Produktdetails
  • Verlag: Assoziation A
  • ISBN-13: 9783935936118
  • ISBN-10: 3935936117
  • Artikelnr.: 25732767
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.11.2004

Euphemismus Globalisierung?
Mike Davis über Hunger und Tod in der Dritten Welt als Kollateralschäden der modernen Weltwirtschaft
Das Klima spielte verrückt. Unglaubliche Trockenheit ließ in Indien die Erde verdorren, in anderen Teilen der Welt kam es dagegen zu Überschwemmungen. „El Niño” sollten die Meteorologen dieses Klimaphänomen später nennen. Nahrungsknappheit war die Folge, bis zu fünfzig Millionen Menschen verhungerten. Getreide war zwar genug da, hohe Spekulationspreise verhinderten jedoch, dass die Ärmsten der Armen sich es leisten konnten. Der Zwang, für den Export zu produzieren, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu sein, hatte die klassische Subsistenzwirtschaft zerstört. Die traditionelle Katastrophenvorsorge war eingestellt worden, da es den neuen Wirtschaftslenkern lukrativer erschien, überschüssiges Getreide nach Europa zu verkaufen, als es in Lagerhäusern für den Notfall zu speichern. Die Regierung wollte oder konnte nicht helfen - das Credo des freien Welthandels und des freien Marktes, der Angebot und Nachfrage ausbalancieren soll, verhinderte jedwede staatliche Intervention.
Wer nun glaubt, einen sensationsheischenden Bericht militanter Globalisierungsgegner zu lesen, die durch übertriebene Schilderungen gegen die Segnungen der freien Weltwirtschaft polemisieren wollen, der irrt. Weder ist der Bericht übertrieben, noch stammt er aus der Feder von Aktivistengruppen. Es ist der Bericht über Ereignisse, die mehr als einhundert Jahre zurück liegen: die großen Hungersnöte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Wer sich jedoch an heute erinnert fühlt, der braucht sich nicht zu wundern. An vielen Stellen ist spürbar, dass der amerikanische Soziologe Mike Davis über den europäischen Imperialismus schreibt, aber die heutige Entwicklung im Blick hat.
Bewusstes Sterbenlassen?
Sein Befund, dass die Klimakatastrophen zwar die Voraussetzungen für die Hungerkatastrophe bildeten, dass diese aber keineswegs unausweichlich war, sondern erst durch Entscheidungen des Staates zu einer millionenfachen Katastrophe wurde, kann und soll wohl auch als eine Kritik an Weltbank und Internationalem Währungsfonds in der Gegenwart gelesen werden.
Wichtiger scheint, dass Mike Davis, indem er historische Ereignisse als Kommentar heranzieht, zugleich einen wichtigen Beitrag zur historischen Tiefendimension der Globalisierung leistet. Zwar weisen Historiker seit längerem darauf hin, dass das Phänomen einer immer stärkeren Vernetzung der Welt spätestens mit den großen Entdeckungsreisen der Portugiesen und Spanier im 15. und 16. Jahrhundert seinen Anfang nahm - dennoch glauben immer noch viele politisch und wirtschaftlich Verantwortliche, es handele sich um eine völlig neuartige Entwicklung.
Davis’ Buch ist auch ein bedeutender Beitrag zu den jüngst intensiv gestellten Fragen nach den ökologischen Auswirkungen von Kolonialismus und Imperialismus. Die zwangsweise Eingliederung in den Weltmarkt, das Ersetzen bäuerlicher Subsistenzwirtschaft durch den Anbau von cash-crop veränderte die Agrarstruktur und führte zu einem Niedergang eines teilweise über Jahrhunderte entwickelten Katastrophenschutzes zugunsten der Interessen der Investoren in London, dem damaligen Zentrum der Weltwirtschaft: Dämme brachen und Kanäle versandeten, Millionen Menschen verloren ihr Leben.
Laut Davis, und das führt zu den umstritteneren Aspekten seines Buches, war das Sterben all dieser Menschen jedoch bewusst herbeigeführt. Die Verantwortlichen gerade im britischen Indien hätten Nahrungsmittelhilfe nicht zugelassen, um zum einen die Kräfte des Marktes nicht außer Kraft zu setzen, zum anderen aber auch, um Raum für Modernisierung zu schaffen. In dieser These liegt die eigentliche Sprengkraft des Buches, die im amerikanischen Titel auch bewusst als Signal gesetzt ist. Was in der Übersetzung neutral „Die Geburt der Dritten Welt” heißt, lautet im Original „Late Victorian Holocausts”. Dies steht für einen Genozid, für den bewussten Versuch der Ermordung eines ganzen Volkes. Und hier regen sich beim Rezensenten Zweifel - Zweifel, ob man eine solche Intention tatsächlich feststellen kann, ob der Vorwurf des Völkermordes berechtigt ist. Schließlich behauptet selbst Davis nicht, dass die Verantwortlichen alle Inder ermordet wissen wollten.
Dennoch hat Davis ein wichtiges Buch geschrieben, in einer Zeit, in der sich - wie etwa bei dem britischen Historiker Niall Ferguson mit seinem Buch „Empire” - eine positivere Neubewertung des britischen Empires abzeichnet. Gerne betont man die Rechts- und Wirtschaftsordnung des britischen Kolonialismus als harmonisierende und infrastrukturell zusammenführende, eben globalisierende Leistung. Davis indes zeigt die blutigen Kollateralschäden dieser Politik.
JÜRGEN ZIMMERER
MIKE DAVIS: Die Geburt der Dritten Welt. Hungerkatastrophen und Massenvernichtung im imperialistischen Zeitalter. Assoziation A Verlag, Berlin 2004. 460 Seiten, 29,50 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Die Zusammenhänge, die der marxistisch orientierte Soziologe Mike Davis hier entfaltet, sind einigermaßen komplex, erstaunlicherweise haben sie aber viel mit dem Wetter zu tun. Eine Klimakatastrophe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nämlich war, so seine These, der Auslöser für die "Geburt der Dritten Welt", das heißt Hungersnöte und weitflächige Verarmung in ganzen Kontinenten. Der Auslöser, aber nicht die Ursache. Die liegt sehr viel eher im Zusammenspiel von "integrierter Weltökonomie, der zugehörigen spätviktorianischen Freihandelsideologie und dem Imperialismus". Am Beispiel Indien wird es vorgeführt: Die liberalistische Kolonialideologie zerstörte alte Vorratsstrukturen, verweigerte jede Nothilfe von Staatsseite und lieferte die lokale Wirtschaft so dem Klima aus, das mit Unwettern und Hitze für Ernteausfälle sorgte. Dies nur eines der zahlreichen Beispiele - und en détail nachprüfbar, so Mark Terkessidis, sind sie nur für den Fachmann, nicht für den Rezensenten. Glaubwürdig aber findet der den Autor allemal. Alle Versuche, ihm bei seinem letzten, höchst umstrittenen Buch "Ökologie der Angst" Fehler nachzuweisen, seien nämlich gescheitert.

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