"Die Welt ist eine Scheibe. Beweis: Manche fallen runter, ein ständiges Stürzen und Aufschlagen. Die meisten merken es bloß nicht."
Wiebke sitzt auf einem Baum und rechnet ab: mit ihren dumpfen Verwandten, Geestbauern auf dem flachen Land. Mit den Strassers, der hippen Kleinfamilie aus der großen Stadt. Mit all den Hinterwäldlern, die unter Wiebkes Buche das Feuer zu löschen versuchen, das die Sechzehnjährige gerade gelegt hat. Wie viel Land? Wie viel Vieh? Wie viele Kinder? Das sind die Fragen, um die sich auf dem Hof von Wiebkes Familie alles dreht, in dieser Reihenfolge. Nur Wiebke tanzt aus der Reihe, klaut, randaliert, träumt von einer Karriere als Musikerin und der Flucht in die große Stadt. Doch die Stadt kommt zu ihr: Baugebiete rücken dem Dorf zu Leibe. Unter den Neubürgern: das Ehepaar Strasser mit dem siebenjährigen Sohn Luis. Als der wohlbehütete Spross der Strassers bei einem Bootsausflug unter der Aufsicht von Wiebkes Vater zu Tode kommt, wird das Leben beider Familien aus der Bahn geworfen. Alexandra Kuitkowski erzählt eine brillant komponierte Geschichte über die schicksalhafte Verstrickung zweier Familien, über den Zusammenprall von Stadt und Land.
Wiebke sitzt auf einem Baum und rechnet ab: mit ihren dumpfen Verwandten, Geestbauern auf dem flachen Land. Mit den Strassers, der hippen Kleinfamilie aus der großen Stadt. Mit all den Hinterwäldlern, die unter Wiebkes Buche das Feuer zu löschen versuchen, das die Sechzehnjährige gerade gelegt hat. Wie viel Land? Wie viel Vieh? Wie viele Kinder? Das sind die Fragen, um die sich auf dem Hof von Wiebkes Familie alles dreht, in dieser Reihenfolge. Nur Wiebke tanzt aus der Reihe, klaut, randaliert, träumt von einer Karriere als Musikerin und der Flucht in die große Stadt. Doch die Stadt kommt zu ihr: Baugebiete rücken dem Dorf zu Leibe. Unter den Neubürgern: das Ehepaar Strasser mit dem siebenjährigen Sohn Luis. Als der wohlbehütete Spross der Strassers bei einem Bootsausflug unter der Aufsicht von Wiebkes Vater zu Tode kommt, wird das Leben beider Familien aus der Bahn geworfen. Alexandra Kuitkowski erzählt eine brillant komponierte Geschichte über die schicksalhafte Verstrickung zweier Familien, über den Zusammenprall von Stadt und Land.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.08.2013Das Mädchen in der Astgabel
Alexandra Kuitkowski nimmt die Provinz ernst
Ein Mädchen sitzt auf einem Baum. Alexandra Kuitkowski hat für ihre jugendliche Heldin eine ungewöhnliche Erzählsituation gewählt, fest in der Astgabel einer Buche. Von dort oben lässt sie den Blick über das weite norddeutsche Land schweifen, ihre Heimat. Unter ihr lodern Strohballen. Die freiwillige Feuerwehr des Dorfes kämpft gegen einen Brand, den die Bauerntochter gelegt hat. Aber das Strohfeuer ist keine Lösung für all die Probleme, die sie vor sich sieht, eingeklemmt zwischen Kindheit und Erwachsensein wie in einer Astgabel. Um sich über ihre Situation klarzuwerden, bedarf es langer Stunden im Blättergewirr, mancher Rückblende und der Aufarbeitung dramatischer Vorkommnisse der jüngsten Familiengeschichte.
Alexandra Kuitkowski hat bislang im Norden angesiedelte Kriminalromane geschrieben, von denen einer für das ZDF verfilmt wurde. Das merkt man der straffen, Spannung erzeugenden Erzählweise an. Mit ihrem neuen Buch will die Autorin allerdings zu neuen Ufern, das zeigt schon die Verwendung ihres vollständigen Namens als Autorname. Bislang schrieb sie unter einem abkürzenden Pseudonym. Die gestiegene literarische Ambition zeigt sich nicht nur auf dem Buchdeckel, sondern auch im Hang zur poetischen Einkleidung der überzeugenden Geschichte eines Mädchens vom Lande, das den Kuhmist unter den Füßen ebenso verflucht wie die wortkarge Traditionsbindung der Eltern. Die Heranwachsende sucht nach den eigenen Spielräumen in der Lebensgestaltung und fragt nach der Macht der Herkunft. Alexandra Kuitkowski hat das Genre gewechselt und erzählt nun einen Adoleszenzroman.
Zu diesem gehört - so hat es Hegel einmal beschrieben - die Kollision der "Poesie des Herzens" mit der "Prosa der Verhältnisse". Jeder weiß, was damit gemeint ist: Auf der einen Seite die manchmal hochfahrenden Vorstellungen von den eigenen Möglichkeiten, die Wünsche, Ideale und Hoffnungen auf die Ausbildung eines schönen Ich (und eine Karriere als Sängerin). Auf der anderen Seite die ernüchternden Umstände in der Schule, der Familie und in der Dorfgemeinschaft. Die Autorin gestaltet den engen Raum der norddeutschen Provinz spannungsreich, indem sie stadtmüde Metropolenbewohner aufs Land schickt und so verschiedene Lebensmodelle miteinander konkurrieren lässt. Die herbe Familie der Heldin verbindet sich unerwartet eng mit einem zugezogenen Radiojournalisten, seiner urbanen Frau und deren Kind. Sie verstricken sich in freundschaftliche und amouröse Verhältnisse und finden sich durch einen tragischen Unglücksfall gemeinsam im Zentrum einer Katastrophe wieder.
Die Erschütterung und die nachfolgende Krise reißen die Heranwachsende aus ihrer Unschuld und zeigen ihr das Wirken des Schicksals, das sie hoch oben auf ihrem Weltenbaum nicht versteht. Die Sechzehnjährige ist nicht abgeklärt und kühl wie viele Helden postmoderner Adoleszenzromane. Sie ist ein Mädchen, das sehr ernsthaft nach einem Weg zum eigenen Ich und in die Gesellschaft sucht und dabei ziemlich viel zu tun hat, denn die Ställe müssen ja auch noch ausgemistet werden. Aber im Gegensatz zu vielen Verfassern feierfreudiger Popliteratur steckt die Autorin auch nicht mehr mittendrin in der Jugend, sondern ist längst in einer späteren Lebensphase angekommen, in der sie es souverän vermeidet, die ländliche Provinzjugend zu verteufeln oder zu idyllisieren.
SANDRA KERSCHBAUMER
Alexandra Kuitkowski: "Die Welt ist eine Scheibe". Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 145 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Alexandra Kuitkowski nimmt die Provinz ernst
Ein Mädchen sitzt auf einem Baum. Alexandra Kuitkowski hat für ihre jugendliche Heldin eine ungewöhnliche Erzählsituation gewählt, fest in der Astgabel einer Buche. Von dort oben lässt sie den Blick über das weite norddeutsche Land schweifen, ihre Heimat. Unter ihr lodern Strohballen. Die freiwillige Feuerwehr des Dorfes kämpft gegen einen Brand, den die Bauerntochter gelegt hat. Aber das Strohfeuer ist keine Lösung für all die Probleme, die sie vor sich sieht, eingeklemmt zwischen Kindheit und Erwachsensein wie in einer Astgabel. Um sich über ihre Situation klarzuwerden, bedarf es langer Stunden im Blättergewirr, mancher Rückblende und der Aufarbeitung dramatischer Vorkommnisse der jüngsten Familiengeschichte.
Alexandra Kuitkowski hat bislang im Norden angesiedelte Kriminalromane geschrieben, von denen einer für das ZDF verfilmt wurde. Das merkt man der straffen, Spannung erzeugenden Erzählweise an. Mit ihrem neuen Buch will die Autorin allerdings zu neuen Ufern, das zeigt schon die Verwendung ihres vollständigen Namens als Autorname. Bislang schrieb sie unter einem abkürzenden Pseudonym. Die gestiegene literarische Ambition zeigt sich nicht nur auf dem Buchdeckel, sondern auch im Hang zur poetischen Einkleidung der überzeugenden Geschichte eines Mädchens vom Lande, das den Kuhmist unter den Füßen ebenso verflucht wie die wortkarge Traditionsbindung der Eltern. Die Heranwachsende sucht nach den eigenen Spielräumen in der Lebensgestaltung und fragt nach der Macht der Herkunft. Alexandra Kuitkowski hat das Genre gewechselt und erzählt nun einen Adoleszenzroman.
Zu diesem gehört - so hat es Hegel einmal beschrieben - die Kollision der "Poesie des Herzens" mit der "Prosa der Verhältnisse". Jeder weiß, was damit gemeint ist: Auf der einen Seite die manchmal hochfahrenden Vorstellungen von den eigenen Möglichkeiten, die Wünsche, Ideale und Hoffnungen auf die Ausbildung eines schönen Ich (und eine Karriere als Sängerin). Auf der anderen Seite die ernüchternden Umstände in der Schule, der Familie und in der Dorfgemeinschaft. Die Autorin gestaltet den engen Raum der norddeutschen Provinz spannungsreich, indem sie stadtmüde Metropolenbewohner aufs Land schickt und so verschiedene Lebensmodelle miteinander konkurrieren lässt. Die herbe Familie der Heldin verbindet sich unerwartet eng mit einem zugezogenen Radiojournalisten, seiner urbanen Frau und deren Kind. Sie verstricken sich in freundschaftliche und amouröse Verhältnisse und finden sich durch einen tragischen Unglücksfall gemeinsam im Zentrum einer Katastrophe wieder.
Die Erschütterung und die nachfolgende Krise reißen die Heranwachsende aus ihrer Unschuld und zeigen ihr das Wirken des Schicksals, das sie hoch oben auf ihrem Weltenbaum nicht versteht. Die Sechzehnjährige ist nicht abgeklärt und kühl wie viele Helden postmoderner Adoleszenzromane. Sie ist ein Mädchen, das sehr ernsthaft nach einem Weg zum eigenen Ich und in die Gesellschaft sucht und dabei ziemlich viel zu tun hat, denn die Ställe müssen ja auch noch ausgemistet werden. Aber im Gegensatz zu vielen Verfassern feierfreudiger Popliteratur steckt die Autorin auch nicht mehr mittendrin in der Jugend, sondern ist längst in einer späteren Lebensphase angekommen, in der sie es souverän vermeidet, die ländliche Provinzjugend zu verteufeln oder zu idyllisieren.
SANDRA KERSCHBAUMER
Alexandra Kuitkowski: "Die Welt ist eine Scheibe". Roman.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2013. 145 S., geb., 17,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Kuitkowski erzählt in einem atemlosen Tempo, in einer dichten Sprache mit Rück- und Ausblicken. Mal poetisch schön, mal ruppig, kurz und äußerst direkt.« Weser Kurier, 26.05.2013