Die Flüchtigen
Alain Damasio zeigt einen vom Lobbyismus geprägten Kapitalismus im Endstadium: Überwacht werden wir nicht, um unterdrückt zu werden, sondern damit man uns Dinge verkaufen kann, die uns das Leben in der Überwachung erträglicher machen. Allein die Flüchtigen weisen den Weg aus dem Konsumzwang. Ihre Wandel- und Formbarkeit bildet sich in der Typografie ab, hinter der der Text immer mehr zum Rätsel wird.
Produktdetails
- Verlag: Matthes & Seitz Berlin
- Originaltitel: Les Furtifs
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 838
- Erscheinungstermin: 21. Oktober 2021
- Deutsch
- Abmessung: 218mm x 148mm x 56mm
- Gewicht: 1077g
- ISBN-13: 9783751800396
- ISBN-10: 3751800395
- Artikelnr.: 61607237
Herstellerkennzeichnung
Matthes & Seitz Verlag
Großbeerenstraße 57A
10965 Berlin
vertrieb@matthes-seitz-berlin.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
So sieht Widerstand aus: Alain Damasios hochaktueller und politisch brisanter Dystopieroman "Die Flüchtigen"
Es ist schon ein Wälzer - aber das ist keine Entschuldigung! Der Rezensent muss mit einem mea culpa einsteigen, reumütig und zerknirscht darüber, dass er den Band so lange hat warten lassen. Alain Damasios großartiger Roman "Die Flüchtigen" hätte Besseres verdient: Seit vergangenem Herbst ist er auf dem deutschen Markt und weitgehend unter dem Radar geblieben. Er verkauft sich schlecht, obwohl er in Frankreich ein Renner war. Rezensionen gab es bei uns vor allem in der linken Presse, was am Standpunkt des Buches liegt. Nur: Auch der spricht absolut nicht
Entworfen wird die technoliberale Welt des Jahres 2040, in der die Städte im Besitz von Konzernen sind: "Nestlyon, Moacon, Paris-LVMH, Lille-Auchan, AlphaBrux". Die Einwohner sind in Konsumentenklassen eingeteilt, Kultureinrichtungen als unrentabel geschlossen, soziale Interaktion hat einem individualisierten digitalen Kokon Platz gemacht. Diese aalglatte, sanft totalitäre Welt stellt nur eine Handvoll Außenseiter infrage; unter ihnen Lorca und Sahar Varèse, ein Soziologe und eine Dozentin, die auf der Straße unterrichtet. Beide haben jedoch andere Sorgen: Ihre vierjährige Tochter Tishka ist eines Tages aus ihrem geschlossenen, überwachten Zimmer im fünften Stock verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Die Ehe ist daran zerbrochen, Sahar wirft ihrem Mann vor, die Realität zu verdrängen.
In der Tat, Lorca, der Nonkonformismus im Namen trägt, gibt nicht auf. Er kommt eigenartigen Wesen auf die Spur: den Flüchtigen. Die auch Fluchse genannten Kreaturen sind rasend schnell und verwandeln sich fortwährend; lebend bekommt man sie nicht zu Gesicht, man spürt oder hört sie nur. Werden sie in die Enge getrieben und sichtbar gemacht, erstarren sie zu Keramikstatuen und vermeiden so, dass ihrer Wandelbarkeit erforscht wird. Lorcas These: Die Flüchtigen haben mit Tishkas Verschwinden zu tun. Um sie zu finden, wird er Mitglied des RiFF ("Regiment investigative Erforschung und Festsetzung von Flüchtigen"), einer Spezialeinheit der Armee. Er bildet ein Team mit Hernán Agüero, Meutenführer, Saskia Larsen, Akustikexpertin, und Nèr Arfet, Treiber; geleitet und in ihren waghalsigen Unternehmungen gedeckt werden sie von Admiral Feliks Arshavin. Der vermutete Zusammenhang existiert: Tishka ist zur Hybride mutiert, halb Mensch, halb Flüchtige; Sahar lässt sich endlich überzeugen.
Der Roman erzählt von der Suche der Eltern nach dem Kind. Sie tauchen in alternative Milieus ein, konsultieren einen erlesenen Linguisten- und Philosophenzirkel, der die Zeliglyphen, die rätselhafte Flüchtigenschrift, zu entziffern versucht; als die Kontaktaufnahme mit Tishka endlich gelingt, geschieht es allerdings auf direkte, emotionale Weise. Parallel dazu nehmen soziale Proteste an Fahrt auf. Die Flüchtigen werden zum Symbol des Widerstands, Staatsgewalt und Privatmilizen versuchen, der Familie den Garaus zu machen. Auf der besetzten Insel Porquerolles, vor Marseille, kommt es schließlich zu einem spannenden Showdown. Darum geht es Damasio im Kern: die Herausforderung einer tristen, technoliberalen Welt durch Wesen, die ihren Kontroll- und Konsummechanismen entkommen - durch einen Hauch von Leben und Kreativität also.
"Die Flüchtigen" ist eine Dystopie, wie sie im Buche steht: Negativtendenzen unserer Zeit werden in die Zukunft fortgeschrieben und in aller Konsequenz entwickelt; Damasio hält der Gegenwart den Zerrspiegel vor. Anders als Houellebecq, dessen schöne neue Welten von ironischem Zweifel durchsetzt sind, ist sich Damasio sicher, was er lebenswert findet und was nicht. Das merkt man seinen Schilderungen der alternativen Szene an, etwa dem kontemplativen, von der balinesischen Kultur inspirierten Inselkollektiv auf der Rhône oder der aktivistischen Besetzertruppe auf dem Dach des Luxushochhauses "BrightLife". Es zeigt sich in seinen ebenso bunten wie engagierten Beschreibungen kollektiver Lebensmodelle und Entscheidungsprozesse. Darunter sind Stellen, an denen Schnitte möglich und teils sinnvoll gewesen wären, aber sie liegen dem Autor am Herzen; im Zivilleben hat Damasio, als Alain Raymond 1969 in Lyon geboren, sich gegen den Flughafen von Notre-Dame-des-Landes und für die Gelbwesten eingesetzt.
Er hat gute Argumente. Seine Außenseiter sind so erfinderisch, aktionistisch, versponnen und klarsichtig, dass man sie nur gernhaben kann. Seine Welt schildert er mit unglaublicher Liebe zum Detail, sodass ein realistisches und leider plausibles Bild einer digital verblödeten Zukunft entsteht, Mark Zuckerbergs Träumen entsprungen. Der Blick darauf ist ebenso vielfältig: Damasio lässt immerfort die Erzählperspektive wandern. Der Hauptfokus liegt zwar auf dem Helden Lorca, aber viele Stimmen kommen zu Wort, werden durch Formel-, Satz- oder diakritische Zeichen markiert. So die des Technikfreaks Nèr (die hier typographisch nur annähernd wiedergegeben werden können): "\Präsenzmelder \\und \Bewegungsmelder > ØK. Bødensensoren > ØK." Die experimentelle politische Haltung des Autors spiegelt sich im Schriftbild, das markante Individualitäten zu einem kollektiven Kaleidoskop vereint.
Für "Die Flüchtigen" spricht schließlich, dass der Roman einfach mitreißt: Man leidet mit den Eltern, kämpft mit den Besetzern, verbirgt sich mit den Flüchtigen. Der Plot ist klar gegliedert, die ausführlichen Einzelszenen fügen sich zu einem intakten Spannungsbogen, der am Ende gekonnt variiert wird. Kurz nachdem Lorca und Sahar Tishka endlich wiedergefunden haben, werden sie von den Ordnungskräften gestellt. Tishka, dieses "schnurrende kleine Ding", das angeblich ein Kontaminationsrisiko darstellt, wird regelrecht zur Strecke gebracht. Doch der Freundesgruppe um Lorca und Sahar, die sich aus dem RiFF, Linguisten und Besetzern gebildet hat, gelingt es, ihre letzte Geste zu deuten und sie in einer fast religiösen Konzertszene wieder zum Leben zu erwecken. Nur, um dann doch noch in eine finale Halbkatastrophe mit hoffnungsvollem Ausgang zu schlittern.
Das Wesen der Flüchtigen, und das ist kein Spoiler, ist der Klang. Sie werden daraus geboren, und jeder Fluchs hat seinen ureigenen "Schauder", eine Grundmelodie, das einzige stabile Element in der ständigen Metamorphose, durch die Flüchtige sich an die Umgebung anpassen und sie inkorporieren. Sie verändern dabei ihr Milieu, stoßen Mutationen an, sind das Leben selbst. Das ist die philosophische, ja kosmische Botschaft des Romans, ausbalanciert durch Actionszenen - "Das ist die Kavallerie der Gegenwart, das ist Rodeo, postmodernes Lanzenstechen, das Rittertum des Punks! Mit heißlaufenden Propellern, Wasserwerfern und Skibindungen anstelle von Steigbügeln" - und berührende Familientableaus. Für die Übersetzerin Milena Adam eine Herausforderung, von Gedichten, entfesselter Umgangssprache, Alliterationshäufungen und anderen protopoetischen Schelmenstreichen zu schweigen. Aber, und das wäre der letzte Punkt pro "Die Flüchtigen": Der Roman ist sprachlich bei aller Vielfalt aus einem Guss. Das teilt Damasio mit den Flüchtigen: eine einzigartige Stimme, die anregt zum Denken und zum Träumen. NIKLAS BENDER
Alain Damasio:
"Die Flüchtigen". Roman.
Aus dem Französischen von Milena Adam. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2021. 844 S., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leider ist dieser tiefschürfende Kommentar nicht vollständig abgedruckt. Vielleicht ein Grund für buecher.de den Raum für solche Besprechungen zu erweitern? Ansonsten vielen Dank für die interessante und aufschlussreiche Rezension!
Danke für das positive Feedback! Ich musste die Rezension schon um zwei Absätze kürzen, danach wurde sie mir als vollständig angezeigt. Hier der Rest:
Ein Makel, der bei entsprechender Straffung der Action den Roman bestimmt um mindestens 100 Seiten hätte kürzen können. Einigen Figuren würde ich zudem eine gewisse Geschwätzigkeit unterstellen.
Als bedauerlich habe ich die zahlreichen sprachlichen Übersetzungsfehler inklusive einiger Wortdoppelungen empfunden. Ich glaube, ich habe zuvor noch keinen Verlagstitel gelesen, in dem so häufig "das" und "dass" verwechselt wurde. Zugute halten muss man dem Verlag und der Übersetzerin aber, dass es wohl äußerst schwierig gewesen sein muss, diesen in Sprache und Darstellung so komplexen Roman angemessen auf Papier zu bringen.
Kleinere Kritikpunkte eines aber ansonsten in jeder Hinsicht außergewöhnlichen und aufregenden Romans, der nicht nur Science Fiction-Fans, sondern auch literarisch anspruchsvolle Leser:innen begeistern dürfte, die sich mehr Mut und Originalität in der Gegenwartsliteratur wünschen.
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