Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
ElliP
Wohnort: 
Hessen

Bewertungen

Insgesamt 119 Bewertungen
Bewertung vom 01.04.2024
Kanak Kids
Dimitrova, Anna

Kanak Kids


ausgezeichnet

Auf der Suche nach Zugehörigkeit, Heimat, Freundschaft, Familie, Liebe & sich selbst
Die 16-jährige Dessi bewegt sich in zwei unterschiedlichen Welten und verwandelt sich jeweils in die, die in dieser Welt Akzeptanz und Anerkennung erfährt. Einerseits lebt sie mit ihrer bulgarischen Familie und ist mit ihrer Osteuropa-Clique als Dessi unterwegs, zum anderen geht sie als Daisy auf das schicke Gymnasium, wo sie blauäugig und mit blonder Perücke tagtäglich als erfolgreiche Schülerin auftaucht.
Einen Teil ihrer selbst lässt sie bei dieser Metamorphose jeweils zurück, er wird unterdrückt, da sie Zurückweisung oder sogar Ausschluss aus der Gemeinschaft fürchtet. Aber kann man seinen Freunden, seiner Familie tagtäglich etwas vorspielen? Hält man es auf Dauer aus, immer nur mit einem Teil präsent zu sein, den anderen Teil aber zu verstecken? Kann man mit diesem halben / geteilten Leben glücklich sein?
Die junge, energiegeladene Dessi geht sehr kreativ mit dieser Transformation um. Der Leser fühlt mit ihr und kann ihre Ängste und Befürchtungen verstehen, weiß aber, dass es keine Lösung auf Dauer sein kann.
Die Situation spitzt sich zu, die partielle Verleugnung der Realität nimmt dramatische Ausmaße an und nur noch ein Deus ex machina kann helfen. Aber wem kommt diese Rolle zu?
„Kanak Kids“ von Anna Dimitrova ist ein wunderbar leichter, unterhaltsamer und humorvoller Roman mit Tiefgang und ernsthafter Problematik, bei dem mir die Heldin schnell ans Herz gewachsen ist und ich voller Bewunderung staune, wie sie ihr Leben und ihre Freundschaften im Griff hat bzw. wieder in den Griff bekommt. Ein Akt der Befreiung steht am Ende, der einen Strudel auslöst und neue Wege und einen Neuanfang nicht nur für Dessi / Daisy ermöglicht.
Ein Jugendroman, der als Schullektüre durchaus geeignet ist und zu wichtigen Diskussionen über Themen wie Coming of Age, Sexualität, Coming out, kulturelle Identität anregen und außerdem noch Freude an Literatur vermitteln kann.

Bewertung vom 29.03.2024
Wer ist schon normal? / Willkommen bei den Grauses Bd.1
Bohlmann, Sabine

Wer ist schon normal? / Willkommen bei den Grauses Bd.1


ausgezeichnet

Originelle, wunderbar verrückte Geschichte mit einer positiven Message
Es geht um Freundschaft, Akzeptanz und Toleranz, um das bunte Miteinander jenseits festgefahrener Erwartungen oder Vorurteilen.
Die neuen, seltsamen Nachbarn haben es Ottilie angetan und beflügeln ihre Fantasie und nach dem allmählichen Kennenlernen entwickelt sich eine echte Freundschaft, bei der man einander unterstützt und für den anderen auch in schwierigen Situationen einsteht. Wenn man will, kann man nämlich alles schaffen! Gemeinsam sind wir stark!
Ottilie hilft der ungewöhnlichen Familie Grause auf dem Weg zur Normalität, denn das gefürchtete Institut will den verrückten Opa abschieben, da er sich nicht „normal“ benimmt. Aber dann bekommt der Schrat eine 2. Chance für 13 Tage, in denen er beweisen muss, dass er in der normalen Welt bestehen kann!
Opa wird geputzt, gewaschen, ordentlich angezogen und er soll lächeln, lieb zu seinen Enkeln sein und zusätzlich bekommt er neue Aufgaben: Geschichten erzählen, sauber machen, Süßigkeiten verteilen – ob diese Anstrengungen genügen?
Dieses Kinderbuch bringt auch Erwachsene zum Schmunzeln und Lachen durch die ungewöhnlichen Sprachschöpfungen und überraschenden Wendungen. Freundlich-schräge Illustrationen runden die Lektüre perfekt ab – ein tolles Geschenk für Kinder mit Fantasie, die gerne in fremde Welten abtauchen und skurrile, nette Gestalten kennenlernen möchten.

Bewertung vom 24.03.2024
Zeit der Schuldigen
Thiele, Markus

Zeit der Schuldigen


ausgezeichnet

Spannend, kurzweilig, tolle Rückblenden und mosaikhaftes Kennenlernen der unterschiedlichen Figuren und Beziehungen - man muss mitdenken, macht sich seine eigenen Gedanken, schließt aus, vermutet, hofft, kombiniert und wird gefordert und man muss die Wirklichkeit des Romans sowie die Realität unseres Rechtssystems ertragen.

„Zeit der Gerechtigkeit“ des Göttinger Rechtsanwalts Markus Thiele liest sich rasant; erstmal Feuer gefangen, kann man das Werk kaum zur Seite legen. Aber nicht nur die rasante Entwicklung der Geschichte zeichnet diesen Roman aus, sondern auch die verschiedenen Ebenen, die Handlungsstränge, die sich erst im Laufe der Zeit aufeinander zubewegen und miteinander verbinden.
Im Zentrum stehen die Vergewaltigung und der Mord an einem jungen Mädchen, die Polizeiarbeit, die zur Aufklärung des Falles führen soll, Mangel an Beweisen zur Überführung des Täters, persönliche Betroffenheit, Selbstjustiz. Die Geschichte basiert auf einem realen Fall, der im Anhang des Romans dargestellt und erläutert wird.

Der Leser wird indirekt aufgefordert, Stellung zu beziehen, eigene Überlegungen anzustellen, auf alle Fälle mitzudenken. Diese bewusst offengelassenen Leerstellen – dass man nicht alles auf dem silbernen Tablett serviert bekommt, auch dass nicht alle Fragen beantwortet werden - sind reizvoll und bieten aktiven Lesegenuss bei diesem schwierigen, kaum zu ertragenden Thema.
Thieles Roman hat wieder einmal zum Nachdenken angeregt und ich glaube, dass er gerade auch für junge Menschen sehr geeignet ist, einen Eindruck von der Vielschichtigkeit von Wahrheit zu bekommen. Gerechtigkeit und Schuld, Bestrafung, Genugtuung und Rache sind nie eine bloße mathematische Aufgabe, bei der es nur richtig oder falsch, sondern ganz viele Grauzonen gibt - und das wurde mir bei diesem klugen, hintergründigen und intensiven Roman so deutlich, der die Erwartungshaltung des Lesers nicht befriedigt. Es ist nicht wie im Film: Wenn es noch nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende – aber ein Happy End wäre in diesem Fall nur verstörend und würde uns auch nicht befriedigen.

Bewertung vom 17.02.2024
Blutrot / Die Áróra-Reihe Bd.2
Sigurðardóttir, Lilja

Blutrot / Die Áróra-Reihe Bd.2


sehr gut

Der Krimi startet rasant mitten im Gewaltverbrechen: Gudrun, Ehefrau des vermögenden isländischen Unternehmers Flosi wurde gekidnappt und ein Verbrecherschreiben verlangt ein hohes Lösegeld. Wenn nicht gezahlt würde, müsse sie sterben. Flosi ist untröstlich, steht unter Schock, will alles für die sichere Rückkehr seiner geliebten Gudrun tun und verzichtet vorerst auf die Einschaltung der Polizei, um die Übergabe und den Austausch des Geldes gegen das Leben seiner Frau nicht zu gefährden. Stattdessen kontaktiert er seinen Vermögensverwalter in Schottland, um an die extrem hohe Summe zu kommen, die er bar in einer Tasche zur Verfügung stellen soll. Und in diesem Moment tritt Arora auf, die wir schon aus dem ersten Band „Höllenkalt“ von Lilja Sigurdardottir kennen und die sich um den Transport des Geldes über die Grenzen hinaus kümmern soll.
Die ungebundene, attraktive Privatdetektivin und Finanzermittlerin lebt zur Zeit aus persönlichen Gründen übergangsweise in Island, eigentliche Heimat ist London. Sie ist erfolgreich, unabhängig, selbstbewusst und etwas spröde, aber ihr Innerstes ist von den Erlebnissen im ersten Band noch erschüttert und beschädigt – denn sie hat noch eine weitere Mission zu erfüllen: Sie ist auf der Suche nach ihrer verschollenen Schwester Isafold.
Die Ereignisse überschlagen sich, sie ist mittendrin in der Gefahrenzone, geht Risiken ein und muss außerdem auch privat ihre Gefühle und Gedanken neu sortieren und bewerten.
Sigurdardottir schafft es durch ihren kurzen, prägnanten Schreibstil, den Leser in diese fremde, nordische Welt mitzunehmen. Immer wieder ergeben sich neue Wendungen, potentielle Verdächtige tauchen auf, private und geschäftliche Verstrickungen werden sichtbar und der Leser rätselt mit. Die kurzen Kapitel erzeugen Abwechslung und Schnelligkeit und bis zum Schluss steigt die Spannungskurve – ein gelungener zweiter Band der Arora-Trilogie, bei dem nicht alles abschließend geklärt bzw. aufgedeckt werden konnte. Der Leser darf sich nun auf spannende Unterhaltung in Band 3 freuen.

Bewertung vom 03.01.2024
Zweistromland
zu Stolberg, Beliban

Zweistromland


sehr gut

Ein starker Beginn, ich bin gleich bei der Protagonistin und kann mich in sie hineinversetzen – Dilan, eine junge Juristin, in Deutschland aufgewachsen und Tochter kurdischer Eltern, fühlt sich zwischen den Welten, kurdisch, türkisch und deutsch und sie begibt sich auf die Suche nach der Geschichte ihrer Eltern. In ihrer Familie herrscht Schweigen und Zurückhaltung, sobald es um die Vergangenheit, die Zeit in der Türkei geht und neugierige Fragen werden mit Schweigen und Zurückweisung bestraft. Deshalb begibt sich die junge, schwangere Frau in der Türkei auf die Reise nach der Familienvergangenheit. Sie will herausbekommen, was die Eltern in ihrer Jugend und Vergangenheit erfahren haben, warum dieses Schweigen entstanden ist, sie ist auf der Suche nach dem verlorenen Bruder, dem Familiengeheimnis und auch der eigenen Identität.
In den verschiedenen Zeitebenen erkennt der Leser stückweise die einzelnen Steinchen des Mosaiks, ein Vexierbild, das es zu entschlüsseln gilt. Politik, die Militärdiktatur der Türkei in den 80-er Jahren, die Unterdrückung der Kurden, Gewalt und Machtmissbrauch – Themen, die sich durch den Roman ziehen.
Die Sprache ist poetisch und konkret zugleich, wir sind bei der jungen Frau, die auf der Suche nach ihrer Identität ist und bei dem Teenager, der sich ausprobieren möchte, Kräfte misst und dem Geheimnis um den mysteriösen Bruder auf die Spur kommen möchte. Wunderschöne Metaphern begleiten uns durch das „Zweistromland“ und originelle Wortschöpfungen geben dem Roman Poesie und Leichtigkeit. Wir begeben uns mit Dilan auf die Suche nach ihrer Herkunft, nach Identität und Zugehörigkeit, nach Heimat und Familie – Fragen, die jeden beschäftigen und zeitlos und aktuell immer ihre Berechtigung haben und von Beliban zu Stolberg zu einem gelungenen Debut verarbeitet werden.

Bewertung vom 31.12.2023
Glitsch
Schwarz, Adam

Glitsch


sehr gut

Glit(s)ch: Ausrutschen - Ein Fehler, eine Lücke im Programm, wodurch etwas ermöglicht wird, was eigentlich nicht sein sollte, ein Fehler im Computerspiel! Das passt auf die Realität von Leon, dem Antihelden des Romans, der sich in einer fremden Welt wiederfindet, immer wieder Wege nicht gehen, sich im Spiel nicht bewegen kann – wie in einem Alptraum, bei dem der Träumer die Regeln nicht bestimmt und sie nicht unter Kontrolle hat.
Ausgangslage ist die Fahrt auf einem Kreuzschiff mit der Liebsten in der Nobel-Suite – ihre finanziellen Verhältnisse machen es möglich, denn Leon – der erfolglose Schriftseller - kann mit seinem kärglichen Einkommen nichts dazusteuern. Aber dann passiert das Unerwartete, die Trennung, das Verschwinden seiner Freundin Kathrin und er macht sich auf die Suche, die zu einer existenziellen Suche nach dem eigenen Ich ausufert.
Ein kafkaesk anmutendes Vexierspiel, eine Reise ins Ungewisse, alles spielt sich auf dem Schiff ab, das unergründlich, riesig und unüberschaubar eine Gegenwelt darstellt. Auf nichts ist Verlass, Regeln werden außer Kraft gesetzt. Leon wird mit seinem Selbst, seinen Problemen, Fragen, Erfahrungen, Bedürfnissen und Wünschen konfrontiert und es geht eher um die eigene Existenz als um die Liebesbeziehung zur Freundin. Jeder bleibt sich fremd, es geht um die Angst, sich und den Verstand zu verlieren.

Sprachlich eine Wucht! Adam Schwarz schafft es, den Leser in einen Sog zu ziehen, unkonventionelle Bilder betören, verstören und ein anregendes Lesevergnügen wird geboten - ich fühle mich bis zur Mitte großartig unterhalten, danach schippert das Boot leider etwas ziellos umher, deshalb einen Stern Abzug.

Bewertung vom 22.12.2023
Ausgelöscht
Prammer, Theresa

Ausgelöscht


sehr gut

Ein Thriller zum Miträtseln, atemberaubend, spannend geschrieben und der Leser versucht wie bei Agatha Christie den Fall zu lösen und die neuen Informationen immer wieder einzufügen. Es bleibt lange Zeit verwirrend und Fragen über Fragen entstehen: Wem können wir trauen? Wer ist unglaubwürdig? Wer ist the good and the bad guy? Wessen Erinnerungen sind „echt“, wessen wurden „manipuliert“? Diese erschreckende Erkenntnis lässt kein Licht im Dunklen zu, denn unter Umständen wissen sogar die Beteiligten nicht, was in der Vergangenheit wirklich passiert ist.
Am Anfang, also vor dem eigentlichen Beginn des Romans, steht ein großes Experiment, dass das Leben von Patienten mit PTB völlig auf den Kopf stellt: Aufgrund einer Behandlung und einer Neu-Programmierung soll das Trauma aufgelöst und die psychische Grundlage für eine gesunde, normale Entwicklung geschaffen werden. Mit gutem Willen und Forschergeist werden die ersten Patienten von ihren negativen Erlebnissen befreit, ein genialer Geniestreich gelingt und die Psychologen stürzen sich euphorisch in ihre Untersuchung – aber wie gestaltet sich die Zukunft der Probanden tatsächlich? Konnten die einschneidenden Erfahrungen, die Schuldgefühle, die tabuisierten Erinnerungen gelöscht werden und die Lebensbejahung und die Lebensqualität ab diesem „Reset“ wieder hergestellt werden? Was ist mit den ahnungslosen Opfern / Patienten passiert? Diese Fragen sind die Basis für die kriminalistischen Untersuchungen von Psychologen, Ärzten und Kommissaren, die Hand in Hand arbeiten. Wir lernen die Ermittler aus Österreich und Berlin kennen, den unberechenbaren Täter, dessen Handlungen alle überrascht, die Opfer, hübsche Frauen, die alle äußerliche Ähnlichkeiten aufweisen und die angeschlagene österreichische Psychologin, die diesen Fall lösen soll. Aber alleine ist das nicht zu schaffen und unter Zuhilfenahme alter Kontakte begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit.
Die unterschiedlichen Perspektiven und Zeitebenen gilt es zu entwirren und gemeinsam mit der Psychologin den Fall zu lösen. Und Theresa Prammer schafft es mal wieder, den Leser auf eine atemberaubende Reise mitzunehmen, bei der man den Thriller nicht mehr zur Seite legen kann.

Bewertung vom 02.12.2023
Das Hotel am Fuße des Vulkans
Maynard, Joyce

Das Hotel am Fuße des Vulkans


gut

Das Schicksal schlägt immer wieder zu: Es passiert so viel, ganz schreckliche Einschnitte im Leben Irenes, der Tod als ständiger Begleiter. Sie verliert die wichtigsten Menschen in ihrem Leben - als kleines Mädchen ihre Mutter und als junge Frau ihre große Liebe und ihren Sohn.
Den Auftrag der Oma, bei der sie als Waise aufwächst, auf keinen Fall ihre Identität preiszugeben, finde ich nicht nachvollziehbar, das macht ihr Leben unnötig schwer, belastet ihre Beziehungen und sie hat das Gefühl, alles alleine mit sich ausmachen zu müssen, ihre Schicksalsschläge im Gespräch mit guten Freunden nicht teilen zu können. Deshalb bleibt sie sich selbst und anderen immer ein Stückweit fremd, wahre Nähe und Begegnung sind nicht möglich. Irene ist sympathisch, trotzdem bleibt sie distanziert und ihre Verhaltensmuster bis zum Schluss nicht nachvollziehbar – sie steht sich und ihrem Glück immer wieder selbst im Weg, sie lernt nicht – weder aus eigenen Fehlern noch aus denen ihrer Freunde und Familienmitglieder. Das ist schade und eine verpasste Chance, sie ergibt sich ihrem Schicksal und nimmt vieles hin. Natürlich will Irene ihrem eigenen Leid entkommen, sich nicht mehr erinnern, sie ist auf der Flucht vor ihrer Vergangenheit – aber so sind Aufarbeitung, Überwindung und Neuanfang natürlich nicht möglich.

Am Schluss stehen zwar trotzdem Belohnung und ein Happy End, aber nicht aufgrund ihres klugen und selbstbestimmten Handelns, sondern aufgrund eines Zufalls – ein Ende wie im Märchen: das Gute wird belohnt und wir hinterfragen nichts. That’s it.
Thema des Romans ist die Lebensreise, die Reise ins Ungewisse dient als Metapher für Aufbruch, Suche, Neuanfang - ein schönes Motiv, das der Lektüre seinen Reiz verleiht.
Und in diesem Kontext reihen sich eine Fülle an Geschichten aneinander, z.T. wird es etwas unübersichtlich, die Müllkönigin, die Echsenmänner, eine Chinesin, Zwillinge, Neugeborene, Adoptierte, Verliebte, Verlobte, Diebe, Polizisten, Mütter und Kinder, Ariadne, Frederico, Leila und wie sie alle heißen. Es erinnert mich etwas an 1001 Nacht, wo immer neue Geschichten erzählt werden, ein Erzählfluss den Leser unterhält, Farben und Gerüche und Töne aufeinandertreffen, immer wieder poetisch und voller Sinneseindrücke. Aber trotz der vielen sinnlichen Eindrücke und breitgefächerten Erzählstränge bleibt mir diese bunte Welt trist und eindimensional, ich werde weder ergriffen noch leide oder lache ich mit den Figuren – ich bleibe ein stiller, leicht irritierter Betrachter einer fremden Welt, die nicht die meine ist.

Bewertung vom 22.11.2023
Weiße Tränen
Schrocke, Kathrin

Weiße Tränen


ausgezeichnet

„Weiße Tränen“ – ein Jugendroman, in dem es um Alltagsrassismus, aber auch um Freundschaft, erste Liebe, Homosexualität, Loyalität und erste Erfahrungen mit dem Tod geht, der spannend in die Welt der Jugendlichen eintaucht und den Leser nachdenklich zurücklässt, da sich sicherlich jeder in der einen oder anderen Rolle wiederfinden kann bzw. Verhaltensmuster bei sich entdeckt, die es zu hinterfragen gilt.
Was bedeutet Freundschaft für mich? Inwieweit ist auf mich Verlass, dass ich meinen Standpunkt in einer Gruppe vertrete, auch wenn der allgemeine Konsens ein anderer ist? Inwieweit versuche ich, die Perspektive meines Gegenübers zu verstehen? Mich in die Welt und die Erfahrungen eines anderen hineinzuversetzen? Inwieweit bin ich bereit, meine eigenen Privilegien zu überdenken, zu hinterfragen und auch aufzugeben? Kann ich mir selbst trauen und mir eine eigene Meinung bilden und danach handeln? Viele wichtige Fragen, die für Jugendliche in der Phase der Ich-Findung, Selbsterkenntnis und Entwicklung von besonderer Bedeutung sind. Wer bin ich? Wer will ich sein?
Anhand der Geschichte von Lenni, seinem Freund Serkan, dem beliebten, attraktiven It-Girl der Theatergruppe, dem Sohn des Bürgermeisters und dem allseits beliebten Lehrer erfahren wir, was es bedeutet, wenn plötzlich ein Fremder dazukommt und die gewohnte Sichtweise durcheinanderbringt, feste Strukturen und Verhaltensmuster auf einmal neu bewertet und gesprengt werden. Spannend und kurzweilig, unterhaltsam und zum Nachdenken anregend schafft die Autorin Kathrin Schrocke den Spagat zwischen Unterhaltung und Bildung, nach der Lektüre wird sicherlich die eigene Position neu überdacht und bestenfalls auch verändert. Der Roman bietet auf alle Fälle viele mögliche Diskussionsanlässe – sicherlich geeignet für die Lektüre in der Schule.

Bewertung vom 28.10.2023
Der Geruch von Ruß und Rosen
Rabinowich, Julya

Der Geruch von Ruß und Rosen


ausgezeichnet

Julya Rabinowichs Roman handelt von Medina, einer starken Heldin auf dem Weg zu sich selbst in Verbindung mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihre Familie, die Krieg und Flucht aus einem ungenannten Land hinter sich hat, ist nun ohne Vater in Deutschland angekommen und versucht, einen neuen Halt und ein neues Zuhause zu finden. Mutter, Tante, Oma, kleiner Bruder versuchen gemeinsam mit Madina den Neuanfang, bewältigen die Vergangenheit aber jeweils anders und mit unterschiedlichen Zielsetzungen mithilfe von Therapeuten, Lehrern, Freunden und auch Bekannten aus der alten Heimat. Immer wieder taucht die Sehnsucht auf und Amina, die geheimnisvolle, schöne Schwester der Mutter und Medina machen sich auf die Suche nach dem Vater und der Vergangenheit. Amina öffnet sich nur wenig und ihre Motive bleiben vorerst unklar, warum sie in das ehemalige Kriegsgebiet fährt, was sie von der neuen Familie ihres verstorbenen Vaters erwartet, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt.
Sprachlich ein Kunstwerk, ein berührender Text, voller sprachlicher Schönheit, ungewöhnlicher Metaphern, dicht, poetisch und auch wieder umgangssprachlich mit knappen Sätzen und direkten Aussagen. Die Sehnsucht der Menschen nach Frieden, Normalität, Anerkennung und Toleranz wird immer wieder deutlich und dem Leser wird vor Augen geführt, welche Schicksalsschläge, Traumata, Unsicherheiten, existentielle Sorgen und einschneidende Erlebnisse die Menschen mit Fluchterfahrungen mit sich tragen, sie prägen und welche Schwierigkeiten entstehen können.
„Der Geruch von Ruß und Rosen“ ist ein großartiger Roman, der mich immer wieder sehr bewegt hat. Ich wünsche Madina alles Gute auf ihrem weiteren Weg, für ihr Studium, für ihre Träume und ihr weites, mutiges Herz!
Voller Empathie habe ich die junge Protagonistin begleitet, zurück in die alte, zerstörte Heimat, vor neue Herausforderungen gestellt, alte Geheimnisse und Tabus entwirrend, ungeahnte Konflikte bewältigend - ein großartiger Charakter auf der Suche nach Sinn und Wachstum. Die sensible, kluge Lektüre kann uns zum Nachdenken anregen und Toleranz, Offenheit, Menschenliebe fördern und im Idealfall helfen, die eigene Position zu überdenken und das eigene Verhalten zu reflektieren.