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4 Kundenbewertungen

Irena lebt seit zwanzig Jahren in Paris, sie hat Prag nach der russischen Besetzung 1968 verlassen. Doch für die Franzosen ist sie immer die Emigrantin geblieben. "Wieso bist du noch hier?", fragt ihre Freundin Sylvie nach dem Umsturz von 1989. Hat es die vergangenen Jahre überhaupt gegeben? Will niemand begreifen, daß die Jahre in Paris Irenas wirkliches Leben sind und nicht nur die verlorene Heimat? Und als sie nun zum ersten Mal Prag wieder besucht, merkt sie, daß sie auch dort nur die "Heimkehrerin" ist. Wie so oft in ihrem Leben hat Irena das Gefühl, dass die anderen ihr die…mehr

Produktbeschreibung
Irena lebt seit zwanzig Jahren in Paris, sie hat Prag nach der russischen Besetzung 1968 verlassen. Doch für die Franzosen ist sie immer die Emigrantin geblieben. "Wieso bist du noch hier?", fragt ihre Freundin Sylvie nach dem Umsturz von 1989. Hat es die vergangenen Jahre überhaupt gegeben? Will niemand begreifen, daß die Jahre in Paris Irenas wirkliches Leben sind und nicht nur die verlorene Heimat? Und als sie nun zum ersten Mal Prag wieder besucht, merkt sie, daß sie auch dort nur die "Heimkehrerin" ist. Wie so oft in ihrem Leben hat Irena das Gefühl, dass die anderen ihr die Entscheidungen aus der Hand nehmen: Das Prag, das sie wiederfindet, ist nicht mehr ihre Heimat, das Paris, in dem sie lebt, will ihre Heimat nicht sein.
Doch da trifft Irena einen Mann, den sie zu kennen glaubt. War er es nicht, mit dem damals, vor vielen Jahren, eine Liebesgeschichte begann? Josef ist auch Emigrant, ihn hat es nach Skandinavien verschlagen, und plötzlich scheint es möglich, die Erfahrungen, die Erinnerungen miteinander zu teilen und ein neues, eigenes Leben zu beginnen. Doch kann man zwanzig Jahre überspringen, ja, ist im Leben etwas wie eine "Rückkehr" überhaupt möglich?
Milan Kundera erzählt von dem großen Thema der Heimat und Heimatlosigkeit. Und er erzählt davon, wie wenig man weiß von dem, was der andere erfahren und erlebt hat, wonach seine Sehnsucht, sein Heimweh eigentlich sucht.
Autorenporträt
Milan Kundera, 1929 in Brünn/Tschechoslowakei geboren, ging 1975 ins Exil nach Frankreich, wo er seither lebte und publizierte. Er zählt zu den großen Romanciers des Jahrhunderts und wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Nelly-Sachs-Preis (1987), dem Staatspreis für Literatur der Tschechischen Republik (2007) und dem Franz-Kafka-Preis (2020). Sein Werk erschien seit 1984 bei Hanser, zuletzt 2015 der Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit. Er starb 2023 in Paris.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Man weiß einfach nicht so recht, was die Rezensentin von diesem Buch hält. Da hilft es auch wenig, wenn Marie Luise Knott am Ende ihrer Besprechung versucht, den essayistischen Stil Kunderas als Möglichkeit zu deuten, "in diesem 20. Jahrhundert der Heimatlosigkeit und des Exils mit den fremden, `unwissenden` Menschen und Völkern im Dialog zu leben". Allerdings - vielleicht lässt sich dieser Erklärungsversuch auch als Ausdruck einer wirklichen Unzufriedenheit begreifen, darüber nämlich, dass, wie Knott schreibt, in diesem Roman auf den ersten Blick noch alles klar und wohl sortiert ist - "eine ausgeklügelt konstruierte Liebesgeschichte" -, diese Geschichte aber vom Autor selbst unterminiert wird.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.02.2001

Ein Pianist aus Ithaka, den Fuß auf dem Pedal
Schöner war es mit Calypso: Milan Kundera schreibt einen Roman über die mißlingende Heimkehr · Von Lothar Müller

Als 1989 die Mauern fallen und die Grenzen sich öffnen, wollen alle, daß Irena begeistert nach Prag zurückkehrt. Nur Irena nicht. Sie lebt seit zwanzig Jahren in Paris. Sie will von ihren revolutionsbegeisterten französischen Freunden nicht in die Mythologie der "Großen Rückkehr" abgeschoben werden. Und daß ihre Mutter sie nun so leicht besuchen kann, bringt sie der Welt, die sie verlassen hat, auch nicht näher. Die Rückkehr wäre womöglich wie die plappernde, nur am Eigenen interessierte Mutter: eine Zumutung. Die Emigrantin Irena schützt ihre Widerborstigkeit mit einer Maxime: Heimat ist da, wo man lebt, nicht da, wo man herkommt. Doch wie die Freunde läßt auch der Erzähler nicht locker. Irenas Geliebter, der reiche schwedische Geschäftsmann Gustaf, gründet ihr zuliebe für seine Firma in Prag eine Dependance. Kurz, der Erzähler nötigt sie zur Rückkehr. Was hat er mit ihr vor? Auffällig oft zitiert er das Urmodell aller Heimkehrergeschichten: die Odyssee. Sie verlangt, daß auch der zurückkehren muß, der nicht zurückkehren will.

Milan Kundera ist im Jahr 1975 nach Frankreich ins Exil gegangen. Seit den neunziger Jahren schreibt er seine Bücher auf französisch. In der Prager Burg residiert sein Gefährte und Rivale von einst, Vaclav Havel. Kundera ist in Paris geblieben. Seine tschechischen Bücher waren dick, selbst die verführerischsten schlanken Mädchen besaßen epische Fülle. Seine französischen Bücher sind schmal, selbst die Hauptfiguren haben darin etwas von luftigen Umrißzeichnungen. Ein leicht erhitzbares Erzähltemperament reibt sich auf der Suche nach seinem Altersstil an der kühlen, strengen Form der moralischen Erzählung. Manchmal mißlingen die Versuche, die alten Themen in die französische Hohlform umzugießen. So litt das mondäne französische Pendant zur böhmischen Liebesunordnung von einst in "Die Langsamkeit" (1994) am allzu demonstrativen und willkürlichen Zitat einer Novelle aus dem achtzehnten Jahrhundert. Das jüngste Alterswerk aber, "Die Unwissenheit", ist ein Ereignis. Mehr als zehn Jahre nach der "samtenen" Revolution kehrt der französische Erzähler Kundera nach Prag und in die böhmische Provinz, an die Schauplätze seiner tschechischen Romane zurück. Seine Figuren verlieren sich in der Welt von einst. Von ihnen bleibt am Ende nichts als eine Geschichte der mißlingenden Heimkehr.

Seit seinen Anfängen, vom Erstlingsroman "Der Scherz" (1965, erschienen 1967) bis zum Welterfolg "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" (1984), läßt Kundera gern die Liebesunordnung und die politisch-historische Ordnung einander kommentieren. Mehr als jeder andere mitteleuropäische Autor hat er der Darstellung des Privatlebens im Ostblock den Grauschleier genommen: Der Sinnlichkeit seiner Figuren war durch keine Repression beizukommen. Seine Mythologie der Leichtigkeit schloß die Frivolität ein, den ironischen Attacken auf die Rhetorik des Konformismus leistete die lustvolle Darstellung der Liebesszenen Schützenhilfe, selten scheuten die männlichen Helden die Nähe zum Don-Juan-Klischee. In diesem schmalen Roman der Rückkehr läßt Kundera seine unwillige Irena nicht allein. Er führt ihr auf der Reise nach Prag einen Fast-Geliebten von einst in die Arme, der nach Dänemark ins Exil gegangen ist und seine Verwandten in einer böhmischen Kleinstadt besuchen will. Er gibt ihr seine Hoteladresse. Das muß so sein. Es kann in Kunderas Romanwelt keine Heimkehr nach Böhmen geben, in der nicht zumindest ein Liebesakt enthalten wäre.

Aber er läßt Irena und Josef erst einmal allein die mißlingende Heimkehr erleben und kehrt dabei seinerseits in die alte Rolle des satirischen Spötters und Chronisten der Lebenslügen zurück. Schnell entsteht im Gang der Erzählung ein kleines Kompendium des Mißtrauens und der Fremdheit zwischen den Weggegangenen und den Dagebliebenen. Irena hat ihren alten Freundinnen teuren französischen Wein mitgebracht, aber die betrinken sich lieber an böhmischem Bier. Josef begegnet am Handgelenk seines Bruders der Uhr und an der Wand dem Bild, das ihm ein Maler einst persönlich signiert hat. Das gemeinsame Elternhaus hat der Bruder günstig erworben. Das Gespräch mit dem alten Freund N., einem lauteren Marxisten, kommt erst freundlich in Gang, als die Politik daraus verbannt ist. Gustaf, der reiche Schwede, begeistert sich an dem idiotischen T-Shirt mit der englischen Aufschrift "Kafka was born in Prag".

Wer will, mag dieses Buch als Kunderas Abrechnung mit dem Egoismus und Opportunismus derjenigen lesen, denen die Emigranten bei der Heimkehr als fast Vergessene gegenüberstehen, mit denen man nicht mehr rechnet. Oder als elegische Attacke auf das kapitalistisch gewordene Prag, in dem die Allgegenwart der Werbesprüche die der Parteiparolen beerbt. Doch das Interesse des Erzählers für die unmittelbar politischen Dimensionen der Rückkehr aus dem Exil hat etwas von einer Pflichtübung. Er blickt auf die Erschütterungen des zwanzigsten Jahrhunderts zurück, als zitiere er sie nur noch aus Geschichtsbüchern.

Im ersten Exil-Roman Kunderas, dem "Buch vom Lachen und Vergessen" (1978), stand die Analyse eines Fotos am Beginn. Es zeigt den Parteiführer Klement Gottwald, der nach der Machtübernahme der Kommunisten im Februar 1948 vom Balkon eines Prager Barockpalastes zu den Bürgern spricht. Jedes Kind kannte dieses Foto. Also mußte es auffallen, als einige Jahre später in der retuschierten Fassung der neben Gottwald stehende Außenminister Clementis verschwand, nachdem er wegen "Hochverrat" hingerichtet worden war. In "Die Unwissenheit" gibt es solch prägnante Miniaturen historischer Physiognomik nicht. Gewiß ist die mißlingende Heimkehr der Protagonisten eine Spätfolge von Politik und Geschichte. Aber diese Geschichte ist ins nahezu Abstrakte verblaßt.

Ein Friedhofsbesuch öffnet Josef die Augen dafür, daß die Verwandten ihn auch dann in der Vergessenheit ließen, als er leicht zurückzuholen gewesen wäre. Auch über die nach 1989 gestorbenen Toten aus dem Familienkreis hat man ihm keine Mitteilung gemacht. Nicht nur in dieser Szene des Romans spielen die Toten eine Schlüsselrolle. Kundera hat sowohl Irena wie Josef mit dem Schatten eines Toten versehen. Irenas Mann Martin, mit dem sie emigrierte, starb bald nach der Ankunft in Frankreich. Josef hat seine dänische Frau verloren und es sich zur Gewohnheit gemacht, mit ihr wie mit einer Lebenden zu verkehren. Tote sind in Romanen Maschinen zur Produktion von Erinnerungen. So auch hier. Und zu den toten treten alsbald die noch lebenden ehemals Geliebten. Erschrocken beugt sich Josef über das Tagebuch seiner Jugend, das unfreiwillige Selbstporträt eines kleinen Dikators der Liebe. Je deutlicher dieser Emigrantenroman die politisch-historischen Dimensionen des Exils an die Peripherie rückt, desto mehr wandelt er sich in seinem Zentrum zum Roman der Erinnerung: Darin sind nicht die daheimgebliebenen Freunde und Verwandten die Fremden, sondern die abgelebten Metamorphosen des eigenen Ich.

Auch darin ist dieser Roman eine Rückkehr. Denn Kunderas Figuren, man denke nur an den Ludvik Jahn aus "Der Scherz", waren schon Heimkehrer, bevor sie Emigranten wurden. Die lustvolle Steigerung der Gegenwart durch die Liebesunordnung hatte stets in der Rückkehr an Orte der Vergangenheit ihr oft dunkles Pendant. In diesem französischen Buch nun, in dem Marcel Proust dem Emigrantenroman in den Weg gekommen ist, macht Kundera das Scheitern der Erinnerung zum Zentrum der mißlingenden Heimkehr. Leider zerfasert er dabei den novellistischen Kern seiner Idee dadurch, daß er sie allzu redselig ausplaudert. Zum einen in den essayistischen und etymologischen Abschweifungen über den Begriff der "Nostalgie", der überdies in der deutschen Fassung den unseligen Beigeschmack der Sentimentalität nie verliert. Zum anderen dadurch, daß er mit dem Modell der Odyssee so spielt wie ein routinierter Barpianist, der von seinem Publikum nicht viel hält: mit viel zuviel Pedal und ein wenig zu laut. Die Unwissenheit, die er im Titel trägt, verdichtet sich darin, daß Josef nicht weiß, wer die Frau eigentlich ist, mit der er einen ekstatischen Nachmittag erlebt. Irena hat ihn erkannt, aber er sie nicht. Er weiß nicht einmal ihren Namen. Durch ein Requisit aus der Vergangenheit wird er überführt. Besiegelt der Beischlaf in der Odyssee die gelingende, so hier die mißlingende Heimkehr. Das hätte der Leser auch ohne den Erzähler geahnt, der den Emigranten, bevor sie im Hotelzimmer der Liebe pflegen, ein dänisches Exemplar des Epos auf den Nachttisch legt, damit sie über Odysseus und Penelope reden können.

Wer darüber unwillig wird, ist zuvor schon mit einer kontrapunktischen Variation über die Macht der Erinnerung entschädigt worden. Darin ist die Narbe des Odysseus auf den Körper einer Nebenfigur gewandert. Milada, die Jugendliebe Josefs und Freundin Irenas, hat bei einem Selbstmordversuch aus Liebeskummer ihr linkes Ohr verloren. Sie verbirgt dies durch eine gegen alle Moden gleichbleibende Frisur und nimmt an keiner Liebesunordnung teil, damit ihr Geheimnis nicht offenbar wird. So geht sie als beiläufig geglückte Figur des Unglücks durch den Roman. Ebenso beiläufig wie sie findet darin die Sehnsucht des französisch schreibenden Autors nach seiner Muttersprache Eingang. Denn erst ein tschechisch geschriebener Roman Kunderas wäre ja ein Roman der Rückkehr im vollen Sinne. Kundera wird ihn wohl nie mehr schreiben. Für einen Schriftsteller, so mag er Irenas Maxime abwandeln, ist die Muttersprache nicht die Sprache, aus der er kommt, sondern die Sprache, in der er schreibt.

Aber das Tschechische spielt in diesem französisch geschriebenen Roman, den Kundera zuerst in der spanischen Übersetzung veröffentlicht hat, eine auffällige Rolle. Nicht nur, weil die Figuren in die Sprache zurückkehren, die ihr Autor verlassen hat, und sie vorsichtig wieder anprobieren wie ein lange abgelegtes Kleidungsstück. Sondern auch, weil die Schlüsselszene des Romans aus tschechisch gemurmelten Worten hervorgeht. Es sind obszöne, derbe Worte, durch die Irena den Liebesakt mit Josef herausfordert, als sie noch nicht weiß, daß er nicht einmal ihren Namen weiß. Vielleicht hat Kundera das Überkonstruierte, Unwahrscheinliche dieser Umkehrung der Beischlafszene zwischen Odysseus und Penelope nur um dieser tschechischen Worte willen in Kauf genommen. Zuvor, in seinen essayistischen Abschweifungen, wurde er nicht müde in der Ehrenrettung einer Rivalin der Penelope: "Calypso, ach, Calypso! Ich denke oft an sie. Sie hat Odysseus geliebt. Sie lebten sieben Jahre zusammen. Man weiß nicht, wie lange Odysseus Penelopes Bett geteilt hatte, aber bestimmt nicht so lange. Dennoch wird Penelopes Schmerz gerühmt, und Calypsos Schmerzen werden verspottet." Der Romancier Kundera lebt schon länger als sieben Jahre mit der französischen Sprache zusammen. Das Loblied auf Calypso kommt nicht von ungefähr. Doch obwohl er nie zu ihr zurückkehren wird, ist dies kein Roman gegen Penelope. Die Geschichte der mißlingenden Heimkehr ist zugleich die der Sehnsucht nach der verlassenen tschechischen Sprache.

Milan Kundera: "Die Unwissenheit". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Uli Aumüller. Carl Hanser Verlag, München 2000. 184 S., geb., 35,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.02.2001

Odysseus in Prag
Milan Kunderas kluger Roman „Die Unwissenheit”
Milan Kunderas raffiniert komponierter Roman wird leidenschaftliche Bewunderer und leidenschaftliche Gegner finden. Denn manche fühlen sich durch den Essayisten, der im Romanautor Kundera steckt, belehrt. Dabei schadet diese Belehrung niemandem. Denn Kundera beschreibt die Langmut und die Arroganz des Gedächtnisses. Man spürt bei dem zweiundsiebzigjährigen Schriftsteller das Zerschlagensein – zerschlagen von so viel Erinnerung und realer Erkenntnis über das Wesen und den Wert des Menschen.
Die Unwissenden, das sind Josefs, des Rückkehrers aus dem Exil, Freunde von früher, die Verwandten, der Bruder, die Schwägerin, der Schulfreund N. – alle, die im Kommunismus, zu Hause in der damaligen Tschechoslowakei, vom Prager Frühling bis zum Einsturz des Systems überwintert haben. Die Unwissenden sind aber auch die Gastgeber der tschechischen Emigranten, in diesem Fall die Franzosen, die immer schon alles wussten, die wussten, dass der Stalinismus ein Übel ist und die Emigration eine Tragödie. „Sie interessierten sich nicht für das, was wir dachten, sie interessierten sich für uns als lebende Beweise für das, was sie dachten. ” Alle sind „unwissend”, sie stellen keine Fragen, sie fürchten sich vor den Fragen. Der Verlust an Schönheit, Jugend und Begehren war das Thema der Identität, des vorangegangenen Romans. In der Unwissenheit fragt Milan Kundera im Ton des Philosophen Lévinas nach der Fremdheit des Anderen.
Das Aufregende an diesem Buch über das Fremde und den Fremden, über den Zufall, die Überheblichkeit, die Bedeutung von Zeit und Erinnerung, Liebe, Alter, Sprache, Sexualität, Treue sind die Zusammenhänge. Emigration bedeutet doppeltes Fremdsein. Zurück in seiner Sprache fühlt sich Josef „leicht wie nach einer Schlankheitskur”. Irena verführt Josef mit gewöhnlichen, schmutzigen, obszönen Worten, die so nur in der Muttersprache „Gewalt” über Josef haben.
Irena kommt aus Paris nach Prag, Josef aus Dänemark. Sie begegnen sich am Flughafen, Irena erinnert sich an einen Jahrzehnte zurückliegenden kurzen intensiven Flirt. Josef findet die Frau anziehend, hat aber keine Ahnung, dass er sie schon einmal gesehen hat. Wie Penelope ihren heimkehrenden Odysseus, so erkennt Josef Irena nicht wieder. Männer, das war schon in der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins so, sind unruhig umher treibende, zur Treulosigkeit verurteilte Jäger ohne Gedächtnis. Sie haben Kinder aus frühen kurzen Ehen, an die sie nicht erinnert werden wollen, sie leben von sich selbst entfernt und beruhigen ihre Liebessehnsucht mit wechselnden Sexpartnerinnen. Auch Josef will sich nicht engagieren, er betrachtet die nackt daliegende Irena mit dem distanzierten Blick des Arztes.
Sie geben ihm nichts
Milan Kundera ist ungeduldig geworden. Er legt biografische Spuren aus und zerschneidet die Geschichte in kristallklare Szenen, Bilder wie Filmstills. Er beschreibt das Begehren des Mannes und der Frau mit durchdringender Nüchternheit. Anders als Teresa, die hilflose Serviererin aus der Provinz in der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins, ist Irena eine selbstbewusste Frau. Teresa drängte sich in das Leben von Tomas und vernichtete es. Irena hat in Paris zwei Töchter großgezogen, in der Emigration um ihre Existenz gekämpft, und ist stolz darauf. Nach dem Ende des Kommunismus ist sie für ihre französische Freundin nicht mehr interessant, sie ist nichts Außergewöhnliches mehr, braucht kein Mitleid. Deshalb fragt Sylvie in beleidigendem Ton: „Wieso bist du noch hier?”
Nie will der Autor seinen Stoff losgelöst von den großen politischen Zusammenhängen erzählen, er legt es darauf an, dass man ihm beim Denken zusieht. Kundera, der Zahlenmystiker vergleicht die zwanzigjährige Abwesenheit von Odysseus mit der zwanzigjährigen Ausgeschlossenheit der tschechischen Emigranten und zieht von der Französischen Revolution 1789 zur Revolution von 1989 den Bogen. Von der ersten Zeile an lässt er seine Leser wissen, dass die Namen der Personen austauschbar sind; ihr Schicksal ist das Schicksal vieler Emigranten, die in ihrer Heimat in Abwesenheit verurteilt werden und den Kontakt verlieren. Milan Kundera schreibt in der Unwissenheit seinen Roman von der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins weiter.
Eigentlich müsste er den Franzosen für die negative Inspiration danken, für das Gefühl, seit Jahren auf dem falschen Stern oder in Winnies Sandloch zu sitzen und in auswegloser Anstrengung ununterbrochen die Sachen zusammenzupacken. Aber Kundera ist kein Existentialist von Becketts Gnaden, er ist ein Realist. Er provoziert die Gegenwart durch seine im Präsens geschriebenen Dialoge. Wie Odysseus kommt Irena nach Prag, reist Josef nach zwanzigjährigem Exil zurück nach Hause in seine nicht genannte Stadt; vielleicht ist es Brünn, wo Milan Kundera 1929 geboren wurde. Dort erkennt man Josef zwar wieder, hat aber keine Ahnung mehr, wer er eigentlich ist. Und vor allem: Niemand stellt Josef Fragen. Der Heimkehrer wird empfangen, als hätte er kein Leben gehabt. Die zu Hause Gebliebenen fürchten sich: Er könnte mit seinen fremden Erfahrungen in ihr Leben eindringen. Irenas alte Prager Freundinnen lehnen den Bordeaux ab und verlangen ihr fades Bier. Josefs Familie hat, ohne ihn zu benachrichtigen, das Erbe aufgeteilt. Sie geben ihm nichts. Die Familie will weder seine Gegenwart noch seine Vergangenheit. „Aber woran kann ein Mensch denken, der das Land seiner Vergangenheit besucht, außer an seine Vergangenheit?”
Nach seinem Welterfolg mit der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins (1984) hat sich Milan Kundera entschieden, nur noch das Nötigste, aber das mit einer filmischen Spannung zu erzählen. Kundera streift und verbindet Biografien, beschreibt die Blicke, die Begierde, die Hilflosigkeit und den radikalen Wunsch der Frau, über sich selbst zu bestimmen.
N. , der ehemals überzeugte Kommunist, antwortet auf Josefs Frage, ob noch jemand das Land liebe: „Wie konntest du nur emigrieren? Du bist ein Patriot! Für dieses Land sterben, das gibt es nicht mehr. Vielleicht ist für dich die Zeit während deiner Emigration stehengeblieben. ” Irena vollzieht in der exzessiven erotischen Hingabe an Josef ihre Heimkehr. Oder die Ankunft in ihrer Erinnerung. Josef flieht. Er hinterlässt einen kurzen Brief zum Abschied.
Milan Kundera beschreibt, wie die Politik das Leben bestimmt und für immer verändert. Der Tag zeigte Irena das Paradies, das sie verloren hatte, die „Nacht die Hölle, der sie entflohen war”. Überhaupt die Träume, das ist Kunderas Spezialität. Die Unwissenheit ist ein Buch über Europa, den Sozialismus und Kommunismus und über Abschiede. Milan Kundera ist ein unsentimentaler Melancholiker, der sich von der Vergangenheit beobachtet fühlt. Die Unwissenheit ist ein eindringliches Liebes-Buch über Menschen, die ausziehen müssen und das Fürchten lernen. Zurückkehren können sie nicht.
VERENA AUFFERMANN
MILAN KUNDERA. Die Unwissenheit. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser Verlag, München 2001. 178 Seiten, 35 Mark.
Milan Kundera. Liebe, Fremdsein und Erinnerung sind die Themen seines neuen Romans.
Foto: Aaron Otto Mannheimer
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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"Der Altmeister der Missverständnisse und wunderbaren Illusionslosigkeit hat ein sehr reifes und sehr weises Werk vorgelegt - den perfekten Roman über Heimat und Heimatlosigkeit." Rainer Schmitz, Focus, 12.2.01

"Milan Kundera hat einen brisant aktuellen politischen Roman geschrieben, intelligent und passioniert, komplex und schlank. Dieses Buch setzt Maßstäbe." Gunhild Kübler, Weltwoche, 8.2.01

"Ein kluges Buch voller denkwürdiger Betrachtungen über das Gedächtnis, die Musik und die Zerrissenheit des Menschen." Frankfurter Rundschau Magazin, 10.2.01

"Milan Kundera schreibt in der Unwissenheit seinen Roman von der Unerträglichen Leichtigkeit des Seins weiter... Die Unwissenheit ist ein eindringliches Liebes-Buch über Menschen, die ausziehen müssen und das Fürchten lernen. Zurückkehren können sie nicht." Verena Auffermann, Süddeutsche Zeitung, 17./18.02.01

"Irene und Josef, diese beiden seelenverwandten Leidensgenossen, finden und verzehren sich für einen kurzen Moment. Aber die Möglichkeit ihres gemeinsamen Glücks beruht nur auf einer Lüge, ihr Nähe schlägt abrupt um in Fremdheit. Und so flüchten sie denn, geschickt geführt von einem Reflexionen und Beschreibungen, Erdachten und Erlebtes genial verknüpfenden Autor, aus ihrer alten, verlorenen abermals in ihre neue, fremde Heimat. Zurück bleibt ein von der Erzählkraft Kunderas ebenso verzauberter wie betäubter, von der unaufhebbaren Fremdheit und ausweglosen Heimatlosigkeit der Figuren ebenso angerührter wie erschütterter Leser." Frank Dietschreit, RADIOkultur (SFB/ORB), 01.04.01

"Man muß den Roman wohl zweimal lesen, um ihn ganz zu begreifen. Bei der ersten Lektüre ist man geblendet von der Perfektion. Bei der zweiten ahnt man deren raffinierte Dialektik. (...) ein aufregender Roman, eine literarische Nachbildung des menschlichen Gedächtnisses mit seinen Fäden und Lücken..." Ursula März, Literatur und Kritik (Radio Bremen Zwei), 11.03.01

"Kundera hält die Fäden in der Hand und führt Regie. Daraus folgt naturgemäß, dass er seine Figuren immer auch instrumentaliesiert: Er nutzt sie, um Erfahrungen zu machen, um Erkenntnisse zu gewinnen. ... Kundera hat mit diesem Roman nach einem langen Weg seinen Ausgangspunkt wieder erreicht. Er ist von der Heimat in die Fremde gegangen und zurück in die Heimat, um doch nur endgültig in der Fremde anzukommen." Martin Lüdke, Die Zeit, 15. 02.01.

"'Die Unwissenheit', Kunderas dritter auf Französisch geschriebener Roman, zeigt auf knapp 180 Seiten seine gesamte Kunst: die aller Überflüssigkeiten entkleidete, klare Sprache, die souveräne Entwicklung einer Geschichte und den klugen Blick in das Innenleben seiner Figuren." Julia Kospach, Profil, 26.02.01

»Ein großes Buch über den Verlust von Heimat und den Schmerz gegenseitiger Ignoranz ... weise und mit Kunderas ganz besonderer Fähigkeit, das Leichteste mit dem Schwerwiegendsten zu verknüpfen, erzählt.« Brigitte, 07.03.01

"Ein glänzender Erzähler ist Milan Kundera, weil es ihm gelingt, seine Figuren wie beiläufig zu führen. ... Ein Meister der Architektur ist Kundera auch, denn es gelingt ihm (...) Geschichten so subtil zu fügen, dass die Moral von der Geschicht` bloß durchscheint. ... Kundera, ein später Schüler von Proust, hat es schon erkannt: dass erst der Erzähler vielleicht etwas herstellt, wovon dieses Leben niemals wissen kann, ein zitterndes Ganzes. Dafür, Bewunderung und Lob." Martin Meyer, Neue Zürcher Zeitung, 15.02.01

"Kaum ein Schriftsteller nimmt seinen Leser so ernst wie Kundera, kaum einer bietet ihm so viel und fordert zugleich doch nur: Mitgehen und Mitdenken. Schlackenlos ist diese Prosa, gänzlich frei von epischen Aufschäumungen, wie sie die routinierten Romanmaschinerien vieler Kollegen fast zwanghaft hervorbringen. ... Sein neuer Roman ist traurig, melancholisch und überaus tröstlich." Martin Ebel, Berliner Zeitung, 3./4.03.01
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