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Drei Märchen der Brüder Grimm verwandelt Ulrich Zieger in ein Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Spione, Detektive, Mörder. Rudi Carrell, der Tiger von Eschnapur und andere vergessene Helden. Das ist Literatur für wilde Geister und wache Stunden. Bis ins Realistische surreale Geschichten von Engeln und Eigenbrötlern sind Ziegers Metier: in den achtziger Jahren spielte er in der freien Gruppe »Zinnober« im Prenzlauer Berg Anton Tschechow, schrieb Theaterstücke und Anfang der Neunziger das Drehbuch zu Wim Wenders' Film 'In weiter Ferne so nah'. Zehn Jahre hat Ulrich Zieger…mehr

Produktbeschreibung
Drei Märchen der Brüder Grimm verwandelt Ulrich Zieger in ein Gesellschaftspanorama des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Spione, Detektive, Mörder. Rudi Carrell, der Tiger von Eschnapur und andere vergessene Helden. Das ist Literatur für wilde Geister und wache Stunden. Bis ins Realistische surreale Geschichten von Engeln und Eigenbrötlern sind Ziegers Metier: in den achtziger Jahren spielte er in der freien Gruppe »Zinnober« im Prenzlauer Berg Anton Tschechow, schrieb Theaterstücke und Anfang der Neunziger das Drehbuch zu Wim Wenders' Film 'In weiter Ferne so nah'. Zehn Jahre hat Ulrich Zieger nun an diesem Prosawerk gearbeitet und einen monumentalen Roman geschaffen, der mitten in der Zeit steht, in die er nicht gehören will.
Autorenporträt
Zieger, UlrichUlrich Zieger, geboren 1961 in Döbeln, lebte nach Jahren in Berlin seit 1989 in Montpellier. Er schrieb Prosa und Lyrik, übersetzte Jean Genet und Friedenspreisträger Boualem Sansal aus dem Französischen und schrieb neben einer Vielzahl von Theaterstücken das Drehbuch zu Wim Wenders' Film 'In weiter Ferne, so nah', der 1993 mit dem Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichnet wurde. Für seine literarische Arbeit erhielt er 1991 den Nicolas-Born-Preis für Lyrik und 2000 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung. Bei S. Fischer erschien von ihm 2015 der Roman 'Durchzug eines Regenbandes'.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2015

In unseren Märchen, so nah
Ulrich Ziegers Roman „Durchzug eines Regenbandes“ ist inspiriert vom Himmel über Berlin,
Peter Kraus und Roy Black, Nosferatu und Mabuse. Deutsche Fantasy, mit dem Rücken zur Zeitgeschichte
VON HELMUT BÖTTIGER
Früher war es wohl üblicher, mit den Jahrhunderten zu spielen. Ulrich Zieger knüpft ganz selbstverständlich daran an. Er scheint sich völlig außerhalb der Zeit zu bewegen, er knipst Lichter aus dem 19. Jahrhundert an und solche aus dem 18. Jahrhundert, und vereinzelt glimmen sogar Funzeln aus dem Mittelalter auf. Wenn man sein ausschweifendes Buch „Durchzug eines Regenbandes“ liest, reibt man sich verwundert die Augen: Sind das die Brüder Grimm? Sind wir hier in einer Unterabteilung Stifters gelandet, oder in der mit einigen dürftigen Stofffetzen ausgeschlagenen Nische Wilhelm Raabes? Die Sätze und Dialoge mäandrieren in einem behaglichen, sorgsam verschnörkelten Erzählduktus vor sich hin. Dieser Autor schert sich um überhaupt keine Konventionen der Gegenwart.
  Es wird erzählt und räsoniert und sehr viel gesprochen. Die Figuren scheinen eher etwas mit gattungs- und motivgeschichtlichen Urgründen zu tun zu haben als mit psychologischem oder gesellschaftlichem Feinschliff. Und wie es sich für solch eine gewaltige Ansammlung von Stoffballen und Materialien gehört, besteht sie aus drei etwa gleich großen Teilen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben.
  Im ersten Teil befinden wir uns in einer südfranzösischen Stadt in der Nähe des Mittelmeers, und ein etwas mysteriöser Skribent, dem in einer Art Traumlogik der Name „Norden“ zugeteilt wird, erhält einen noch mysteriöseren Besuch. Ein etwas derangierter jüngerer Mann in „schon leicht verschossenem Grau“ erzählt eine bizarre Geschichte: Er gehört dem nahezu unbekannten Stamm der „Lapislazuli“ an und ist von der Insel Bienitz geflohen, in der eine Militärdiktatur mit skurrilen Riten (die Kleidung etwa besteht ausschließlich aus Papier) die Macht übernommen hat. Die Obsessionen des Mannes kulminieren in einer Figur mit Namen „Schal“. Das mutet alles ein bisschen wie Fantasy an, aber die Sprache wirkt an manchen Stellen verdächtig ausgefeilt, sie arbeitet bewusst mit Theaterdonner, und einige Versatzstücke, die auf die unmittelbare Gegenwart hinweisen, irritieren allzu eindeutige Zuordnungen.
  Auffallend sind die gelegentlichen Anspielungen auf deutsche Märchen. Sie verweisen auf romantisch-beseelte Welten, die eine geheime Verbindung zu entrückten Gegenwartskünstlern wie Peter Handke oder Wim Wenders herstellen. Zu dessen Film „In weiter Ferne, so nah“ aus dem Jahr 1993 schrieb Ulrich Zieger das Drehbuch, und so, wie damals die Wendersschen Engel zum Manieristischen und Innerlich-Spekulativem tendierten, liest sich auf weite Strecken auch der vorliegende Roman. Der Autor gehörte in den Achtzigerjahren zur DDR-Szene in Prenzlauer Berg, und seine spezifisch östliche Prägung schimmert in den weiteren Hauptteilen des Buches durch.
  Schauplatz des zweiten Teils ist ein DDR-Provinzstädtchen in den Sechzigerjahren, mit einem Schlagersänger als Ich-Erzähler. Das Ambiente ist ähnlich zeitlos wie am Anfang, auch auf diesem der DDR zugewiesenen Territorium spielen sich vor allem ländliche und verquere Genreszenen ab, mit sinnsuchenden Individuen, schicksalsträchtigen Konstellationen und kräftigen Landschaftsbildern. Während in der südfranzösischen Exklave aber ein altdeutscher Gedächtniston mit Schauer-Rhetorik vorherrscht, verlegt sich die Sehnsucht jetzt auf die deutsche Unterhaltungsästhetik der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Ted Herold, Peter Kraus und vor allem Roy Black als tragische Figur tauchen auf, übermalt von DDR-Pendants wie Bärbel Wachholz, und heimlich finden die Libellen“ deutsche Texte zu den Beatles -Hits, aus „Baby you can drive my car“ wird der „Knüller“ „Du hast langes blondes Haar“, „auf den die Leute auf der Tanzfläche schon fast hysterisch reagieren“. Auch hier lädt sich also eine vergangene Zeit romantisch auf, nur dass die Medienarchäologie jetzt süffiger und ironischer daherkommt. Aufgemotzt wird die Geschichte durch die Fotografie einer ätherischen Schönheit, auf deren Suche sich der Protagonist macht, in einem dreckigen Landwirtschaftsnest namens Schmielda stößt er auf eine aparte, rot gewandete ältere Dame, die wie eine farbechte Ufa-Dekoration wirkt und auf schier tragische Weise weiterhilft.
  Der Protagonist des dritten Teils spricht aus den Jahren nach dem Fall der Mauer. Er lebt als bildender Künstler am Stadtrand und ist Fan von alten Filmen. Der Schauspieler Max Schreck wird programmatisch aufgerufen, Stummfilmmythen wie Nosferatu und Dr. Mabuse definieren ein Lebensgefühl. Aber das Ganze bleibt nicht beim tradierten Bildungsgut stehen, denn es sind vor allem auch Fernsehserien wie „Der Kommissar“ oder „Derrick“, die zum Parcours für Lebensläufe und Identifikationsmodelle werden. Und die geheimnisumwitterte Handlung mit einer dubiosen Doppelgängerfigur namens Mokosch bleibt im Genre, lässt aber mit Ausflügen auf Vernissagen und in gut abgehangene Künstlereinsamkeiten erkennen, dass das längst nicht alles ist.
  Der „Durchzug eines Regenbandes“ wird am Ende des ersten Teils in einem südfranzösischen Wetterbericht vorausgesagt. Danach wird wieder blauer Himmel herrschen. So ist auch dieser Roman gedacht: Die drei Teile haben die Unterbezeichnungen „links“, „Mitte“ und „rechts“, und wenn sie am Leser vorbeigezogen sind, herrscht wieder das landläufige Alltagsblau. Die drei Hauptteile sind nur äußerst lose verknüpft: durch das zufällige Wiederauftauchen einzelner Personen sowie durch kleine Motive und Wiedererkennungseffekte. Gemeinsam ist ihnen aber ein bestimmter Retro-Schick: Alte Gefühle und klassisch gewordene Kunstformen werden in die Gegenwart versetzt und wirken seltsam irrlichternd. Daneben gibt es auch Kalauer und einen recht bodenständigen Witz, und Wortspiele wie „Aus Neugier wird Altgier“ scheinen ein geradezu poetologisch-selbstironisches Potenzial zu entwickeln.
  Das zeitlose Bild des romantischen, verkannten und doch bei sich bleibenden Künstlers wird auf drei verschiedene Weisen, aber mit derselben hingebungsvollen und kaum gebrochenen Satzmelodie umspielt. Das zitiert jene altdeutschen Gefühle, die in der DDR überwintert haben und in denen die Literatur eine ungeahnte existenzielle Dimension bekommen konnte. Selbst die Popkultur, die bei Ulrich Ziegers westlichen Generationspendants fast ausschließlich zu Exaltationen der Gegenwart führte, dient ihm als willkommener Anlass, ein raunendes Beschwören des Imperfekts zu aktualisieren.
  Von Carl Spitzweg gibt es ein ahnungsvolles Gemälde aus dem Revolutionsjahr 1848, auf dem ein Gnom von einer hoch gelegenen Berghöhle aus vorwitzig eine im Tal dahinbrausende Eisenbahn betrachtet. Von dieser Art ist auch die Ästhetik Ulrich Ziegers. Er kümmert sich nicht um zeitgenössische Erzähldiskurse und sichert sich nicht theoretisch ab. Er verflicht, mit dem Rücken zur Zeitgeschichte, unablässig grobe und feine Fäden: Versponnen ist das und ein bisschen abseitig, unbekümmert, aber durchaus nicht naiv. Und es ist sympathisch, dass es die Erinnerung daran weckt, was Literatur wohl einmal gewesen sein könnte.   
Wie könnte der Beatles-Hit
„Baby you can drive my car“
auf Deutsch lauten?
Otto Sander in Wim Wenders’ Film „In weiter Ferne, so nah“ aus dem Jahr 1993, für den Ulrich Zieger das Drehbuch schrieb.
Foto: imago
        
  
  
  
  
Ulrich Zieger: Durchzug eines Regenbandes. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 688 Seiten, 26 Euro. E-Book 22,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Oliver Jungen ist ein Seher. Er sieht zum Beispiel, dass dieser Roman von Ulrich Zieger seine Zeit noch vor sich hat. Gut, dass Jungen uns schon mal vorbereitet auf ein monumentales Buch mit gleich drei recht eigenständigen, zugleich motivisch und über ihr Personal miteinander verzahnten Teilen, in denen der Autor von Vorurteilen, Doppelgängern, Udo Jürgens, Einsamkeit, Hölle, Welt und Paradies erzählt. Ziegers barocke Fabulierkraft und sein Kompositionsvermögen hauen den Rezensenten schier um. Und auch wenn es ihm schließlich gelingt, im Text christliche Ikonografie nachzuweisen, das Hauptvergnügen besteht für ihn doch wohl im hingebungsvollen Mitfantasieren zwischen seltenen Worten und kulturgeschichtlichen Exkursen, wenn es im Buch um die Brüchigkeit des Vertrauens in die Menschlichkeit geht, um Verdacht und Zweifel, wie Jungen erläutert.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.12.2015

Himmel und Höhle

Herrliche Trugbilder: Der große Roman "Durchzug eines Regenbandes" des frühverstorbenen Ulrich Zieger erzählt das zwanzigste Jahrhundert als fabulierlustige Märchenvariation.

Diese Rezension kommt verspätet. Und dann geht es auch noch um ein Buch, das sich nicht einfach lesen lässt, sondern nur Seite für Seite verinnerlichen, indem man alle Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, ein Buch, mit dem man ringt, das man verwünscht für seine Abschweifungen und Verdichtungen. Begründet ist die Furcht, das Entscheidende zu verpassen zwischen detailreichen allegorischen Phantastereien (etwa das in mancher Hinsicht an die DDR, in anderer an den Nationalsozialismus erinnernde politische System auf der Insel Bienitz, in welcher der Volksstamm der Lapislazuli als gedemütigte Minderheit Papierkleidung zu tragen hat) und den als Nostalgie getarnten, aber epistemisch gemeinten Tiefenbohrungen in die Film- und Kulturgeschichte (Murnaus "Nosferatu", Truffauts "Fahrenheit 451" und die Serie "Derrick" sind die wichtigsten Bezugsgrößen, die jeweils ganze Epochen kennzeichnen: das Dämonische als Volksbedrohung, der Aufstand des Intellekts gegen die Infantilisierung und der fanatische Ordnungssinn aus der Feder eines ehemaligen NS-Propagandisten).

Es gibt diese Bücher, die man unendlich oft entnervt zuklappt, aber ebenso oft wieder öffnet, weil da Sätze waren, die sich eingehakt haben in ihrer eigentümlichen und doch vollendeten Formulierung: "Das Leben kennt solche Momente in Fülle, wie man weiß, handelt es sich bei ihrer Summe um die fälschlich vergessene Fülle des Lebens, da man sich später meist außerstande sieht, sich in Erinnerung zu rufen, wie es überhaupt zu ihnen kommen konnte." Oder auch: "Die Armen dieser Welt waren stets die Phantome ihrer besitzenden Urheber gewesen, die sie ihrerseits am liebsten abgeschafft und deportiert gesehen hätten. Sie waren ihre Doppelgänger in Lumpen und Löffel." Der Autor jongliert dabei mit kostbaren, vom Aussterben bedrohten Worten wie Lappner, Meuchelmörder, Häscher, Leihbücherei, Hemmschuh, Knilch, Geldkatze oder Entwegung. Es handelt sich um destillierte Spätromantik, um einen Blick aus der Tiefe der Zeit auf die Gegenwart des Deutschen. Niemand schrieb, schreibt oder wird je schreiben wie Ulrich Zieger, der vor wenigen Monaten unerwartet früh gestorben ist (F.A.Z. vom 27. Juli). Er hat seinen Stil in der Prenzlauer-Berg-Szene der späten DDR geschliffen, aber das ist noch keine Erklärung für die Schönheit dieser Sprache. Zieger ist einer der größten Wortästheten deutscher Sprache, ein Tonsetzer im besten Sinne. Die Töne sind nicht erfunden, sondern abgelauscht, aber in ganz eigener Weise zu Kompositionen zusammengefügt. Für seinen großen Roman hat er sich zehn Jahre Zeit genommen.

Drei Romane sind es recht eigentlich, qua Motivik und Personal verschleift, die einem Altarbild gleich die große Wendezeit, das zwanzigste Jahrhundert, abbilden - und zwar von innen heraus als unverfälschte, aber auch unfokussierte Wort-Bild-Collage. Nur vage folgt der Aufbau der christlichen Ikonographie, lassen sich die drei Teile des Triptychons den Bereichen Hölle, Welt und Paradies zuordnen. Es wird vielmehr dreimal - sich jeweils einem der bekanntlich nah am Kern der deutschen Seele angesiedelten, bei genauer Lektüre jedoch in den Händen zerfallenden Märchen der Brüder Grimm anheimgebend - eine ähnliche Geschichte erzählt: Es sind drei Protokolle des Verdachts, der schleichenden Zersetzung und inneren Aushöhlung durch Versagen des Vertrauens in die Menschlichkeit. Zweifel und Verdacht fungieren wohl zu Recht als zentrale Kennzeichen jenes Jahrhunderts, an dessen Saum wir noch hängen, das hier aber zugleich als Höhe- und Endpunkt der deutschen Kultur aufscheint, als Aufbäumen vor der Versandung im Floskelhaften, als letzte Chance zur Verbrüderung. Dialektik der Moderne.

Die erste Geschichte, in Südfrankreich angesiedelt (Ziegers Wohnort), stellt das lange Geständnis eines Mordes dar. Bei einem Journalisten namens Norden taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, geboren in den Zeiten der großen Fischregen, der sich Weh-Theobaldy nennt. Er berichtet unzusammenhängend von den Zuständen auf Bienitz, von Revolten und der Nachkriegsordnung in der Diaspora, in der "die Kleinheinrichs" weiterhin das Sagen haben und "die Lapislazuli" unterjochen. Dabei wird eine Figur namens Hajo Schal sichtbar, die aber bald noch ganz andere Namen trägt. Dieser Agent soll im Kreuzungspunkt der Ereignisse stehen, der Apokalypse vorgearbeitet haben durch die Stimulierung eines Bürgerkriegs. Ganz klar wird sein Tun so wenig wie seine Schuld, aber doch trägt er in der Erzählung immer deutlicher Züge des Antichrist, und Norden, Mitglied der aufbauschenden Journaille, wird ergriffen von der komplexen Verschwörungstheorie. Das Märchen "Frau Trude" liegt dabei zugrunde, in dem ein vorwitziges Kind einer Hexe an den Kopf wirft, in ihr den Teufel gesehen zu haben, und dafür verbrannt wird.

Die zweite Geschichte - hier wieder unzulässig reduziert - spielt in der ehemaligen DDR im Jahre 1969 und ist eine sehr freie "Dornröschen"-Variation aus der Perspektive des Prinzen. Eine alte Nachbarin verschwindet eines Tages, doch dem jugendlichen Helden namens Harro Mittwich fällt in ihrem Haus das Bild einer jungen, schönen Frau in die Hände. Er kommt an ihre Adresse und schreibt Briefe an die Dame, wird sich jedoch abgrundtief in der dunklen Geschichte der alten Frau verstricken. Zwar verfehlen Prinz und Königstochter hier einander, aber das steht durchaus im Einklang mit der Grimm-Vorlage, wie der Held erfährt. Denn der Kuss des Prinzen, die Liebe, hat keinen Einfluss auf die Handlung: "Der Bann wird nämlich nicht gebrochen, er endet ganz einfach. Die hundert Jahre sind vorbei." Für den Helden, der an die Botschaften von Udo-Jürgens-Songs glaubte, kommt diese Desillusionierung nur der Enttäuschung gleich, welche die Menschheit befallen haben muss, als man erkannte, dass der Mond keine Atmosphäre hat, alle Romantik eine billige Erfindung war: "nur Sand, Staub und Steine".

Im dritten Teil, diesmal im norddeutschen "Flachland" der jüngeren Vergangenheit angesiedelt, meint der Erzähler - Derricks Hoffart lässt grüßen - in seinem Nachbarn, dem schwatzhaften Krimiautor Mokosch, einen gesuchten Mörder wiederzuerkennen. In virtuoser Weise setzt Zieger, auch hier keiner Abschweifung abhold, das romantische Doppelgängermotiv ein und zieht den Leser immer tiefer hinein in den Strudel aus Verbrechensfaszination und Vorurteil. Die Folie bildet das seltsame "Herr Korbes"-Märchen, in dem sich Dinge und Tiere gegen einen Mann verschwören, dem sie auflauern, um ihn zu quälen und zu töten. Er müsse ein böser Mann gewesen sein, beschwichtigt uns die Moral, aber haben wir das über Verfolgte nicht schon oft gehört? Der Zweifel bleibt.

Und es bleibt in allen drei Erzählungen der Zwilling des Zweifels, sein Doppelgänger, die Einsamkeit: "Wir kamen und wir gingen. Alle einzeln und einsam und in Einzigartigkeit. Jeder ein Element auf seiner Flugbahn durch den Raum." Das ist die große Linie des Romans, des Jahrhunderts: Es geht um die Rückkehr in Platons Höhle. Viel zu lange war man da oben am Licht, hat sich blenden lassen. Und doch herrscht nicht schiere Hoffnungslosigkeit, denn am Ende steht nicht die Vernichtung. Eines blüht vielmehr auf in diesem Buch: die Fabulierkraft. Wir stellen in der Höhle, ganz wie bei Platon, nur ein bisschen weiser, als Erstes einen Filmprojektor auf und kuscheln uns aufs Sofa, um, gefesselt von herrlichen Trugbildern, den Durchzug des Regenbands abzuwarten, das Enden des Banns. Diese Rezension kommt verspätet, aber vielleicht immer noch zu früh. Vielleicht braucht es noch viele Jahre, bis dieser Monumentalroman wirklich ankommt. Dafür sprechen die meisten bisherigen Reaktionen. Aber er ist unterwegs, kein Zweifel. Dieses Buch hat keine Eile.

OLIVER JUNGEN

Ulrich Zieger: "Durchzug eines Regenbandes". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 686 S., geb., 26,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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[...] ist seine schriftliche Form wie aus einem Guss: so ausgefeilt der Satzbau, so ausgesucht das Vokabular. Peter Urban-Halle Berliner Zeitung 20150627
Himmel und Höhle

Herrliche Trugbilder: Der große Roman "Durchzug eines Regenbandes" des frühverstorbenen Ulrich Zieger erzählt das zwanzigste Jahrhundert als fabulierlustige Märchenvariation.

Diese Rezension kommt verspätet. Und dann geht es auch noch um ein Buch, das sich nicht einfach lesen lässt, sondern nur Seite für Seite verinnerlichen, indem man alle Abwehrmechanismen außer Kraft setzt, ein Buch, mit dem man ringt, das man verwünscht für seine Abschweifungen und Verdichtungen. Begründet ist die Furcht, das Entscheidende zu verpassen zwischen detailreichen allegorischen Phantastereien (etwa das in mancher Hinsicht an die DDR, in anderer an den Nationalsozialismus erinnernde politische System auf der Insel Bienitz, in welcher der Volksstamm der Lapislazuli als gedemütigte Minderheit Papierkleidung zu tragen hat) und den als Nostalgie getarnten, aber epistemisch gemeinten Tiefenbohrungen in die Film- und Kulturgeschichte (Murnaus "Nosferatu", Truffauts "Fahrenheit 451" und die Serie "Derrick" sind die wichtigsten Bezugsgrößen, die jeweils ganze Epochen kennzeichnen: das Dämonische als Volksbedrohung, der Aufstand des Intellekts gegen die Infantilisierung und der fanatische Ordnungssinn aus der Feder eines ehemaligen NS-Propagandisten).

Es gibt diese Bücher, die man unendlich oft entnervt zuklappt, aber ebenso oft wieder öffnet, weil da Sätze waren, die sich eingehakt haben in ihrer eigentümlichen und doch vollendeten Formulierung: "Das Leben kennt solche Momente in Fülle, wie man weiß, handelt es sich bei ihrer Summe um die fälschlich vergessene Fülle des Lebens, da man sich später meist außerstande sieht, sich in Erinnerung zu rufen, wie es überhaupt zu ihnen kommen konnte." Oder auch: "Die Armen dieser Welt waren stets die Phantome ihrer besitzenden Urheber gewesen, die sie ihrerseits am liebsten abgeschafft und deportiert gesehen hätten. Sie waren ihre Doppelgänger in Lumpen und Löffel." Der Autor jongliert dabei mit kostbaren, vom Aussterben bedrohten Worten wie Lappner, Meuchelmörder, Häscher, Leihbücherei, Hemmschuh, Knilch, Geldkatze oder Entwegung. Es handelt sich um destillierte Spätromantik, um einen Blick aus der Tiefe der Zeit auf die Gegenwart des Deutschen. Niemand schrieb, schreibt oder wird je schreiben wie Ulrich Zieger, der vor wenigen Monaten unerwartet früh gestorben ist (F.A.Z. vom 27. Juli). Er hat seinen Stil in der Prenzlauer-Berg-Szene der späten DDR geschliffen, aber das ist noch keine Erklärung für die Schönheit dieser Sprache. Zieger ist einer der größten Wortästheten deutscher Sprache, ein Tonsetzer im besten Sinne. Die Töne sind nicht erfunden, sondern abgelauscht, aber in ganz eigener Weise zu Kompositionen zusammengefügt. Für seinen großen Roman hat er sich zehn Jahre Zeit genommen.

Drei Romane sind es recht eigentlich, qua Motivik und Personal verschleift, die einem Altarbild gleich die große Wendezeit, das zwanzigste Jahrhundert, abbilden - und zwar von innen heraus als unverfälschte, aber auch unfokussierte Wort-Bild-Collage. Nur vage folgt der Aufbau der christlichen Ikonographie, lassen sich die drei Teile des Triptychons den Bereichen Hölle, Welt und Paradies zuordnen. Es wird vielmehr dreimal - sich jeweils einem der bekanntlich nah am Kern der deutschen Seele angesiedelten, bei genauer Lektüre jedoch in den Händen zerfallenden Märchen der Brüder Grimm anheimgebend - eine ähnliche Geschichte erzählt: Es sind drei Protokolle des Verdachts, der schleichenden Zersetzung und inneren Aushöhlung durch Versagen des Vertrauens in die Menschlichkeit. Zweifel und Verdacht fungieren wohl zu Recht als zentrale Kennzeichen jenes Jahrhunderts, an dessen Saum wir noch hängen, das hier aber zugleich als Höhe- und Endpunkt der deutschen Kultur aufscheint, als Aufbäumen vor der Versandung im Floskelhaften, als letzte Chance zur Verbrüderung. Dialektik der Moderne.

Die erste Geschichte, in Südfrankreich angesiedelt (Ziegers Wohnort), stellt das lange Geständnis eines Mordes dar. Bei einem Journalisten namens Norden taucht ein geheimnisvoller Fremder auf, geboren in den Zeiten der großen Fischregen, der sich Weh-Theobaldy nennt. Er berichtet unzusammenhängend von den Zuständen auf Bienitz, von Revolten und der Nachkriegsordnung in der Diaspora, in der "die Kleinheinrichs" weiterhin das Sagen haben und "die Lapislazuli" unterjochen. Dabei wird eine Figur namens Hajo Schal sichtbar, die aber bald noch ganz andere Namen trägt. Dieser Agent soll im Kreuzungspunkt der Ereignisse stehen, der Apokalypse vorgearbeitet haben durch die Stimulierung eines Bürgerkriegs. Ganz klar wird sein Tun so wenig wie seine Schuld, aber doch trägt er in der Erzählung immer deutlicher Züge des Antichrist, und Norden, Mitglied der aufbauschenden Journaille, wird ergriffen von der komplexen Verschwörungstheorie. Das Märchen "Frau Trude" liegt dabei zugrunde, in dem ein vorwitziges Kind einer Hexe an den Kopf wirft, in ihr den Teufel gesehen zu haben, und dafür verbrannt wird.

Die zweite Geschichte - hier wieder unzulässig reduziert - spielt in der ehemaligen DDR im Jahre 1969 und ist eine sehr freie "Dornröschen"-Variation aus der Perspektive des Prinzen. Eine alte Nachbarin verschwindet eines Tages, doch dem jugendlichen Helden namens Harro Mittwich fällt in ihrem Haus das Bild einer jungen, schönen Frau in die Hände. Er kommt an ihre Adresse und schreibt Briefe an die Dame, wird sich jedoch abgrundtief in der dunklen Geschichte der alten Frau verstricken. Zwar verfehlen Prinz und Königstochter hier einander, aber das steht durchaus im Einklang mit der Grimm-Vorlage, wie der Held erfährt. Denn der Kuss des Prinzen, die Liebe, hat keinen Einfluss auf die Handlung: "Der Bann wird nämlich nicht gebrochen, er endet ganz einfach. Die hundert Jahre sind vorbei." Für den Helden, der an die Botschaften von Udo-Jürgens-Songs glaubte, kommt diese Desillusionierung nur der Enttäuschung gleich, welche die Menschheit befallen haben muss, als man erkannte, dass der Mond keine Atmosphäre hat, alle Romantik eine billige Erfindung war: "nur Sand, Staub und Steine".

Im dritten Teil, diesmal im norddeutschen "Flachland" der jüngeren Vergangenheit angesiedelt, meint der Erzähler - Derricks Hoffart lässt grüßen - in seinem Nachbarn, dem schwatzhaften Krimiautor Mokosch, einen gesuchten Mörder wiederzuerkennen. In virtuoser Weise setzt Zieger, auch hier keiner Abschweifung abhold, das romantische Doppelgängermotiv ein und zieht den Leser immer tiefer hinein in den Strudel aus Verbrechensfaszination und Vorurteil. Die Folie bildet das seltsame "Herr Korbes"-Märchen, in dem sich Dinge und Tiere gegen einen Mann verschwören, dem sie auflauern, um ihn zu quälen und zu töten. Er müsse ein böser Mann gewesen sein, beschwichtigt uns die Moral, aber haben wir das über Verfolgte nicht schon oft gehört? Der Zweifel bleibt.

Und es bleibt in allen drei Erzählungen der Zwilling des Zweifels, sein Doppelgänger, die Einsamkeit: "Wir kamen und wir gingen. Alle einzeln und einsam und in Einzigartigkeit. Jeder ein Element auf seiner Flugbahn durch den Raum." Das ist die große Linie des Romans, des Jahrhunderts: Es geht um die Rückkehr in Platons Höhle. Viel zu lange war man da oben am Licht, hat sich blenden lassen. Und doch herrscht nicht schiere Hoffnungslosigkeit, denn am Ende steht nicht die Vernichtung. Eines blüht vielmehr auf in diesem Buch: die Fabulierkraft. Wir stellen in der Höhle, ganz wie bei Platon, nur ein bisschen weiser, als Erstes einen Filmprojektor auf und kuscheln uns aufs Sofa, um, gefesselt von herrlichen Trugbildern, den Durchzug des Regenbands abzuwarten, das Enden des Banns. Diese Rezension kommt verspätet, aber vielleicht immer noch zu früh. Vielleicht braucht es noch viele Jahre, bis dieser Monumentalroman wirklich ankommt. Dafür sprechen die meisten bisherigen Reaktionen. Aber er ist unterwegs, kein Zweifel. Dieses Buch hat keine Eile.

OLIVER JUNGEN

Ulrich Zieger: "Durchzug eines Regenbandes". Roman.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 686 S., geb., 26,- [Euro].

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