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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.05.2014

Im Licht
der Feuerelfen
Erfolgsstart: Das Fantasy-Epos
des Jungautors Stefan Bachmann
Barthelemew Kettle hat einen Traum: Er möchte so gern einen Hausgeist haben! Solch ein Geist könnte seiner Mutter bei den schweren Hausarbeiten helfen, und er selbst besäße endlich einen richtigen Freund, statt dass bloß ein Nachbarsjunge ihm manchmal aus der Ferne zuwinkt. Denn Barthy darf das baufällige Haus in der englischen Stadt Bath nicht verlassen, er gehört zu den „Seltsamen“, Mischlingen aus Feen- und Menschenblut, die jeder hasst. Als Lebensmaxime wird ihm und seiner geliebten jüngeren Schwester Hettie, die noch nicht richtig kapiert, dass das ästige Gestrüpp auf ihrem Kopf ein soziales Problem bedeutet, immer wieder eingetrichtert: Fall nicht auf, dann landest du auch nicht am Galgen! Der Hausgeist, sagt die verhärmte Mutter, kommt nicht in Frage; man wisse nie, wen man sich da ins Haus hole, es könne auch ein böser Dämon sein, der sie alle im Schlaf erwürgt. Aber Barthy führt weiterhin im stillen Dachkämmerlein seine Beschwörungen durch. Und eines Tages hat offenbar einer angebissen; doch zeigt er sich nur Hettie, die ihn, wenn man sie zur Rede stellt, widerstrebend beschreibt als ein Wesen mit gespaltenem Hut, das ihr leise greuliche Wiegenlieder vorsingt. Als Barthy nachts um ihr Bett Asche streut, findet er am nächsten Morgen darin Abdrücke von Ziegenhufen . . .
  Stefan Bachmann, der 1993 in Colorado geboren wurde und in Zürich aufwuchs, war 19 Jahre alt, als sein Buch in den USA herauskam und er als literarisches Wunderkind gefeiert wurde. Er hat mit „Die Seltsamen“ offenbar den Startschuss für ein neues Riesenepos der Fantasy-Literatur gegeben. Wie viele Bände das einmal werden sollen, zeichnet sich gegenwärtig noch nicht ab; doch ist das große Ringen noch keineswegs zu Ende, als es gelingt, den schurkischen Minister Lickerish daran zu hindern, ein „Feentor“ in die andere Welt aufzutun, Tod und Verderben säend.
  Anleihen bei Harry Potter sind unverkennbar: der jugendliche, ja noch halb kindliche Held auf einem Quest, der teuflische Antagonist, das schrullige Seitenpersonal, das vage viktorianische Setting: das alles kommt einem doch recht vertraut vor. Die Figuren heißen Lord Lillicrap, Mr. Lumbidule oder Mr. Throgmorton; die Handlung spielt, wo die Krähengasse in den Schwarzkerzenweg mündet, die erleuchtet werden, indem man bei Einbruch der Dämmerung kleine Feuerelfen in ihren Käfigen in Gang setzt, „und ihr Licht spiegelte sich in den frischgewachsten Türen der Kutsche und warf Flammenzungen auf ihre Fenster.“
  Das alles klingt etwas angestrengt und ausgedacht; es müht sich um eine malerische Originalität in den Details, die der Gesamt-Anlage des Buchs durchaus fehlt. Ob bewusst oder unbewusst, arbeitet es seiner filmischen Umsetzung vor. Doch lädt es nachdrücklich zur Identifikation mit dem Helden ein. Und es hat zwei weitere Hauptfiguren, die, wenngleich der Geist von Charles Dickens in ihnen waltet, als starke eigenständige Erfindung gelten dürfen: Da ist Mr. Jelliby, Angehöriger der Oberklasse, Parlamentsmitglied, gutaussehend, gutmütig, ehrgeizlos und nicht gerade das hellste Licht, der aber, wenn es darauf ankommt, plötzlich zu seiner eigenen Verblüffung das moralisch Richtige tut; und natürlich die kleine Hettie mit ihrem ewig Rinde verbröselnden Kopfschmuck, die ihren älteren Bruder vergöttert, auch wenn sie ihn mit ihrem Unverstand und Eigensinn ständig in die Bredouille bringt.
  Schon während man das Buch liest, glaubt man mitzuerleben, wie dieser junge Autor die Möglichkeiten seines Schreibens unterwegs allmählich kennen lernt. Gut vorstellbar, dass der gegenwärtige Kassen-Erfolg sich zu einer populären Mythologie verstetigt und das feenhafte Bath an die Seite von Hogwarts tritt.
BURKHARD MÜLLER
Ein Wesen mit gespaltenem Hut,
das sich nicht jedem zeigt, singt
leise greuliche Wiegenlieder
  
  
  
  
Stefan Bachmann: Die Seltsamen. Roman. Aus dem Englischen von
Hannes Riffel. Diogenes Verlag, Zürich 2014.
368 Seiten, 16,90 Euro.
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»Der Bestseller-Autor hat mit 20 erreicht, wovon die meisten Fantasy-Autoren nur träumen.« Linus Schöpfer / Tages-Anzeiger Tages-Anzeiger