Annie Ernaux
Gebundenes Buch
Die Jahre
Geschenkausgabe Nobelpreis für Literatur 2022
Übersetzung: Finck, Sonja
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Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux' aufsehenerregendes Werk wirkt von Beginn an weit über die französischen Grenzen hinaus. Eine faszinierende Einladung, das eigene Leben zu hinterfragen.Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Me...
Geschichte ihrer selbst, Gesellschaftsporträt, universelle Chronik: Annie Ernaux' aufsehenerregendes Werk wirkt von Beginn an weit über die französischen Grenzen hinaus. Eine faszinierende Einladung, das eigene Leben zu hinterfragen.
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind und betrachtet auf faszinierende Weise ihr Leben - unser Leben, das Leben.
Kindheit in der Nachkriegszeit, Algerienkrise, die Karriere an der Universität, das Schreiben, eine prekäre Ehe, die Mutterschaft, das Jahr 1968, Krankheiten und Verluste, die sogenannte Emanzipation der Frau, Frankreich unter Mitterrand, die Folgen der Globalisierung, das eigene Altern. Anhand von Fotografien, Erinnerungen und Aufzeichnungen, von Wörtern, Melodien und Gegenständen vergegenwärtigt Annie Ernaux die Jahre, die vergangen sind und betrachtet auf faszinierende Weise ihr Leben - unser Leben, das Leben.
Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermaßen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Nobelpreis für Literatur. Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Produktdetails
- Suhrkamp Pocket
- Verlag: Suhrkamp
- Originaltitel: Les années
- Artikelnr. des Verlages: ST 5387
- Seitenzahl: 324
- Erscheinungstermin: 24. September 2023
- Deutsch
- Abmessung: 141mm x 94mm x 22mm
- Gewicht: 174g
- ISBN-13: 9783518473870
- ISBN-10: 3518473875
- Artikelnr.: 67701283
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Die Stille war unser Hintergrundgeräusch
Mit zehn Jahren Verspätung erscheint Annie Ernaux' Roman "Die Jahre" endlich auch bei uns. Sie erzählt ihr Leben, indem sie die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie und jene Bilder kunstvoll miteinander verknüpft, die ihr scheinbar zufällig im Kopf geblieben sind
Es gibt Momente in der Geschichte, die untrennbar zu uns allen gehören, obwohl jeder Einzelne sie mit seinen eigenen Erinnerungen verknüpft. Der Roman "Die Jahre" der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux macht dieses Phänomen zum Erzählprinzip. Annie Ernaux wurde 1940 im Norden Frankreichs geboren, wo sie in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Sie studierte, wurde Lehrerin, bekam Kinder und
Mit zehn Jahren Verspätung erscheint Annie Ernaux' Roman "Die Jahre" endlich auch bei uns. Sie erzählt ihr Leben, indem sie die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie und jene Bilder kunstvoll miteinander verknüpft, die ihr scheinbar zufällig im Kopf geblieben sind
Es gibt Momente in der Geschichte, die untrennbar zu uns allen gehören, obwohl jeder Einzelne sie mit seinen eigenen Erinnerungen verknüpft. Der Roman "Die Jahre" der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux macht dieses Phänomen zum Erzählprinzip. Annie Ernaux wurde 1940 im Norden Frankreichs geboren, wo sie in bescheidenen Verhältnissen aufwuchs. Sie studierte, wurde Lehrerin, bekam Kinder und
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widmete sich erst spät ganz dem Schreiben. Ihre Lebensgeschichte erinnert in vieler Hinsicht an die ihrer Kollegen Édouard Louis und Didier Éribon, deren Bücher in den vergangen Jahren auch in Deutschland Verkaufserfolge waren. In Rückkehr nach Reims schreibt Éribon mehrmals, dass ihn insbesondere zwei große Vorbilder inspiriert haben: Pierre Bourdieu und Annie Ernaux. Nachdem "Die Jahre", Ernaux' neuntes Buch, bereits 2008 in Frankreich herauskam und ihr sowohl dort als auch in Italien eine Reihe von Preisen einbrachte, brauchte es offenbar zuerst Éribon, um Ernaux auch hier bekannter zu machen. Beinahe zehn Jahre nach dem französischen Original erscheinen "Die Jahre" nun auch in deutscher Übersetzung.
In ihrem Roman erzählt Ernaux von dem, was sie im Titel verspricht: Von den Jahren ihres Lebens, den Jahren der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren, die vergehen.
Die Welt, in der die Erzählerin groß wird, ist eine, die so anders ist, als läge zwischen damals und heute mehr als ein Menschenleben. Die Arbeit ist hart und orientiert sich, wie der Alltag, an Jahreszeiten und kirchlichen Feiertagen. Wunden werden mit Urin desinfiziert, der Krieg ist gerade erst vorüber. Es ist dreckig, die Kindersterblichkeit hoch. Die meisten Menschen sind nie länger als 50 Kilometer gereist, Paris ist fern wie ein fremdes Land. Es ist eine langsamere, ruhigere Zeit: "Stille war unser Hintergrundgeräusch und das Fahrrad das Maß für die Geschwindigkeit unseres Lebens." In dieser Welt sind Familienerzählung und gesellschaftliche Erzählung eins. Beim Sonntagsessen werden Geschichten erzählt, "in denen keine persönlichen Erlebnisse vorkamen außer Geburten, Hochzeiten und Todesfälle".
In "Die Jahre" nimmt sich Ernaux diese Art der Erzählung zum Vorbild: Sie erzählt die Geschichte einer Generation, oder besser, der Frauen einer Generation, die viele Erfahrungen teilen. Gleichzeitig vermischt sie diese mit ihrer eigenen, sehr individuellen Geschichte. Wie sie der Welt ihrer Kindheit durch ihr Studium entwächst, ohne sie je so ganz hinter sich zu lassen. Wie sie seit ihrer Jugend vom Schreiben träumt, sich aber verliert, irgendwo, zwischen Arbeit und Familie. Und wie es ihr dann, als die Kinder aus dem Haus sind, doch gelingt. Sie möchte "so etwas Ähnliches wie ,Ein Leben' von Maupassant" schreiben, "ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt".
Der Roman ist durchzogen von einer Melancholie und einem Gefühl von Verlust. Von Zeit, die nie mehr wiederkommen wird, von Personen, die gestorben sind, doch auch von einem jugendlichen Lebensgefühl, das einem irgendwie abhandengekommen ist. Zwar kommt immer wieder Hoffnung auf, bricht sich ein unbändiger Zukunftsglaube Bahn, doch wird der auch häufig enttäuscht. Die Dinge ändern sich plötzlich und schnell. Und dann? Auf den wirtschaftlichen Boom, der mit der Zuversicht einhergeht, dass all die neuen Dinge das Leben vereinfachen werden, folgt der Überdruss, der sich in der Kälte riesiger Supermärkte in trostlosen Gewerbegebieten manifestiert. Die Jahre einer sexuell unterdrückten Jugend, hin- und hergerissen zwischen "den Sticheleien der Jungen, Jungfrauen seien frigide, und den Vorschriften der Eltern und der Kirche", werden abgelöst von einer kurzen sexuellen Befreiung, die jedoch bald von neuen Ängsten erstickt wird. Die Perfektion hält Einzug ins Sexleben, der Körper muss schön sein. In den neunziger Jahren sind Frauen "mehr denn je unter Beobachtung, ihr Verhalten, ihr Geschmack und ihre Wünsche wurden permanent kommentiert, mal besorgt, mal selbstgefällig".
Die Form, die Ernaux für ihr Erzählen wählt, ist ungewöhnlich. Stückweise gleicht sie einer Collage: Kurze Erinnerungen und Bilder lösen sich ab mit der ersten Person Plural, dem "Wir" der Geschichte der Frauen; und mit Ernaux' eigener Lebensgeschichte, die sie anhand von Fotografien in der dritten Person beschreibt. Vom "Kleinkind mit Babyspeck, Schmollmund und einer dunklen Haartolle" bis zur alten Frau, "die Stirn von Falten überzogen", ihre Enkelin auf dem Schoß. Möchte man ein ganzes Leben erzählen, gehören alle drei Dinge zusammen: Die Bilder, die scheinbar wahllos und zufällig im Kopf bleiben, die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie. Zwar ist die Geschichte der Gesellschaft immer auch eine andere, als die der Person, die sie erlebt, denn nicht jeder war 1968 zwischen 18 und 25, nicht jeder warf Steine, nicht überall war Paris. Doch berührt dieses Ereignis trotzdem ein ganzes Land, jedes einzelne Leben. Ernaux fügt alles zusammen zu einer vollkommen neuen Form autobiographischen Schreibens. Durch ihre Perspektive gelingt es ihr, sowohl sich selbst als auch ihre Rolle in der Gesellschaft wie von außen zu betrachten, dabei jedoch trotzdem sehr intim und berührend zu sein.
Es sind Bilder, die in diesem Roman eine große Rolle spielen, Bilder, die man im Kopf hat, die man, wie die eigene Sprache, mit niemand anderem teilt, die einen zu dem machen, was man ist. Filmszenen, an die man sich erinnert, auch wenn der Rest der Handlung längst verblasst ist. Sätze, die einem jedes Mal einfallen, wenn man an einer bestimmten Stelle vorbeifährt, weil sie irgendwann mal von einem Beifahrer genau im Moment des Vorbeifahrens gesagt wurden.
Ernaux zählt Redewendungen auf, die sie in die Vergangenheit tragen, zu Personen, die diese immer benutzten. Oder einzelne Äußerungen, wie die ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter: "Anders als die stehenden Wendungen, sind diese Sätze einzigartig, sie gehören allein ihrer Mutter und niemandem sonst auf der Welt." Es sind diese Erinnerungen, die alles zusammenhalten, die die Beziehung zu anderen Menschen ausmachen: "Wenn man seine mittlerweile erwachsenen Kinder beobachtete und ihnen zuhörte, fragte man sich, was einen eigentlich verband, weder das Blut noch die Gene, nur eine Gegenwart aus Tausenden gemeinsam verbrachten Tagen, aus Worten und Gesten, aus Mahlzeiten, Autofahrten, unzähligen geteilten Erfahrungen, deren man sich nicht bewusst war."
Auch wenn Ernaux auf diese Weise die Vergangenheit bewahren möchte, "etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird", ist sie nicht nostalgisch. "Dass Fragen in Bezug auf die Vergangenheit immer sinnlos sind", weiß sie zu gut. Ihre Haltung entsteht aus einem kritischen Blick auf die Gesellschaft, damals und heute. Das ist, neben dem Erinnern, das andere große Thema des Buchs, seine soziologische Seite, an der man sieht, warum Éribon sagt, er habe viel von ihr gelernt. Ernaux' Beobachtungen sind präzise und vorausschauend, besonders, wenn man bedenkt, dass der Roman in Frankreich vor bald zehn Jahren erschienen ist. Sie beschreibt, was die französische Gesellschaft teilt, sie erkennt, dass es Menschen gibt, die nicht dazugehören. Migranten, die irgendwo in dubiosen Vierteln wohnen, wo niemand hingehen mag; Menschen, die man allein als Bauarbeiter oder Müllmänner kennt. Sie fürchtet sich vor dem Erstarken der Rechten und der zunehmenden Kritik an den Medien. Nur manchmal rutscht sie dabei in eine etwas einseitige Fortschrittskritik, die sich den moralischen Zeigefinger, wenn auch aus stets distanzierter Haltung, nicht immer verkneifen kann.
Man mag sich "Die Jahre" nun sehr vollgepackt, ja verwirrend vorstellen. Auch die Erzählerin selbst hat "Angst, sich in den vielen Facetten der Wirklichkeit, die sie beschreiben will, zu verlieren". Erstaunlicherweise passiert das jedoch nie. Im Gegenteil überzeugt der Roman gerade dadurch, dass er die verschiedenen Ebenen miteinander vermischt. Auch das eigene Leben ist ja nichts anderes als ein ständiger Wechsel zwischen kleinen Beobachtungen und Weltgeschehen, zwischen Privatem und Kollektivem.
In all den Jahren mit ihren Veränderungen gibt es außerdem etwas, das bleibt. Die gemeinsamen Familienessen verbinden die einfache Kindheit mit Ernaux' späterem Leben als Intellektuelle, in dem sie selbst erst Mutter und schließlich Großmutter ist. Die Familienmitglieder wechseln, die Gesprächsthemen ändern sich, doch die Tradition bleibt bestehen. Es ist eine Tradition, die die Kinder langweilt und die erst mit dem Alter immer kostbarer wird, wenn Verwandte, die früher einmal dabei waren, in Erzählungen lebendig werden, und einem gleichzeitig bewusst wird, dass Zeit vergeht: "Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte." Ernaux' Buch ist der Versuch, das Erinnern in Worte zu fassen, damit eines Tages, wenn man "nur noch ein Vorname" sein wird, "von Jahr zu Jahr gesichtsloser", trotzdem etwas bleibt.
ANNA VOLLMER
Annie Ernaux: "Die Jahre". Roman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 255 Seiten, 18 Euro. Die Autorin liest heute Abend in Essen, morgen in Bonn und tritt auf der Buchmesse zusammen mit Didier Éribon auf (am Donnerstag, dem 12. Oktober, um 18.30 Uhr in der Evangelischen Akademie).
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
In ihrem Roman erzählt Ernaux von dem, was sie im Titel verspricht: Von den Jahren ihres Lebens, den Jahren der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, den Jahren, die vergehen.
Die Welt, in der die Erzählerin groß wird, ist eine, die so anders ist, als läge zwischen damals und heute mehr als ein Menschenleben. Die Arbeit ist hart und orientiert sich, wie der Alltag, an Jahreszeiten und kirchlichen Feiertagen. Wunden werden mit Urin desinfiziert, der Krieg ist gerade erst vorüber. Es ist dreckig, die Kindersterblichkeit hoch. Die meisten Menschen sind nie länger als 50 Kilometer gereist, Paris ist fern wie ein fremdes Land. Es ist eine langsamere, ruhigere Zeit: "Stille war unser Hintergrundgeräusch und das Fahrrad das Maß für die Geschwindigkeit unseres Lebens." In dieser Welt sind Familienerzählung und gesellschaftliche Erzählung eins. Beim Sonntagsessen werden Geschichten erzählt, "in denen keine persönlichen Erlebnisse vorkamen außer Geburten, Hochzeiten und Todesfälle".
In "Die Jahre" nimmt sich Ernaux diese Art der Erzählung zum Vorbild: Sie erzählt die Geschichte einer Generation, oder besser, der Frauen einer Generation, die viele Erfahrungen teilen. Gleichzeitig vermischt sie diese mit ihrer eigenen, sehr individuellen Geschichte. Wie sie der Welt ihrer Kindheit durch ihr Studium entwächst, ohne sie je so ganz hinter sich zu lassen. Wie sie seit ihrer Jugend vom Schreiben träumt, sich aber verliert, irgendwo, zwischen Arbeit und Familie. Und wie es ihr dann, als die Kinder aus dem Haus sind, doch gelingt. Sie möchte "so etwas Ähnliches wie ,Ein Leben' von Maupassant" schreiben, "ein Buch, das das Vergehen der Zeit in ihrem Inneren und außerhalb von ihr, in der großen Geschichte, beschreibt".
Der Roman ist durchzogen von einer Melancholie und einem Gefühl von Verlust. Von Zeit, die nie mehr wiederkommen wird, von Personen, die gestorben sind, doch auch von einem jugendlichen Lebensgefühl, das einem irgendwie abhandengekommen ist. Zwar kommt immer wieder Hoffnung auf, bricht sich ein unbändiger Zukunftsglaube Bahn, doch wird der auch häufig enttäuscht. Die Dinge ändern sich plötzlich und schnell. Und dann? Auf den wirtschaftlichen Boom, der mit der Zuversicht einhergeht, dass all die neuen Dinge das Leben vereinfachen werden, folgt der Überdruss, der sich in der Kälte riesiger Supermärkte in trostlosen Gewerbegebieten manifestiert. Die Jahre einer sexuell unterdrückten Jugend, hin- und hergerissen zwischen "den Sticheleien der Jungen, Jungfrauen seien frigide, und den Vorschriften der Eltern und der Kirche", werden abgelöst von einer kurzen sexuellen Befreiung, die jedoch bald von neuen Ängsten erstickt wird. Die Perfektion hält Einzug ins Sexleben, der Körper muss schön sein. In den neunziger Jahren sind Frauen "mehr denn je unter Beobachtung, ihr Verhalten, ihr Geschmack und ihre Wünsche wurden permanent kommentiert, mal besorgt, mal selbstgefällig".
Die Form, die Ernaux für ihr Erzählen wählt, ist ungewöhnlich. Stückweise gleicht sie einer Collage: Kurze Erinnerungen und Bilder lösen sich ab mit der ersten Person Plural, dem "Wir" der Geschichte der Frauen; und mit Ernaux' eigener Lebensgeschichte, die sie anhand von Fotografien in der dritten Person beschreibt. Vom "Kleinkind mit Babyspeck, Schmollmund und einer dunklen Haartolle" bis zur alten Frau, "die Stirn von Falten überzogen", ihre Enkelin auf dem Schoß. Möchte man ein ganzes Leben erzählen, gehören alle drei Dinge zusammen: Die Bilder, die scheinbar wahllos und zufällig im Kopf bleiben, die gesellschaftliche Entwicklung und die eigene Biographie. Zwar ist die Geschichte der Gesellschaft immer auch eine andere, als die der Person, die sie erlebt, denn nicht jeder war 1968 zwischen 18 und 25, nicht jeder warf Steine, nicht überall war Paris. Doch berührt dieses Ereignis trotzdem ein ganzes Land, jedes einzelne Leben. Ernaux fügt alles zusammen zu einer vollkommen neuen Form autobiographischen Schreibens. Durch ihre Perspektive gelingt es ihr, sowohl sich selbst als auch ihre Rolle in der Gesellschaft wie von außen zu betrachten, dabei jedoch trotzdem sehr intim und berührend zu sein.
Es sind Bilder, die in diesem Roman eine große Rolle spielen, Bilder, die man im Kopf hat, die man, wie die eigene Sprache, mit niemand anderem teilt, die einen zu dem machen, was man ist. Filmszenen, an die man sich erinnert, auch wenn der Rest der Handlung längst verblasst ist. Sätze, die einem jedes Mal einfallen, wenn man an einer bestimmten Stelle vorbeifährt, weil sie irgendwann mal von einem Beifahrer genau im Moment des Vorbeifahrens gesagt wurden.
Ernaux zählt Redewendungen auf, die sie in die Vergangenheit tragen, zu Personen, die diese immer benutzten. Oder einzelne Äußerungen, wie die ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter: "Anders als die stehenden Wendungen, sind diese Sätze einzigartig, sie gehören allein ihrer Mutter und niemandem sonst auf der Welt." Es sind diese Erinnerungen, die alles zusammenhalten, die die Beziehung zu anderen Menschen ausmachen: "Wenn man seine mittlerweile erwachsenen Kinder beobachtete und ihnen zuhörte, fragte man sich, was einen eigentlich verband, weder das Blut noch die Gene, nur eine Gegenwart aus Tausenden gemeinsam verbrachten Tagen, aus Worten und Gesten, aus Mahlzeiten, Autofahrten, unzähligen geteilten Erfahrungen, deren man sich nicht bewusst war."
Auch wenn Ernaux auf diese Weise die Vergangenheit bewahren möchte, "etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird", ist sie nicht nostalgisch. "Dass Fragen in Bezug auf die Vergangenheit immer sinnlos sind", weiß sie zu gut. Ihre Haltung entsteht aus einem kritischen Blick auf die Gesellschaft, damals und heute. Das ist, neben dem Erinnern, das andere große Thema des Buchs, seine soziologische Seite, an der man sieht, warum Éribon sagt, er habe viel von ihr gelernt. Ernaux' Beobachtungen sind präzise und vorausschauend, besonders, wenn man bedenkt, dass der Roman in Frankreich vor bald zehn Jahren erschienen ist. Sie beschreibt, was die französische Gesellschaft teilt, sie erkennt, dass es Menschen gibt, die nicht dazugehören. Migranten, die irgendwo in dubiosen Vierteln wohnen, wo niemand hingehen mag; Menschen, die man allein als Bauarbeiter oder Müllmänner kennt. Sie fürchtet sich vor dem Erstarken der Rechten und der zunehmenden Kritik an den Medien. Nur manchmal rutscht sie dabei in eine etwas einseitige Fortschrittskritik, die sich den moralischen Zeigefinger, wenn auch aus stets distanzierter Haltung, nicht immer verkneifen kann.
Man mag sich "Die Jahre" nun sehr vollgepackt, ja verwirrend vorstellen. Auch die Erzählerin selbst hat "Angst, sich in den vielen Facetten der Wirklichkeit, die sie beschreiben will, zu verlieren". Erstaunlicherweise passiert das jedoch nie. Im Gegenteil überzeugt der Roman gerade dadurch, dass er die verschiedenen Ebenen miteinander vermischt. Auch das eigene Leben ist ja nichts anderes als ein ständiger Wechsel zwischen kleinen Beobachtungen und Weltgeschehen, zwischen Privatem und Kollektivem.
In all den Jahren mit ihren Veränderungen gibt es außerdem etwas, das bleibt. Die gemeinsamen Familienessen verbinden die einfache Kindheit mit Ernaux' späterem Leben als Intellektuelle, in dem sie selbst erst Mutter und schließlich Großmutter ist. Die Familienmitglieder wechseln, die Gesprächsthemen ändern sich, doch die Tradition bleibt bestehen. Es ist eine Tradition, die die Kinder langweilt und die erst mit dem Alter immer kostbarer wird, wenn Verwandte, die früher einmal dabei waren, in Erzählungen lebendig werden, und einem gleichzeitig bewusst wird, dass Zeit vergeht: "Wie das sexuelle Verlangen ist auch die Erinnerung endlos. Sie stellt Lebende und Tote nebeneinander, reale und imaginäre Personen, eigene Träume und die Geschichte." Ernaux' Buch ist der Versuch, das Erinnern in Worte zu fassen, damit eines Tages, wenn man "nur noch ein Vorname" sein wird, "von Jahr zu Jahr gesichtsloser", trotzdem etwas bleibt.
ANNA VOLLMER
Annie Ernaux: "Die Jahre". Roman. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 255 Seiten, 18 Euro. Die Autorin liest heute Abend in Essen, morgen in Bonn und tritt auf der Buchmesse zusammen mit Didier Éribon auf (am Donnerstag, dem 12. Oktober, um 18.30 Uhr in der Evangelischen Akademie).
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Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Es mussten wohl erst Didier Eribon und Edouard Louis kommen, damit sich auch hierzulande jemand fand, Annie Ernauxs biografischen Roman "Die Jahre" knapp zehn Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich zu veröffentlichen, glaubt Rezensentin Anna Vollmer. Zu Unrecht, fährt die Kritikerin fort, denn Ernaux gelinge das Kunststück, private Erinnerungen in eine gesellschaftliche Erzählung zu verwandeln. Gebannt folgt die Rezensentin der Autorin bei ihrem melancholischen Rückblick auf das vergangene halbe Jahrhundert, erlebt wirtschaftlichen Boom und Überdruss, sexuelle Unterdrückung und Befreiung und bewundert die eindringlichen und lange nachhallenden Bilder und Sätze, die Ernaux für ihre Erlebnisse findet. Bewegt liest Vollmer zudem, wie die Autorin von der gemeinsamen Zeit mit ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter erzählt. Nicht zuletzt staunt die Rezensentin über den vorausschauenden, nostalgiefreien kritischen Blick der Autorin auf die Gesellschaft. Ernauxs präzisen Beobachtungen nimmt Vollmer die gelegentliche "einseitige Fortschrittskritik" nicht übel.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Private Fotografien, kollektive Geschichte: Annie Ernaux betrachtet in Die Jahre eine ganze Epoche und erzählt eine französische Mentalitäts- und Emotionsgeschichte.« Peter Urban-Halle Frankfurter Allgemeine Zeitung 20171102
Audio CD
Als ich vor vielen Jahren den Song „Money“ von Pink Floyd zum ersten Mal hörte, war ich hin und weg. Das lag an dem ganz besonderen Effekt, den ich nur durch den Kopfhörer so richtig wahr nahm. Die Münzen purzelten vom rechten zum linken Ohr und dieses Erlebnis vergesse …
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Als ich vor vielen Jahren den Song „Money“ von Pink Floyd zum ersten Mal hörte, war ich hin und weg. Das lag an dem ganz besonderen Effekt, den ich nur durch den Kopfhörer so richtig wahr nahm. Die Münzen purzelten vom rechten zum linken Ohr und dieses Erlebnis vergesse ich nie. So erging es mir auch bei diesem Hörbuch „Die Jahre“. Ich hörte das Buch mit dem Kopfhörer und die Stimmen wanderten von einem Ohr zum anderen. Toll. Dazu eine Musik, die das Gesagte perfekt unterstreicht.
Nein, das Buch ist nicht alltäglich, sondern außergewöhnlich. Wichtig ist, dass man sich auf diese Art der Darstellung einlässt. Es sind vier Frauen unterschiedlichen Alters, die hier aktiv sind. Sie reißen das Geschehen kurz an. Das heißt, dass sie nicht nur das Leben der Autorin zusammenfassen. Auch die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der Kampf und die Emanzipation und die sexuelle Freiheit der Frauen ist ein Thema. Kurzum ein Hörbuch, das Bilder entstehen lässt, die für mich stimmig und nachvollziehbar sind. Es gibt also eine ausdrückliche Empfehlung für dieses beeindruckende Hörspiel verbunden mit der Hoffnung, dass es einen guten Platz bei der Wahl der Juroren erhält. Es gehört nämlich zur Shortlist des Hörbuchpreises 2020. Meine Stimme hat es auf jeden Fall.
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Gebundenes Buch
Milieustudie in der Fünften französischen Republik
Das Haus der Geschichte in Bonn ist ein Museum, das vom Alltagsleben in der Bundesrepublik Deutschland erzählt. Dieses Buch macht das gleiche für Frankreich.
Politik wird nicht ausgespart, kommt aber nur am Rande vor, eben …
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Milieustudie in der Fünften französischen Republik
Das Haus der Geschichte in Bonn ist ein Museum, das vom Alltagsleben in der Bundesrepublik Deutschland erzählt. Dieses Buch macht das gleiche für Frankreich.
Politik wird nicht ausgespart, kommt aber nur am Rande vor, eben so wie man sich darüber im Alltag unterhält. Wichtiger sind die Fortschritte der Moderne, etwa die Einführung der 35-Stunden-Woche, der Fernseher, der PC oder das Handy.
Dinge, die viele Betreffen beschreibt die Autorin mit „man“, auch wenn etwa nicht alle Mitterrand wählen. So entstehen Lebensweisheiten wie: „Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten.“ (S.150)
Persönliche Erlebnisse erzählt die Autorin in der dritten Person und ist in erotischen Fragen offen, wie mein Lieblingszitat zeigt: „als sie in Toledo im Hotel Estorial übernachten, wird sie mitten in der Nacht von spitzen Schreien wach […] Mittlerweile ist auch ihr Mann aufgewacht, und sie stellen fest, dass irgendwo eine Frau einen gewaltigen Orgasmus hat, ihre Schreie hallen von den Wänden des Innenhofs wieder und dringen durch die offenen Fenster herein. Ihr Mann schläft schnell wieder ein, während sie neben ihm masturbiert“ (S.148)
Ich habe ihr Buch „Erinnerungen eines Mädchens“ vorher gelesen. Es erstaunt, dass die Lücke in ihrer persönlichen Biographie gut kaschiert ist und nicht auffällt.
Mir gefällt ihre Art zu schreiben, ihr Humor mit echten Witzen („ein anständiges Mädchen geht um acht ins Bett, damit es um zehn zu Hause ist“ (S.15)) und lustigen Vergleichen. 5 Sterne.
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Broschiertes Buch
Sehr französisch;
Die Autorin entpuppt sich als eine sehr gute Beobachterin und Analystin. Das Buch beschreibt ihr Leben in Frankreich beginnend mit der Kriegszeit (sie ist 1940 geboren). Jedes Jahrzehnt, jedes Ereignis – privat wie öffentlich – wird kommentiert und das …
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Sehr französisch;
Die Autorin entpuppt sich als eine sehr gute Beobachterin und Analystin. Das Buch beschreibt ihr Leben in Frankreich beginnend mit der Kriegszeit (sie ist 1940 geboren). Jedes Jahrzehnt, jedes Ereignis – privat wie öffentlich – wird kommentiert und das Zeitgefühl soziologisch analysiert. Obwohl ich viel über Frankreich weiß, gab es viele Dinge (politische, literarische, etc. oder einfach nur Konsumprodukte) die mir neu waren und deshalb nicht immer einfach zu verstehen. Das eigentlich bemerkenswerte an diesem Buch ist der Schreibstil. Es gibt keine Kapitel oder irgendwelche Einteilungen oder ein übergeordnete Struktur. Anhand von Fotos und Erinnerungen werden die Jahrzehnte mehr oder weniger chronologisch erzählt und die einzelnen Themen ziehen sich über Seiten oder auch nur über ein bis zwei Sätze. Zu Beginn ist das sehr gewöhnungsbedürftig, aber ich konnte mich schnell daran gewöhnen. Inhaltlich fand ich das Buch sehr interessant, es macht die vergangenen Jahrzehnte mit ihrem Zeitgeist lebendig und nachvollziehbar.
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Broschiertes Buch
Das eigentlich Besondere an dieser völlig neuartigen Autobiografie ist die neutrale, überaus sachliche Darstellung der Veränderungen. Die größten gesellschaftlichen Umwälzungen werden mit der gleichen Tonlosigkeit vorgestellt wie die körperlichen …
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Das eigentlich Besondere an dieser völlig neuartigen Autobiografie ist die neutrale, überaus sachliche Darstellung der Veränderungen. Die größten gesellschaftlichen Umwälzungen werden mit der gleichen Tonlosigkeit vorgestellt wie die körperlichen Veränderungen der Autorin, die sich selbst niemals in der ersten Person nennt, sondern immer in der dritten Person Singular, was den Abstand zum Geschehen noch vergrößert. Dieser Schreibstil und die Schilderung der vielen Jahre nehmen den Leser gefangen, der sich an manches erinnern wird und sich fragen wird, wie er selbst auf die Vorkommnisse reagiert hat. Es ist eine sehr besondere Lektüre, die ich nur empfehlen kann.
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