die biographischen Prägungen wie die politische Sozialisation Wegman Frosts sind. "In die Politik gerät man nicht, man will das", weiß Frost, dem die Ikonen der alten BRD stets näher waren als anderen seiner Generation und der den "Stern" bereits durchblätterte, bevor er flüssig lesen konnte. Doch erst als er im Herbst 2013 zusieht, wie die geschockten Liberalen fluchtartig ihre Büros verlassen, geht ihm auf, warum er im Büro eines Abgeordneten gelandet ist: "Es war so etwas wie der Wunsch, in der Sorge um das eigene Haus seine Form zu finden", eine "Genugtuung in der väterlichen Rolle, oder wenn nicht Genugtuung, dann Entschlossenheit. Nie, niemals würde man sich das Haus noch einmal anzünden lassen."
Kein Zufall, dass alles als Freundschaftsgeschichte vaterlos aufgewachsener Adoptivkinder in der norddeutschen Provinz beginnt: Wegman, der "halbe Indianer", Sohn einer Deutschen und eines Native American, nach brutalem Scheitern von deren Liebe mit sechs Jahren bei einem Onkel in Bückeburg abgegeben, ist fasziniert von seinem Schulkameraden Flo Janssen, Spitzname Kung Fu, der Philipp-Rösler-Figur des Romans: Der aus einem vietnamesischen Kinderhospital Gerettete hält als Quintaner flammende Reden für die Aufrüstung der Bundesrepublik. Was ihn nicht hindert, gemeinsam mit Wegman einen Vertrauenslehrer als NPD-Parteigänger zu entlarven. Auf einer Schülertagung der Evangelischen Akademie Loccum erweitert sich das Duo um den nur wenig älteren Juso Andi Nair zum exotischen Trio.
Loccum wird zum intellektuellen Erweckungserlebnis: "Beim Mittagessen standen Sonnenstrahlen diagonal im Raum; man sah tausende von Partikeln darin schweben wie Stellvertreter noch nicht ausgebrüteter Gedanken." Später wird man den achtzehnjährigen Wegman im SPD-Straßenwahlkampf wiedertreffen; die Jungen - Mädchen sind selten dabei - pilgern wandervogelgleich auf die Hohe Asch und nach Talle, wo ihr Idol, Gerhard "Acker" Schröder, auf dem Bolzplatz kickte. "Um Mitternacht besah sich Wegman in seinem abgeschlossenen Zimmer nackt im Spiegel, band seine Haare hinter dem Kopf wie ein Mädchen und fand sich sehr schön. Er beschloss, in die Politik zu gehen."
Ziegler hat die Latte hoch aufgelegt. In in den Erzählfluss eingestreuten "Versuchen" analysiert er medien- und gesellschaftspolitische Zusammenhänge, stilistisch brillant schaltet er mal Bonner und Berliner Republik zusammen, mal das von Beate Zschäpe angezündete Haus in Zwickau und das Wulff'sche Anwesen in Großburgwedel: "Hier droht das schwarze ostdeutsche Loch; dort glotzt das westdeutsche Vorstadthaus wie verfolgte Unschuld. Tragödie oder Melodram, Komplettsanierung des moralischen Inventars oder ein täglicher Schluck magenbitterer Empörung: die Republik wird sich entscheiden müssen." Doch "Eine andere Epoche" ist ein Buch für Kopf und Bauch: Mit wenigen sicheren Strichen gelingen Ziegler immer wieder tiefenscharfe Milieustudien und Figuren, die einem mit ihren Abgründen und geheimen Sehnsüchten lange beschäftigen. Dazu gehören neben Andi Nair, der als Jugendlicher offensichtlich Opfer "heimlicher, männerbündischer Homosexualität" wurde, auch die Immobilien-Managerin Marion und deren Tochter Ellie. Eine unerwartete Liebe, die für den Solitär Frost "das Optimum an Trost" bedeutet. Auch Marion, das zweite von vier Kindern eines Pastors im Holsteinischen, hat sich aus provinzieller Enge herausgearbeitet; ihr Weg führt vom Sparkassen-Container in Hoyerswerda bis in die von Alphamännern dominierten Banker-Kreise New Yorks; der Vater ihrer Tochter stirbt 2001 kurz nach Ellies Geburt in einem der Zwillingstürme des World Trade Center. In den Gesprächen mit der Elfjährigen, die einem als etwas zu drollig übersteuerte Echos der Unterhaltungen zwischen Dietrich Erichson ("D. E.") und Marie Cresspahl in Johnsons "Jahrestagen" vorkommen, kann sich Wegman allmählich von seinen eigenen Kindheits-Traumata befreien.
Gegen Ende dieses großen Romans, das dritte Kabinett der Kanzlerin Merkel ist längst vereidigt, bekommt der ewig zweifelnde Jedermann Wegman Frost ein Exemplar von Hannah Arendts "Über die Revolution" unter den Tannenbaum gelegt. Wird ihn Arendts "warmherzige Erbarmungslosigkeit" befähigen, seinen Blick für die Zeichen der Zeit zu schärfen? Wird er in der Lage sein, die eigene Vorgeschichte nicht als "Kette von Verhängnissen", sondern seinen ureigenen "lautlosen Antrieb" zu begreifen? Wir wissen es nicht. Doch wir können, frei nach Brecht, einiges lernen von denen, die, wie Wegman, "für die Kommas zuständig sind und für die Fußnoten". NILS KAHLEFENDT
Ulf Erdmann Ziegler: "Eine andere Epoche". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»In seinem herausragenden Roman Eine andere Epoche erzählt Ulf Erdmann Ziegler von einem Wendepunkt in der jüngsten deutschen Geschichte. ... Mit feinsten Sensoren liest Ziegler die Codes des politischen Redens aus, und die Tragik eines öffentlichen Lebens wird in großer Lakonie dargestellt.« Paul Jandl Neue Zürcher Zeitung 20211201
Rädchen im Getriebe
Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als …
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Rädchen im Getriebe
Man ist unwillkürlich an Koeppens «Treibhaus» erinnert bei dem neuen Roman von Ulf Erdmann Ziegler, der unter dem Titel «Eine andere Epoche» vom Parlamentarismus in Deutschland erzählt. Hier geht es um weniger dramatische Ereignisse als 1953, wo in Bonn die Wiederbewaffnung zur Abstimmung anstand. Handlungsort ist nun natürlich Berlin, Handlungszeit sind die Jahre 2011 bis 2014, die SPD befand sich damals in der Opposition. Eine parteinahe Politikberaterin konstatierte lapidar: «Dass die SPD überhaupt einen Kanzler-Kandidaten aufstelle, zeuge von Wunderglauben». Auch wenn viele politische Akteure mit Klarnamen benannt sind, kann man das Buch durchaus als Schlüsselroman lesen.
Wegman Frost ist Büroleiter des SPD-Bundestags-Abgeordneten Andi Nair, der schon viermal das Direktmandat für seinen Wahlkreis nahe Hannover gewonnen hat, sein alter Freund aus Jugendtagen. Zu der damaligen Clique gehörte auch Flo Jansen, der einst als Kind aus Saigon gerettet wurde, nach dem Studium bei der FDP gelandet ist und nun als Wirtschaftsminister und Vizekanzler am Kabinettstisch sitzt. Erzählt wird aus der Perspektive Wegmans, der sich scherzhaft als ‹Indianer› bezeichnet, weil er aus einer Reservation in Idaho stamme, er wurde aber in Deutschland bei Pflegeeltern aufgezogen. Die Drei haben sich in Schaumburg-Lippe kennengelernt, nahe von Gerhard Schröders Geburtsort.
In der politischen Chronik jener Jahre gibt es einige markante Ereignisse, die der Autor strikt aus dem Blickwinkel seiner Figuren heraus schildert. Da ist vor allem der Rücktritt des Bundespräsidenten Christian Wulff, den die gegen ihn gerichtete Medien-Kampagne zur Aufgabe des Amtes bewogen hat. Später wurde er jedoch wegen des Vorwurfs der Vorteilsnahme vor Gericht freigesprochen. Ein großes Thema jener Jahre war auch die NSU-Affäre, die in einem Untersuchungs-Ausschuss unter dem Vorsitz von Andi Nair natürlich nicht aufgeklärt werden konnte. Alle Zeugen aus den Reihen von Polizei und Staatsschutz haben ‹gemauert›, um ihr eigenes Unvermögen und ihre hanebüchenen Fehler zu vertuschen. Ein Kollege aus der SPD Bundestags-Fraktion gerät wegen Besitz von Crystal Meth in die Schlagzeilen, und ganz zum Schluss verlässt einer der Protagonisten wegen offensichtlich berechtigter, schwerer Vorwürfe fluchtartig den Reichstag.
Kennzeichnend für Zieglers Erzählweise ist, dass er gerade den karriere- und bedeutungsmäßig am wenigsten hervorstechenden Wegman Frost in den Mittelpunkt stellt. Er ist Angestellter seines Freundes Andi Nair und arbeitet ihm zu, schreibt Reden für ihn und hält ihn auf dem Laufenden über die politische Stimmungslage hinter den Kulissen. Auch privat ist er eher eine unscheinbare Figur ohne Charisma, ein Wunder geradezu, dass sich die toughe Immobilien-Maklerin Marion mit ihm einlässt, ihn sogar bald schon in ihre noble Wohnung einziehen lässt. Deren altkluge Tochter Elli, in der man Uwe Johnsons Marie Cresspahl zu erkennen glaubt, versteht sich von Anfang an sehr gut mit Wegman und verwickelt ihn wissbegierig in manchmal allerdings gar zu tiefsinnig erscheinende Debatten zu Themen jenseits der Politik. Auffallen ist, dass Marion und auch ihre elfjährige Tochter als Charaktere ziemlich blass bleiben. Was übrigens auch für alle anderen, fast durchweg politischen Akteure gilt, deren Privatleben weitgehend ausgeklammert ist. Einzig Wegmans häufige Tagträume enthalten für ihn produktive Aspekte über die Tretmühle des politischen Alltags hinaus. Der Autor schreibt in einer angenehm lesbaren, klaren Sprache aus Sicht seines Helden, wobei er sich aber jeder moralischen Wertung enthält. Wegman Frost agiert als kleines Rädchen im Getriebe der großen Politik, er ist lediglich ein auf kleinste Details achtender Berichterstatter mit einem untrüglichem Sinn für politische Stimmungen. Und dass er sich am Ende sogar vornimmt, jetzt unbedingt mal Hannah Arendts Werk «Über die Revolution» zu lesen, ist fast schon ein revolutionärer Akt für ihn.
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